Wächter von Raben
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Der nächste Tag dämmert bereits warm, als wir aufbrechen. Wie Tausende Nadeln sticht die Gewissheit in der Brust, dass ich Bruni und Luisanne für lange, lange Zeit nicht wiedersehen werde. Dennoch auf ewig wird die Erinnerung an sie und ihre Gutmütigkeit als wohliges Gefühl in meinem Herzen verharren. Beinahe nach Zuhause fühlte sich ihre Höhle an und länger wäre nicht nur ich gerne geblieben, aber nun nach über einem Jahr ist es Zeit, in unser Wirkliches zurückzukehren.
Die Packpferde, die wir einst aus Bree hatten, begleiten uns weiterhin. Ausgeruht und wohl spürend, dass kein langer Weg mehr vor ihnen liegt, traben sie alle leichten Schrittes über die gut befestigen, von dauerhafter Trockenheit staubigen Straßen nach Westen. Klatschmohn und Kornblumen überfluten in kleinen Weihern die goldgelben, hochstehenden Gerstenfelder. An ihren Rändern wachsen wilde Erdbeeren und die übervollen Kronen der Bäume leuchten hell- und dunkelrot von reifen Kirschen. Die ersten Kartoffeln werden gerodet. Schwer ist diese Arbeit und der Schweiß glänzt auf den nackten Oberkörpern der Bauern, die neben den von Ochsen mit großen Hörnern gezogenen Pflügen einerlaufen. Belebt vom reichen Wachstum ist alles Ende Juli und duftet so herrlich, wie es nur der Sommer kann.
Am Ende des ersten Tages durchqueren wir das östliche Gebiet eines bezaubernden, grünen Landes. Das Auenland. Viel erzählte mir Luisanne von diesem idyllischen Teil der Welt, der, obwohl die Große Oststraße ihn durchläuft und vergleichsweise dicht besiedelt ist, weitestgehend unbeachtet existiert. Das Volk der Hobbits lebt hier seit über einem Jahrtausend bereits. Verborgen, anspruchslos, unscheinbar und allzeit in Frieden. Ihr Leben bestimmt von der Verbundenheit zur Natur, insbesondere zur Erde, in der sie ihre Höhlen bauen und die sie mit viel Geduld und Aufopferung bestellen. Nichts lieben sie mehr als Dinge, die wachsen und blühen, vornehmlich, weil sie eine besondere Beziehung zum Essen und Genussmitteln aller Art pflegen. Etwas, dass sich Luisanne bewahrte, obwohl sie bereits als Kind von hier fortzog.
Die Felder tragen reichliche Ernte allerlei Früchte. In den lichten Wäldchen erspähe ich Hasen und Rehe mit ihren Kitzen, die uns unerschrocken beobachten. Weit abseits der Straße liegen Gehöfte und kleine Dörfer. Wenn wir doch eines von ihnen durchqueren, sind es in die Hänge von seichten Hügeln gegrabene Höhlen mit runden Fenstern und Türen in Grasgrün, Himmelblau oder Sonnenblumengelb, die uns faszinieren. In den mit akribisch planerischen Vorgehen gestalteten und von geflochtenen Weidezäunen umgebenen Vorgärten blühen Hortensien und Päonien. Allerlei dekorativer Firlefanz findet sich in ihnen und immer mindestens eine Bank, auf denen des Öfteren die Bewohner pfeiferauchend und die großen, behaarten Füße von sich gestreckt ihren wohlverdienten Feierabend nach harter Arbeit genießen. Misstrauisch beäugen sie uns, wenn wir vorbeireiten. Wohl ein seltener Anblick sind Zwerge für sie und zudem, so warnte uns Luisanne, als Vorboten für allerlei Unheil werden Fremde generell angesehen. Allerdings, nichts scheint hier jemals von irgendwas Bösem berührt worden zu sein.
Die Sonne ging bereits in einem spektakulären Farbenspiel unter, als wir ein Gasthaus erreichen. Gelegen an der wichtigsten und größten Brücke, die mit drei steinernen Bögen den breiten Fluss Baranduin überspannt, ist es gut besucht. Gleichwohl von so wie es scheint vornehmlich in der Nähe wohnenden Hobbits, denn ausreichend Zimmer kann uns der Wirt anbieten. Gemütlich wie er und auch der Schankraum sind diese. Alles besteht aus hellem Buchenholz und bunten, für meinen Geschmack allerdings viel zu wild gemusterten oder überladen geblümten Stoffen. Frische wohlduftende Blumen in einem großen Strauß begrüßen mich und noch mehr als ihr Anblick, erfreuen die kleinen in Silberpapier verpackten Pralinen in einer Schüssel daneben.
Während wir das Abendessen einnehmen, werden wir auch hier von allen Seiten von misstrauischen Augen gemustert. Der Wirt allerdings, ein kugelrunden Hobbit mit biergoldenen Locken, wachen Blick und einem gutmütigen, feisten Gesicht, gibt uns nicht nur zum Schein das Gefühl, dass wir willkommen sind. Ständig ist er um unser Wohl besorgt, füllt leere Becher sofort nach und die Portionen, die er uns serviert, sind sogar für Dwalin zu opulent.
„Verzeiht die neugierigen Blicke, Herr", sagt er an Thorin gewandt, als er ihm nachschenkt, „wir haben selten Gäste aus anderen Ländern hier." Er nickt verstehend und die Entschuldigung annehmend. „Bereitet Euch keine Sorgen, wir sind es gewohnt." Trotz der Abwertung des als Ungehörigkeit geltenden, tritt der Wirt von einem Bein auf das andere, so als ob Weiteres unbedingt aus ihm hinaus möchte. „Seid Ihr auf der Durchreise, oder möchtet Ihr jemanden besuchen?", fragt er schließlich es nicht mehr aushalten könnend. Eigentümlich sind die Hobbits hier. Wertkonservativer, kleingläubiger und um ein Vielfaches sensationssüchtiger als in Bree.
Man sieht Thorin deutlich ah, dass ihm die Frage ungelegen kommt. Auch wenn an dem Ziel unserer Reise nichts Abgründiges mehr liegt, so ist er immer noch ein Zwerg und wie sagte ich Euch einst, wir sind sehr eigensinnig, was die Wahrung von vermeintlichen Geheimnissen betrifft. Vor allem, wenn wir durch diese Heimlichkeit Familie, Freunde und uns Wichtiges beschützen können. Die Gefahr eines hinterlistigen Überfalls von Orks oder anderem Gesindel auf dem Weg durch das Auenland ist zwar unwahrscheinlich, aber dennoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Manchmal sah ich flinke Schatten in den Wäldern umherhuschen. Groß und schlank, gehüllt in lange, dunkelgrüne Mäntel. Die Gesichter verborgen unter Kapuzen. Allerdings fühlte ich, keine Gefahr von ihnen ausgehen. Zu beobachten scheinen sie. Zu wachen über dieses Land fern jedes Unheils. Die Hobbits dagegen scheinen sie weder wahrzunehmen noch zu fürchten. Oder sind sie ihren Anblick lediglich schon so gewöhnt, dass sie sie nicht mehr sehen (wollen)?
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Herrlich schlief ich in den weichen Federbetten. Vogelgezwitscher und Wasserplätschern wecken mich sanft am nächsten Morgen und die hellen Strahlen der Sonne scheinen bereits warm durch das weit geöffnete Fenster. Ich recke und strecke mich ausgiebig, versuche die seit vielen Monaten des Reitens schmerzende Schulter ein wenig zu lockern und stehe dann auf. Bezaubernd ist der Blick auf die Flusslandschaft. Seelenruhig fließt das Wasser und so können sogar zartrosablühende Seerosen und kleine Wasserlinsen seine Oberfläche bedecken. Am Ufer wachsen Ampfer, Baldrian, Mädesüß, Springkraut und dicke Rohrkolben schwingen im lauen Wind. Eine Entenfamilie schwimmt laut schnatternd von einer Seite zur anderen. Die Küken mit ihrem gelb-braunen Gefieder geradezu niedlich anzusehen.
Ich will mich gerade wieder abwenden, da wird mir eine Bewegung im Unterholz des bis an das östliche Ufer heranwachsende Wäldchen gewahr. Schnell verschwinde ich in die Verborgenheit der reinweißen Gardine, einer Vorahnung folgend, dass dies kein Reh oder Kaninchen war. Von dort kann ich weiterhin beobachten, was vor sich geht, ohne selber gesehen zu werden. Ein Schatten schleicht zwischen den schlanken Weiden hervor und tritt an das Ufer. Groß und in dunkles Grün gekleidet. Filigrane Stickereien am Saum verzieren den langen Mantel und als er sich hinunterbeugt, um einige Hände voll Wasser zu schöpfen, fallen Strähnen schwarzer Haare unter der Kapuze hervor. Die Schließe in der Form eines sechszackigen Sterns schimmert im sich spiegelnden Sonnenlicht. Bekannt dünken mir Aussehen und flinke Bewegungen. Aber bei allem Willen, erinnern kann ich mich nicht woher. Allerdings noch bevor ich weitere Überlegungen anstellen kann, verschwindet die Gestalt genauso lautlos und schnell wieder zwischen die Bäume.
Nur Balin erzähle ich, nachdem wir aufbrachen, von meiner Beobachtung und achte penibel darauf, dass sowohl sein Bruder wie auch Thorin, die Voranreiten, unsere Unterredung nicht hören können. „Waldläufer", murmelt er genauso leise. „Seit vielen Generationen wachen sie über die Grenzen und Gefilde dieses Landes. Dank ihnen setzte noch nie etwas Unheilvolles einen Fuß in das Auenland und seine Bewohner können in Frieden und Unbeschwertheit leben." Eine Vermutung, die ich bereits hatte, bestätigte er nur, aber dennoch, klar ist mir nicht, warum gerade diese Region von ihnen beschützt wird. Allerdings selbst Balin kann mir darauf keine Antwort geben.
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Nur wenige Tage können wir durch die beschauliche Landschaft reiten, denn schnell kommen wir auf den gut befestigten Straßen oder von Hürden freien Wegen in den Wäldern voran. So erreichen wir bereits in den Abendstunden des zweiten die nordwestliche Grenze. Das Abendrot lässt die nach ihm benannten Berge am vor uns liegenden Horizont erleuchten, als wir an dem Ufer eines kleinen Sees unser Lager für die Nacht aufschlagen. Oh wie nah ist bereits die Heimat. So nah, dass sich die Gipfel des Blauen Gebirges unlängst in verschwommener Ferne erahnen lassen.
Schneller klopft das Herz, wenn ich daran denke, bald schon die Herrin Dís und Fenna und Jassin und all die anderen wiederzusehen. Voller Freude, aber auch ein wenig ängstlich, greife ich in die Innentasche des Mantels und lasse die Finger über den Runenstein gleiten, den mir die Prinzessin gab. Ich schaffte es tatsächlich, so wie ich es versprach, ihn und noch so viele mehr das sie meiner Obhut überließ, ihr wiederzubringen. Dennoch nicht alles was sie sich erhoffte führen wir mit uns nach Hause. Gleichermaßen fürchte ich mich vor ihrer Trauer, denn wenn sie es auch nicht zeigte, ein klein wenig Hoffnung, die nun gänzlich unter Tränen verlöschen wird, glomm genauso in ihr.
Quakende Frösche und zirpende Grillen durchbrechen mitunter nervtötend, wenn man eigentlich schlafen möchte, die Stille der Nacht. Allerdings wenig stören sie Dwalin und mich, denn die erste Wache halten wir in dieser lauen Sommernacht. Sterne funkeln über uns am klaren Himmel und der Mond, obwohl abnehmend, taucht die Landschaft in silberhelles Licht und spiegelt sich auf der glasstillen Wasseroberfläche. Derweil ich versuche, mein Schwert mit einem feinkörnigen Reisewetzstein von all den kleinen und größeren Kerben zu befreien, die es während der zurückliegenden Monate erhielt, beobachtet mich Dwalin pfeiferauchend genau dabei. Können setzt es voraus, die Klinge nicht eher stumpf zu schleifen, denn mit zuverlässig dem richtigen Maß an Druck bei korrektem Winkelansatz muss man verfahren.
Schließlich zufrieden mit meiner Arbeit, halte ich es vor mich und begutachte die glänzende Schneide. Eine tiefere Scharte konnte ich allerdings nicht entfernen und hoffe, dass es in der heimatlichen Schmiede gelingen wird. „Du solltest ihm einen Namen geben", höre ich plötzlich Dwalin sagen. Verwundert über diese Aufforderung sehe ich ihn an. Nur wenn eine Waffe in Schlachten getragen wurde, Leben rettete, Feinde bekämpfte, erwies es sich als würdig einen solchen zu tragen. Und obwohl es all dies erfüllte, noch nie dachte ich daran, ihm diese Ehre zu erweisen. „Ich weiß nicht", murmle ich daher und lasse es vereint mit dem Blick wieder sinken. Rötlich schimmert der Schein des Feuers auf dem runen- und ornamentverzierten Stahl. „Es ist ein gutes Schwert. Ebenso wie seine Trägerin bewies es mehrfach Befähigung und Stärke im Kampf. Gib ihm einen Namen, der dir würdig erscheint. Ausdrückt, für was ihr zusammen kämpft. Verdeutlicht, welche Leidenschaft sein Führen bewegt. Furcht muss seine Nennung in die Herzen der Feinde pflanzen, wenn du es gegen sie erhebst, aber ebenso deines und das deiner Mitstreiter Herz berühren." Wertvoll sind seine Ratschläge. Nur einen Namen lassen sie mir in den Sinn kommen.
Erneut hebe ich es. Folge mit dem Blick dem Schein des Mondlichts die Klinge entlang. Tief fällt es in die ziselierten Runenkombinationen aus Stärke sowie Mut und Kriegerin sowie Edelfrau. „Umrazu'kark", flüstere ich schließlich. Andächtig leise, aber dennoch, die Bedeutung tönt laut und energisch in mir, als hätte ich ihn voller Kraft hinausgerufen, ja geradezu geschmettert gegen all die Feinde der Raben, die ich schwöre mit ihm zu schützen.
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Umrazu'kark – Rabenwächter (wörtlich „Wächter von Raben")
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