Veränderungen sind auch immer eine Chance
Staubig aber nicht stickig ist die Luft, die mir entgegenweht, kaum, dass ich die schwere Tür zum königlichen Arbeitszimmer aufdrücke. Noch nie wurde mir all die Jahre auferlegt es zu betreten, denn sowohl König Thráin wie nun auch Thorin als sein Stellvertreter gestatteten eine Reinigung des Zimmers. Und als sich die Augen an das schummrige Licht von wenigen Kerzen gewöhnen, begreife ich auch warum, denn in ihm herrscht ein hoffentlich gut durchdachtes oder einer eigenartigen Ordnung folgendem Chaos, das durch fremde, unbedachte Hand nur allzu leicht und schnell ins Wanken gebracht werden könnte.
Zwergenmannhohe Bücherstapel vor dennoch vollen Regalen, deren Böden sich unter der Last bedrohlich biegen. Zudem darinstehend: flüssigkeitsgefüllte Gläser voller bizarrer Gebilde. Pflanzen, kleine Tiere, bleiche Präparate von Schlangen und Undefinierbaren und noch immer schillernde Insekten und etwas, das mir erscheint wie eine kleine Bergfaie mit schwarz-roten Flügeln und diamantdurchwirkten Haaren. Türme beschriebener Papierstöße auf und um einen riesigen, inmitten des Raumes stehenden Schreibtisch herum. Die obersten Blätter rascheln im aufkommenden Luftzug und werden vereinzelt von ihm davongetragen. Karten und Dokumente, Briefe und Pergamentrollen. Überall. Massenhaft. Wenige leere, mitunter bereits staubverkrustete Weinflaschen und ein Porträt über den riesigen Kamin, in dem ein Feuer flackert, dessen Abbild mir bekannt und erneut rätselhaft vertraut vorkommt.
Und inmitten des staubigen Durcheinanders Thorin in seiner glänzenden und reinen Herrlichkeit. Am Feuer verweilend, ein sicher Aufmerksamkeit benötigendes, vergilbtes Schriftstück in den Händen haltend und dennoch den Blick versunken in Gedanken auf das Gemälde gerichtet. Seelenwund wirkt er, als würde Erinnerung an Vergangenes und niemals Wiederkommendes unerträglich quälen.
Aber nachdem ihm mein Eintreten gewahr wird, er sich zu mir, die noch immer erstarrt von dem unerwarteten Chaos in der Türöffnung steht, umdreht, hellen sich die Gesichtszüge freudig auf und die Trauer verschwindet aus ihnen. Ergeben verbeuge ich mich zur Begrüßung. „Ihr batet um mein Erscheinen, Hoheit", erkläre ich untertänig meine Anwesenheit, denn trotzdem wir allein sind, es sind noch immer öffentliche Räumlichkeiten, in denen wir aufeinandertreffen. Leise knarzen die Holzdielen unter schweren Schritten, die herrschaftlich auf mich zuschreiten. „Vorbildlich, dass du diesem so schnell nachkamst", lobt er und ich höre das Ratschen von zurückgezogenen Stuhlfüßen und wie wenig später Samt weicher Sitzkissen knistert. „Bitte, schließ die Tür und setz dich, ich habe etwas mit dir zu bereden."
Verwundert sehe ich auf. Er verweilt nun wie gedacht hinter dem übervollen Schreibtisch, umgeben von Papier und Büchern, gehüllt in aufgewirbelten Staub und goldenes Kerzenlicht und deutet auf den Stuhl gegenüber. Noch nie erlaubte er außerhalb seiner Privatgemächer ihm gleichwertig Platz zu nehmen und befangen und unsicher zögere ich, bis er den Wunsch erneuernd mir stumm zunickt.
Wie erwartet bequem ist der Stuhl, der mehr einem Sessel ähnelt und nur mit allergrößter Beherrschung widerstehe ich dem verinnerlichten Drang den Staub von der spärlich sichtbaren Tischplatte vor mir zu verbannen. Ablenkung suchend und natürlich auch interessiert sehe ich kurz zu dem Bildnis über dem Kamin, werde allerdings einen ungebührlichen Moment zu lange gefangen von wasserblauen Augen umgeben von langen Wimpern. Anders erscheint der junge Zwerg auf diesem als auf dem im Salon. Freudiger, unbeschwerter, auch wenn bei ihm ebenfalls das mit Entsetzen gesehene Feuer des Drachen in all seiner Schrecklichkeit in den Augen nachglimmt. Unverkennbar an Ausstrahlung und Herrschaftlichkeit ist er ein Teil der königlichen Familie, vielleicht erscheint er mir deshalb als so bekannt. „Das ist mein jüngerer Bruder Frerin", erklärt Thorin und ich wende erschrocken-schuldbewusst den Blick ab, den ich wohl etwas zu auffällig intensiv und lange verweilen ließ.
Erneut traurig wirken seine Augen und ich weiß nur zu gut warum. Brutal und demütigend war sein Tod in der Schlacht von Azanulbizar und die Gewissheit, dass er noch nicht einmal in diesem ehrenvolle Ruhe findet, schmerzt selbst mich, die ihn nicht kannte und liebte so wie er und seine Schwester. Kaum älter als ich jetzt war er zu dieser Zeit. „Er sah Euch ähnlich", sage ich in dem Versuch zu trösten und tatsächlich prunkt kurz ein freudiges Lächeln auf den perfekt geschwungenen Lippen, voller glücklicher Andenken. „Das verwandte Aussehen ist allerdings einzig was uns gleichkam", merkt er an und legt das noch immer in der Hand gehaltene Papier zu Seite und zieht stattdessen seine Pfeife unter einem der Stöße hervor. „Er war vom Charakter her anders als ich und sogar Dís. Wohlwollender, selbstloser, bedächtiger selbst als Vater. Wie viele verletzte Vögel und kleine Wildtiere schleppte er in unserer Kindheit an, um sie gesund zu pflegen. Wie leid tat ihm jeder ausgeführte Streich an Dís, die meist ich initiierte. Wie verabscheute er das strenge und unerbittliche Kampftraining, dass uns bestmöglich auf das Schicksal vorbereiten sollte für unser Volk, Reich und König in den Krieg zu ziehen, so wie es Prinzen nicht nur unserer Rasse schon immer und ohne Widersinn aufgebürdet wird. Trotzdem war er beliebt, besonders bei den jungen Damen des Hofes. Während der wenigen offiziellen Anlässen die er in seinem nie die Mündigkeit erreichten Alter beiwohnen konnte, wurde er nur so umringt von ihnen, wie ich damals, muss ich offen zugegeben, neidisch beobachtete."
Ich schmunzle leicht und hoffentlich unauffällig bei der Vorstellung eines schmollend in der Ecke stehenden Thorins während eines königlichen Balls. Gleichwohl fühlt es sich eigenartig an sogar außerhalb seiner Privatgemächer eine solche Vertrautheit von ihm geschenkt zu bekommen. Beschreibungen seines Bruders und Andenken an ihren viel zu kurzen gemeinsamen Lebensweg teilte er bislang nicht. Womöglich schmerzen sie auch noch nach all den Jahren außerordentlich quälend in Herz und Seele.
„Aber lass und nicht über Vergangenes reden, sondern über die Zukunft ...", beendet Thorin schließlich die trauer-freudvolle Erinnerung nach einigen Momenten des Schweigens, und die nächsten Worte senden einen umso bangenden Schauder über meinen Körper, „... deiner Zukunft in diesem Haus." In Sekundenbruchteilen rufe ich mir jedwede Situation der letzten Tage ins Gedächtnis, erinnere mich aber an kein schwerwiegendes Vergehen, das eine Entlassung aus seinen Diensten rechtfertigen würde. Demnach sehr schockiert scheine ich ihn anzusehen, denn er schmunzelt und widmet sich mit quälerischer Genügsamkeit dem Stopfen seiner Pfeife, bevor er fortfährt.
„Ängstige dich nicht, du hast nichts Falsches getan", beschwichtigt er mich endlich, aber noch immer will dieses Gefühl der Beunruhigung nicht aus dem schnell, geradezu schmerzhaft, schlagenden Herzen verschwinden. „Aber vor einigen Wochen bereits hatte ich eine Eingebung. Du und deine Intelligenz seid eigentlich viel zu schade für die Anstellung als einfache Dienstmagd. Die anspruchslosen Aufgaben unterfordern dich, bringen dich nicht weiter. Deshalb ..." Erneut versucht er die Spannung zu intensivieren, und ich rutsche vor Aufregung recht unschicklich auf den Polstern herum, während er genüsslich einen Zug aus der nun glimmenden Pfeife nimmt und den blauen nach Tabak und dunkler Schokolade riechenden Rauch in die staubflimmernde Luft entlässt. „Deshalb möchte ich, dass du mir ab Beginn des nächsten Monats vorwiegend persönlich dienst."
Mit allem hätte ich gerechnet ... aber bei Mahal und allen Valar, nicht damit. „Herr, ich ... mit welcher Begründung habe ich eine solche Ehre verdient", stottere ich mit allergrößter Mühe, denn mein Denken zerfiel unlängst ob der Erschütterung meiner Welt. Thorin lächelt. Ehrlich und weder belustigt noch empfundene Kränkung überspielend, dass ich das Angebot nicht sofort und ohne Argwohn annehme, wie es wohl manch anderer in Machthunger getan hätte. „Wie ich bereits sagte, dein Intellekt ist viel zu kostbar für mich, um ihn weiterhin ungenutzt zu lassen. Als meine Zofe würdest du nicht nur Aufgaben übernehmen, die du bisweilen sowieso schon innehast, sich nun aber voll und ganz auf mein Wohl beziehen, sondern vor allem anspruchsvollere, solche, die dich fordern und fördern. Recherchen, Schreibarbeiten, Vorbereitung und assistierende Teilnahme an den Ratssitzungen, du würdest Balin zur Hand gehen, mich zu offiziellen Anlässen begleiten ... natürlich mit einer höheren Entlohnung und vor allem der Stellung als Hofdame verbunden, die nicht nur in diesem Haus gewichtig ist und viele Vorzüge in sich birgt."
Ich senke den Blick und schließe die Augen, vergrabe die schweißnassen Finger haltsuchend in die samtgepolsterten Stuhllehnen, denn ob seiner Worte wird mir unangenehm schwindelig. Aber selbst in der Dunkelheit flackert die ins Wanken geratene Welt weiter. Welch Ziel verfolgt er nur damit, solch ein Angebot zu unterbreiten, ist es doch äußerst ungewöhnlich und sogar unschicklich, dass eine Frau einen hohen Herrn als Dienerin zur direkten Seite steht.
„Ich erwarte nicht, dass du dich hier sofort entscheidest. Aber dennoch ... zögere nicht zu lange, denn eine solche Chance wird sich dir vielleicht nie wieder bieten." Wie durch dicke, graue Frühlingsmorgennebelschleier höre ich die Aufschiebung der Wandlung meines Lebenswandels.
Schüchtern sehe ich auf. Aber eine Entscheidung trifft weder Verstand noch Vernunft, den nur einen flüchtigen Moment lang sieht mein Herz in seinem Blick, der freundlich und sanft auf mir ruht, den Anstoß aufblitzen. Und sie ist folgenschwer. Aber noch fühle ich mich nicht in der Lage, sie ihm zu überbringen. Erst bedarf es noch einiger dringender Vorbereitungen.
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