4 - Der Geruch von Freiheit
Die Sonne brannte auf sie herab, der Asphalt heiß wie glühende Kohlen. Über ihnen der grenzenlose Himmel, der alles möglich zu machen schien. Der Mittag war noch jung.
Ihr Arm hing aus dem Fenster, während das Radio sowie die Motorengeräusche die Luft erfüllten. Ein glänzender Schweißfilm zierte ihre Gesichter, der Dunst der Sommerhitze war überall. Verbranntes Benzin in der Nase.
Merle inhalierte den Duft und schloss die Augen, lauschte dem Frieden. Bis ein schrecklicher Song im Radio lief und sie sich sofort nach vorn beugte, um es auszuschalten.
„Hey, den wollte ich hören", maulte Amelie, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
„Bitte sag mir nicht, dass du auf Gejaule stehst."
„Manchmal."
„Aber..."
„Mein Auto, meine Musik."
„Ja, Mama."
Ihr Lachen gesellte sich zur Euphonie des Augenblicks. Dann verfielen sie in Schweigen, hingen ihren eigenen Gedanken nach. Eine angenehme Ruhe entstand zwischen ihnen, wie Merle sie bei noch keinem Menschen gespürt hatte – keinerlei Druck, die Stille unterbrechen zu müssen.
In den letzten zwei Stunden hatten sie kaum miteinander gesprochen, sondern auf die Straße geachtet, die Felder und Orte, an denen sie vorbeikamen. Kleine Ortschaften, die Merle noch nie besucht hatte.
„Kommst du viel rum in deinem Job?", fragte sie Amelie.
„Meistens schreibe ich über regionale Ereignisse oder Persönlichkeiten, manchmal gibt es Ausflüge in Nachbarorte. Das war's auch schon. Was ist mit dir?"
„Naja, im Verkauf erlebt man nicht viel, außer allerart Menschen."
Und die Launen, die sie an dir ausließen.
Merle verdrängte die Erinnerungen, indem sie sie mit einem Kopfschütteln aus ihren Gedanken verbannte. Sie war hier, um genau das zu vergessen. Nur dieses eine Mal.
Als hätte Amelie ihre Gedanken gelesen, sagte sie: „Deswegen sind wir hier, oder? Um was zu erleben."
In diesem Augenblick rasten sie an einem bergigen Waldgebiet vorbei, das sich am Horizont über ihnen zu erheben schien. Die Baumkronen leuchteten beinahe magisch im Sonnenlicht. Die nächste Ausfahrt führte zum nahegelegenen Dorf.
Merle deutete mit der Hand darauf sowie die Ausschilderung zu ihrer rechten.
„Was ist hiermit?"
„Solange ich was zu futtern kriege, bin ich dabei."
Sie drosselte die Geschwindigkeit und wechselte die Spur. Wenig später parkten die beiden umringt von altertümlichen Häusern und gepflasterten Straßen auf dem Parkplatz eines Supermarkts und entdeckten einen Imbiss. Amelie zerrte ihre Begleitung sofort dorthin und genehmigte sich eine Portion Pommes. Merle schielte unwillkürlich auf ihre Figur und fragte sich, wie sie die nur aufrechterhalten konnte.
„Willst du keine?"
„Nee, danke."
Amelie betrachtete sie von oben nach unten und erriet ihre Gedanken.
„Wo bist du denn bitte fett?"
„Bei mir lagert sich das nun mal nicht in der Brust ab."
„Also bitte!", rief Amelie empört, drehte sich um und bestellte eine weitere Portion.
„Hey!" Ehe sie weiter protestieren konnte, drückte Amelie ihr die Schale in die Hände.
„So, spendiere ich dir. Und jetzt sei dankbar und iss, du Quälgeist!"
Merle schmollte zwar, ließ sich die leckere Mahlzeit aber nicht entgehen. Die Genugtuung würde sie ihr nicht geben. Also aßen sie schweigend und ihr fiel es immer schwerer, ein Seufzen über ihr Verhalten zu unterdrücken. Wann hatte sie derartiges zuletzt guten Gewissens gegessen?
Amelie schien das nicht zu kümmern – ihr war die Freude ins Gesicht geschrieben. Sie bedankte sich bei dem Verkäufer.
„Danke", murmelte Merle.
„Wofür denn?"
„Na für-"
„Ach, ich verarsche dich doch nur. Ich weiß, was du meinst. Entspann dich mal."
Aus ihrem Mund klang das so leicht. Bei dem Gedanken fiel ihr der Wald wieder ein. Vielleicht würde sie das auf andere Gedanken bringen.
„Hättest du Lust auf... eine kleine Wanderung?"
Unter den Bäumen konnten sie sich vor der Mittagssonne verstecken, die Blätter spendeten löchrigen Schatten auf dem breitgetretenen Wanderweg. Merle hatte nicht vor, den ganzen Wald zu erkunden, das würde viel zu lange dauern. Nur einen Blick hineinwerfen, ihn hören und spüren, die Motoren auf der Autobahn nur noch ein fernes Rattern. Um die beiden herum sangen verschiedenste Tiere ihre Lieder. Merle hätte diesen Moment am liebsten aufgenommen, um es in der Zukunft erneut durchleben zu können. Doch das wäre nicht mit dem Erlebnis vergleichbar.
Amelie atmete hörbar ein und aus.
„Die Luft ist so frisch."
„Ganz anders als in der Stadt", bestätigte Merle.
Sie näherten sich einem kleinen Wasserfall, der über ihnen aus einem kleinen Felsvorsprung in die Tiefe plätscherte – ein beinahe wohltuendes, rhythmisches Plätschern, fand Merle.
„Lass uns hier eine Pause machen."
Amelie nickte und suchte sich einen gemütlichen Stein aus. Merle machte drei Schritte rückwärts, hob ihr Handy vors Gesicht und rief: „Cheese!"
Sie fing das perplexe Gesicht ihres Gegenübers ein, das sogleich eine empörte Grimasse zog.
„Hey! Wenn, dann machen wir das richtig." Sie kam auf Merle zu gestampft, nahm ihr das Smartphone aus der Hand und zog sie mit zu sich in Richtung Wasserfall. Amelies Arm legte sich fest um sie, sodass beide Gesichter im Rahmen der Kamera zu sehen waren. Merle wollte sich sofort aus ihrem Griff winden.
„Lass mal, ich bin nicht fotogen."
„Wer A sagt, muss auch B sagen. Und jetzt schau in die Kamera oder ich nehm' dich in den Schwitzkasten."
Das traute sie ihren unerwartet kräftigen Armen zu, also hielt Merle still und lächelte verkrampft, während Amelie besonders neben ihr wunderschön und natürlich aussah. Sie war wie dafür gemacht. Nicht nur Neid stahl sich aufgrund dieser Erkenntnis in Merles Herz, auch ein kleiner Funken Freude, ein Teil dieses Bildes sein zu dürfen. Schienen sie doch von zwei Welten zu sein, in welchen Amelie selbstverständlich Dinge tat, die noch nie zu ihrer Welt gehört hatten.
Umso unverständlicher war es, überhaupt hier zu sein. Warum? Warum ging Amelie so weit, sie bis ins Nirgendwo zu begleiten? Merle glaubte nicht an reine Nächstenliebe.
„Lösch das wieder", knurrte sie.
„Nö."
„Dann mach' ich das später." Damit nahm Merle ihr das Handy aus der Hand, steckte es in die Tasche und fragte sich, ob sie das wirklich tun würde.
Amelie verdrehte die Augen. „Ist doch egal, es ist nur ein Foto."
„Du hast gut reden", murrte Merle.
„Darum geht es doch nicht." Ihre Stimme nahm einen unerwartet ernsten Ton an. „Das ist eine Erinnerung. Bitte schick es mir später, bevor du es löschst."
Sollte sich überhaupt jemand an ihre gemeinsame Zeit erinnern? War das Amelies Wunsch?
Merle nickte und war gedanklich noch immer bei der Vorstellung, dass dies wirklich geschah und mehr als nur ein Gedankenspiel war. Und nun gab es sogar ein Foto, dass Amelie jedem später zeigen konnte, wenn...
Sie führte den Gedanke nicht zu Ende.
„Lass uns weitergehen."
Amelie stapfte an ihr vorbei, den Blick gesenkt. Merle musste sich beeilen, um aufzuholen.
Die nächste halbe Stunde sprachen sie nicht miteinander. Ein schier unbrechbares Schweigen, in welchem Merle sich fragte, was sie falsch gemacht hatte. Es war doch nur ein Foto.
So wollte sie die restliche Zeit nicht zubringen.
„Tut mir leid."
Amelie antwortete nicht, also sprach sie weiter.
„Es ist nur ein Foto, ich hätte keinen Aufstand machen sollen."
Abrupt blieb sie stehen, und drehte sich um, Merle wäre beinahe gegen ihren Rücken geknallt. Eine Wut loderte in ihren Augen auf. Hatte sie mit dieser Entschuldigung etwa alles schlimmer gemacht?
„Das ist es doch gerade."
Hä?
Merle viel es schwer, ihrem Blick standzuhalten.
„Das ist ein Foto von dir, verstehst du? Kurz bevor... das Unvermeidliche geschehen wird. Es gibt doch bestimmt Menschen, die dich so in Erinnerung behalten wollen, wie du letztlich bist. Lebendig und gesund. Und ich fände es schön, mich an diese Zeit erinnern zu können."
Merle wagte es nicht, auch nur ein Wort zu sprechen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Erkenntnis war ein schleichender Schatten, der mit jedem Tag näherkam. Die Angst war schon immer ihr ständiger Begleiter gewesen und trotzdem spürte sie erst in diesem Moment, was wahre Furcht bedeutete – und wie sehr sie ihre Seele bereits zerfressen hatte.
„Du hast recht, es tut mir leid."
Merle meinte es so. Und dass Amelie sie an ihren Zustand erinnern musste, war nicht fair. Also sprach sie ohne Umschweife weiter, gab ihr Bestes, in Worte zu fassen, was sie fühlte – versuchte es zumindest.
„Ich habe nicht mehr daran gedacht und... mir war das nicht wichtig. Ich habe deine Gefühle nicht berücksichtigt. Es ist leichter, die Zukunft zu ignorieren, als sie kommen zu sehen."
Amelie nickte und lächelte wieder. Das stand ihr besser. „Wir sollten die Zeit genießen."
Das wollte Merle auch, mehr als alles andere.
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