Wohin soll ich gehen?
Zahllos viele Lichter glühen in den Baumwipfeln, über denen sich die Nacht still und oh so dunkel ausbreitete. Nicht grausamer als anderswo ist sie, nicht einsamer, nicht weniger begleitet durch entsetzliche Bilder von Tod und Blut und schrecklichen Schreien, die im Schlaf in die Gedanken schleichen, dennoch vermögen es die flackernden Punkte in Grün und Gold und Silber zu trösten wie es nur eine warme Umarmung kann, wenn man ihnen aufschreckend entkam. Wie lange ich schon hier am offenen Fenster meines Gemachs stehe und sie immer wieder aufs Neue erfolglos versuche zu zählen nur um mich abzulenken von der Müdigkeit, kann ich nicht sagen. Angst habe ich zu träumen, fürchte diese Bilder, die ich heute in Galadriels Spiegel sah und die mich unweigerlich erneut heimsuchen werden, sollte ich die Augen schließen, bangend welche Überlegungen mich bedrängen könnten, wenn ich nur zur Ruhe komme.
Es sind diese Bildnisse meiner Mutter und die der Herrin Dís und nicht zuletzt von mir selber, die sich so ähneln und noch immer Rätsel aufgeben. Ereilt uns irgendwann einmal das gleichartige Schicksal: Den Liebsten grausam von unserer Seite gerissen, wenn wir am verletzlichsten sind, wir ein neues Leben unter dem leidenden Herzen tragen? Kann gerade ich selber die Ereignisse verhindern, die da noch kommen mögen und die Visionen schreckliche Wirklichkeit werden lassen, nur, indem ich den Herzensappellen Gehör schenke und mich nicht beirren lasse von Pflichttreue und Gehorsam? Werde ich diese folgenschweren Momente erkennen, mich der Mahnung der Herrin Galadriel erinnern und richtig entscheiden und handeln, trotzend Aufbegehren gegen Befehle, die man mir gibt und die ich einst schwor immer zu erfüllen?
So viele Frage, so viele Ungewissheiten, so viel an Verantwortung, dass mir ganz schwindelig wird, der Kopf beginnt zu schmerzen und das Funkeln der Lichter vor den Augen verschwimmt. Seufzend wende ich mich ab und bemerke dabei plötzlich, wie flackernder Schein unter dem Saum des Tuches, die einzig die Gemächer vom zentralen Kaminzimmer separieren, hindurchschimmert. Ein Feuer muss dort brennen, obwohl wir es doch vor dem Zubettgehen löschten.
Eine Decke lege ich mir um die Schultern, denn lediglich eine unzüchtig weit über die Knie reichende Tunika trage ich, und schiebe neugierig und auch ein wenig besorgt den samtig-schwer-fallenden Stoff zur Seite. Thorin kauert dort vor dem wiederentfachten Kaminfeuer. Sein Schein rot und golden auf dem nachdenklichen Gesicht. Lediglich das ständige Verglühen des gestopften Tabaks im Kopf der Pfeife, dass den Raum mit einem erdigen Geruch erfüllt, offenbart Leben in dem ansonsten regungslosen Bildnis.
Einen kurzen Moment nur gestatte ich mir ihn mit traurigem Blick zu beobachten und wende mich dann ab, will ihn wieder allein lassen in seinen Gedanken, da hält mich unerwartet seine leise dennoch tiefe Stimme auf. „Setz dich zu mir", sagt sie. Ein Befehl? Eine Bitte? Ich weiß es nicht, aber selbstverständlich willfährig folge ich der Aufforderung.
Weich und feuererhitzt ist das Sitzkissen, auf dem ich mich niederlasse, Kaminfeuer und sein naher Körper neben mir ebenso warm und wohltuend für den aufgewühlten Geist. Noch immer starrt er regungslos in die Flammen, die Lippen entkrampft geleckt um das Mundstück der Pfeife. „Was bedrückt dich, dass du nicht schlafen kannst, an einem Ort wie diesen, in dem es kein Übel zu geben scheint?" Ich hadere mit mir ihm zu erzählen, was ich heute erlebte, was ich sah und welche Gefühle es in mir weckte. Das wohl kein Fleck auf der bekannten Landkarte Mittelerdes wirklich und vollkommen frei ist von Sorg und Leid. Es ist nicht das Herz, dass mich davon abhalten möchte, sondern der Verstand, und noch getraue ich mich nicht ihm zu widersprechen. Nicht meinem Herrn gegenüber - vor allem nicht ihm gegenüber. Zu gefährlich erscheinen mir Schwäche und Unvernunft. Zu tief sitzt die Furcht Seiner abtrünnig zu werden, wenn ich ihnen Gelegenheit gebe, unbedacht hervorzubrechen. Also schweige ich darüber was mich beschäftigt und welche Angst es mir bereitet und gebe ihm als Erklärung, dass es die ungewohnte und tiefe Erholung sein muss, die verhindert, dass ich noch mehr an Schlaf finde.
Brennend interessiert es mich aber, warum er ebenfalls noch wach und so vertieft in das Ruhe und Konzentration schenkende Flammenspiel ist, denn unzweifelhaft treiben ihn ebenso aufwühlende Gedanken aus der Wärme seines Bettes hierher. Freimütiger ist er mir gegenüber mit ihnen, als ich ihn vorsichtig danach frage. „Unsicher bin ich mir über unseren weiteren Weg. Ich weiß nicht, ob es klug wäre vorwärtszugehen wie geplant, hat mich die Mahnung doch erschreckt, dass ich euch alle wahrscheinlich in den sicheren Tod geführt hätte, wenn ich weiterhin blind und stur dem Pfad nachgeeilt wäre, den ich eingeschlagen habe. Ich will meinen Vater finden ... muss es gewissermaßen ... aber anders denke ich nun über die Folgen, die diese Pflicht in sich tragen könnte, als noch vor wenigen Monaten ... ausnahmslos nicht jedes Opfer zu erbringen ist dies wert."
Unbewusste Fluten der Rührung beschwören seine Worte herauf und kaum so schnell verstecken kann ich sie, wie er sich zu mir umwendet. Seine Augen werden unvermittelt sanft, als er sich ihrer gewahr wird, kommentiert sie aber nicht weiter. Die Pfeife hält er mir stattdessen entgegen und trotzdem ich mich sonst von solcherlei fernhalte; hasse ich doch das kratzige Gefühl, wenn der Rauch die Kehle hinab strömt; nehme ich das Angebot dankend an und muss bereits wie erwartet nach dem ersten tiefen Zug heftig husten.
„Aye, das Kraut aus Bree, dass Euch Bruni mitgab, schmeckt ja abscheulich", röchle ich um frische Luft ringend und eine andere Art von Tränen treten unvermittelt hervor und fließen über die Wangen. Thorin lächelt amüsiert und wendet verlegen darüber den Blick ab. Mein liebster Ausdruck, den sein sonst oft so grambetrübtes und stolzes Antlitz annehmen kann, ist er doch so selten wie Silberstahl. „Ja, es ist sehr viel herber als das aus dem Auenland." Noch immer versuche ich leise hustend, damit ich die anderen nicht wecke, ekelhaften Geschmack und Kratzen aus dem Hals zu verbannen. Endlich gelingt es nach einem Schluck Wein, den mir Thorin schließlich im Tausch gegen die Pfeife anbietet und ich gierig trinke.
Danach kehrt Stille ein. Nur das Knacken der im Feuer auseinanderbrechenden Holzscheide und das Knistern des verglühenden Pfeifenkrauts, wenn er es genießt, durchbricht sie. Dennoch nicht unangenehm lastet die Ruhe, ein seltenes Phänomen in seiner Gegenwart das bei Dwalin und mir beinahe schon als alltäglich gilt. Wenig kommunizieren er und ich auf sprachlicher Ebene miteinander. Meist genießen wir einfach nur die Nähe des anderen, laben uns an dem einträchtigen Schweigen, denn nicht viele Worte bedarf dies das uns verbindet, um stetig stärker und bedeutender zu werden.
Aber seit den Ereignissen im Schattenbachtal fühlt sich auch die Nähe zu Thorin anders an. Noch immer empfinde ich tiefen Respekt und Ehrfurcht vor der erhabenen Größe seines Seins. Bewundere wie eine schmachtende Jungfer den zukünftigen König, den Anführer, den Krieger, aber mehr und mehr sehe ich auch den Zwerg in ihm. Sein wirkliches Gemüt fernab von mit Stolz und Würde getragenen Verpflichtungen. Es sind solch einfache Momente wie dieser, die die Natürlichkeit seiner Seele offenbaren. Mehr noch als die gemeinsamen Stunden in seinen heimatlichen Gemächern Nähe auf einer Ebene zulässt, die weit entfernt existiert, existieren sollte, von der zwischen Gebieter und Bediensteter. Mit herzstolpernder Freude und gleichzeitiger Angst erfüllt mich dieser Umstand, ist er doch gefährlich. Niemals zu nah sollte er Vertrautheit an sich heranlassen.
„Was denkst du darüber?", fragt Thorin plötzlich beinahe beiläufig, so, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt sich bei seiner Zofe nach Meinung zu wichtigen Entscheidungen zu erkundigen. Ich senke überlegend den Blick, denn keinen Sinn würde es machen, die auferlegte Verantwortung von sich zu weisen. „Ich weiß nicht", beginne ich schließlich stockend, unsicher was ich nicht weiß oder nicht wissen will. Gefährlich kann das Aussprechen von Gedanken sein, besonders wenn man sie gegenüber einem Herrscher verlautbart.
Ich möchte ihm sagen, wie riskant der geplante Weg ist, wie viele Meilen noch vor uns liegen und wie erschöpfend dies alles sein wird. Und am Ziel angekommen, an diesem Berg seiner Kindheit, der sich einsam und hoch und drachenflammenbrennend weit im Osten erhebt, was erwartet uns dort? Was erwartet er davon dorthin zurückzukehren, getrieben von nichts mehr als einem Verdacht?
„Das ist das, was dein Verstand dir sagt, was aber, fühlt dein Herz?" Ich zucke erschrocken, beinahe ertappt, zusammen. Nicht wissen kann er von Galadriels Mahnung, aber dennoch vielleicht unbewusst wählt er die richtigen Worte um mich zu bestärken in dem Vorhaben genauer darauf zu achten, was es mir sagt. Hinein horche ich also. Versuche zu ergründen, was das Richtige sein mag.
„Wenn Euer Vater den Erebor erreicht hätte, denkt Ihr nicht, Kunde davon wäre bereits bis zu uns gedrungen, auf welchen Wegen auch immer?" Vorsichtig, beinahe ängstlich, schiele ich hinüber zu ihm. Noch immer starrt er in die Flammen, aber nicht verärgert scheint er über die Anzweiflung seines Glaubens. „Und selbst wenn", führe ich die Bekanntgaben des Herzens fort, plötzlich mutiger, selbstbewusster geworden, „kaum besiegen könnte er den Drachen allein ... selbst wir zu fünft, könnten dies nie und nimmer, nicht einmal mit aller List und Tücke die Meister Balin in den scharfen Sinn kommen könnte."
Thorin schließt seine Augen, kurz nur, vielleicht um die Worte aufzunehmen, die Gedanken zu ordnen, die sich unzweifelhaft gerade übereinander werfen wie gefallene Blätter in einem brausenden Herbststurm. Dann sieht er mich plötzlich an. Trüb ist der Blick, traurig wirkt er, aber noch immer nicht erbost über das was ich mir anmaße in meiner unterwürfigen Einfachheit und kindlichen Unkenntnis zu behaupten. „Unzweifelhaft wird er irgendwo sein und wir müssen ihn finden, wichtig ist es für Euch und ebenso für unser Volk. Klarheit benötigt Ihr, egal ob sie nun die Farbe der Freude ... oder die der Trauer tragen wird."
Seine Aufmerksamkeit wandert eifrig über mein Gesicht, suchend nach etwas, was ich nicht deuten mag. „Aber wo kann ich sonst seinem Verbleib nachgehen? Deine Visionen brachten mich einst dazu den Pfad zwischen den drei Gipfeln zu nehmen, bitte sage mir also, gibt es erneut Träume die dich heimsuchen und mir den Weg zu ihm weisen könnten." Oh Verantwortung wie schwer wiegst du auf dem Herzen. Als Verkünderin sieht er mich also, aber bin ich nicht mehr als eine Scharlatanin, die nicht vermag ihre eigenen Schattenbilder zu deuten. Nur erzählen kann ich von ihnen und hoffen, dass der, der sie hört, nicht missinterpretiert und sich in sein eigenes Unglück stürzt.
„Vor Kurzen visionierte ich von einer Festung. Verlassen und erschreckend schattenhaft dunkel erhob sie sich mit zerfallenen Zinnen und Türmen in einen wolkenverhangenen Himmel", berichte ich schließlich, lasse aber wohlweislich aus, dass ich dies keinesfalls in Träumen sah. Was würde er wohl sagen, wie schimpfen und toben, wenn er wüsste, dass ich mich mit elbischem Hokuspokus abgab. Thorin runzelt die Stirn, scheint zu überlegen. „Viele solcher Festungen existieren in Mittelerde. Manche sind tatsächlich unbewohnt, manche erscheinen nur so, beheimaten aber Böses in ihren tiefen Kerkern." Traurig darüber ihm nicht mehr an Hinweisen geben zu können seufze ich schwer. Wie nur soll es nun weitergehen?
Aber nicht zu verargen scheint er das vage an Informationen. Stattdessen einen schweren Arm legt er um mich, zieht meinen vor Schreck über diese bislang noch nie vorgekommene Handlung steifen Körper dicht an sich heran. Hart ist seine Brust, von einem talentierten Bildner behauenem Stein gleichend. Die beständige Wärme eines Schmelzofens strahlt sein Körper aus und unvergleichlich herrlich ist der Geruch von Haut und weichem Haar. Perfekt fühlt sich der eingenommene Platz an, wie geschaffen für mich. Und mein Herz pocht bang darüber.
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