Schelte und Stolz
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Der erste kratzige Atemzug brennt tief in der Lunge und bringt mich zum Husten, während ich langsam die schützend über den Kopf geschlagenen Arme entferne. Holzspäne rieseln zuhauf hinab. Dichter grauer Rauch und Staub wabert umher. Schreie. Schluchzen. Rennende Schritte irgendwohin. Dumpf nur höre ich alles, denn ohrenbetäubend laut war die Explosion. Sie stieß mich zu Boden und ihre Schockwelle lastet weiterhin atemnehmend auf der Brust. Aber ungeachtet dessen und der Schmerzen, die von unbestimmten Verletzungen stammen, springe ich auf und stolpere dorthin, wo ich Oin und das Mädchen vermute. Überall behindert Schutt und aufgesprungenes Gestein den Weg. Der Rauch nimmt jegliche Sicht und schwer habe ich mit dem Gleichgewicht zu kämpfen, denn ein einsetzendes Piepen in den Ohren, sowie tobende Kopfschmerzen, erschweren die Konzentration.
Endlich werden ihre kauernden Schemen im Dunst erahnbar. Oin warf sich schützend über die kleine Gestalt, aber als ich seine Schulter berühre, reagiert er nicht. Panisch schüttle ich ihn, taste fahrig nach einem Puls und atme erleichtert aus. Vorsichtig drehe ich ihn um. Unter ihm kauert das Mädchen, hält sich mit geschlossenen Augen die Ohren und wimmert. „Ist schon gut", sage ich sanft, aber erst als ich ihr eine braungelockte, vom Staub bedeckte Haarsträhne aus dem Gesicht streife, zuckt sie zusammen. Panisch zitternd ob des Schocks sieht sie mich an. Das Gesichtchen schmutzig und die Augen riesengroß. „Es ist vorbei, du bist in Sicherheit", will ich sie erneut beruhigen, jedoch kopfschüttelnd bricht sie in bitterliche Tränen aus.
Mein Name wird plötzlich gerufen. Schwer fällt es mir Dwalins Stimme zu orten. Noch immer dicht, obwohl sie sich langsam setzt, ist die Staubwolke und dieses unerträgliche Geräusch in den Ohren beängstigend laut. „Wir sind hier!", schreie ich und widme mich erneut Oin. Flach atmet er, aber er atmet. Keine größeren äußeren Verletzungen scheint er davongetragen zu haben, nur einige Abschürfungen an Wange und Hals. Jedoch innere Blutungen könnte er haben. Gewaltig war der Explosionsdruck. Organe oder Blutgefäße halten ihm unter Umständen nur bedingt stand. Erneut taste ich nach seinem Puls, denn schwach erfühlt man ihn nur, wenn dies so wäre. Aber zum Glück kräftig pocht er gegen die staubigen Fingerspitzen.
Endlich schiebt sich Dwalin in mein Blickfeld. Begleitet von seinem Bruder und einigen Soldaten wird er, aber keinen von ihnen sehe ich die Furcht ob der Situation so sehr an wie dem doch so verwegenen Krieger. Er sagt etwas zu mir, jedoch wie fließendes Wasser rauschen seine Worte in den Ohren. Ich schlucke, um den Druck von ihnen zu nehmen, schüttle den Kopf, konzentriere mich und zum Glück ein klein wenig besser scheint es dadurch zu werden.
„Meister Oin ist höchstwahrscheinlich verletzt und das Mädchen auch", erkläre ich und streiche diesem über den gelockten Kopf, den mittlerweile an meine Seite kuschelte sie sich. Die Krieger bereiten ihr verständlichweise erneut Angst. Dwalin nickt und weist seine Männer an den noch immer bewusstlosen Oin zum Spital zu bringen, während ich mich mit Schmerzen nicht zeigen wollenden, verbissenem Gesicht aufrappele und das Mädchen ebenfalls dorthin trage.
Als sich die Fassade des Spitals aus dem sich weiter verziehenden Staubdunst löst, sucht sich Erleichterung in meinem Herzen einen Platz. Nicht viel mehr als Splitter und Spahnholz blieb von der Tribüne übrig, aber das Gebäude direkt dahinter scheint überwiegend unversehrt. Nur eine der Pfeiler, die den Eingang säumen, weist Risse auf und vereinzelt bröseln lose Steinchen herab. Schäden, die man leicht innerhalb weniger Tagen wieder flicken kann. Anscheinend nicht ihm galt der zweite Anschlag.
Drinnen herrscht erwartungsgemäß aufgeregtes Gewusel. Heiler und annu'ruks hetzen umher. Kümmern sich um Verletzte, die augenscheinlich meist zum Glück nur leicht blutende Wunden haben oder aufgrund des Schocks beruhigt werden müssen. Ein Kind weint irgendwo. Ein der Heilerinnen, die ich während der Bauphase kennenlernte, kommt auf uns zu und nimmt mir begleitet von gut zuredenden Worten das Mädchen ab. Hoffentlich finden ihre Eltern sie schnell und hoffentlich ist sie nicht schwer verletzt. Andere kommen, betrachten dagegen mit sorgenvollen Gesichtern Oin und weisen auf einen der Behandlungsräume.
Nun, da ich beide in guten Händen weiß, ebbt langsam das wilde Wellen schlagende Adrenalin in meinem Blut ab und plötzlich überkommt mich ein drehender Schwindel. Gerade noch rechtzeitig gelingt es mir, einen Zipfel von Dwalins Mantel zu erhaschen, sodass ich einen Zusammenbruch verhindern kann. Er greift sofort nach mir und hebt den entkräfteten Körper auf seine Arme. Laut und energisch ruft er einen Arzt, aber ich schüttle den Kopf. „Nein", wispert die müde Stimme. „Ich brauche keine der dringend bei anderem benötigten Versorgung ... setz ... setz mich nur irgendwo hin."
Dwalins Missfallen der selbstquälerischen Abwehr grollt tief in der Brust. „Kommt gar nicht in Frage, du blutest, hörst nicht richtig; wenngleich das schon immer dein Problem war; und hättest längst behandelt werden müssen." Ich blute? Tatsächlich, als ich an den bestialisch schmerzenden Kopf fasse, fühle ich die klebrige Nässe, die wohl aus einer Wunde an der Stirn austretend, Schläfe, Wange und bereits den Hals hinab läuft.
Zur Eile drängende Stimmen höre ich gedämpft, als sich Dwalin mit mir in Bewegung setzt. Wohl die Aufforderung erhielt er, mich ebenfalls in eines der Behandlungszimmer zu bringen, denn kurze Zeit später bereits, legt er mich ab. Hell ist es hier und still. Langsam öffne ich die Augen und zucke zusammen. Das Licht sticht im Kopf, aber tapfer, um Dwalin nicht noch mehr zu besorgen, halte ich dem stand.
Ein unbekannter Heiler beugt sich in das flimmernde Sichtfeld und betastet mit erfahrenen Fingern die brennende Wunde. „Sie ist nicht tief, aber muss gereinigt werden", beruhigt er sofort und begibt sich auf die Suche nach Weiteren. „Habt Ihr noch irgendwo anders Schmerzen?" Langsam schüttle ich den Kopf. „Ich höre nur alles gedämpft ... wie durch Watte ... und es pfeift in den Ohren, allerdings nicht mehr so laut wie direkt nach der Explosion." Er lächelt daraufhin. „Das ist ein gutes Zeichen. Kaum etwas Eurer Hörfähigkeit werdet Ihr einbüßen." Dwalin schnauft erleichtert ob dieser Prognose. Mir selbst war diese Möglichkeit hingegen nicht bewusst. Hoffentlich bleiben Oin und dem Mädchen dieses Schicksal ebenfalls erspart.
„Ruht Euch noch etwas aus, Ihr habt viel getan", sagt der Heiler, nachdem er die Wunde versorgte und mir eine kleine Menge Mohnblumensaft gegen die Schmerzen gab. Bedeutend besser kann ich bereits hören und auch die Kopfschmerzen ließen nach, so dass es mir sogar möglich ist, wieder aufrecht zu sitzen. Ich bedanke mich bei ihm und er verlässt schnellen Schrittes das Zimmer, um seine Sachkunde den anderen Verletzten zugutekommen zu lassen.
Kaum schließt sich die Tür hinter ihm, zieht sich Dwalin einen Stuhl näher und setzt sich mir gegenüber. Kurz zögert er, fasst dann aber doch nach den in dem Schoß zusammengefalteten Händen. Schmutzig sind die seinen wie die meinen. Kallös und groß und immer warm. Sanft in Momenten wie diesem, in denen sich der kühne Krieger verbirgt hinter Sorgen. „Warum nur bist du zurückgelaufen?", fragt er schließlich, wie erwartet mehr Vorwurf als aus reinem Interesse.
Der Blick senkt sich auf unsere Hände, mustert bekümmert eine kleine Verletzung an der seinen. „Ich wollte nur Meister Oin helfen." Kurz zucken seine Finger, schließen sich fester um die meinen. „Oin wusste um die Gefahr des Zurückbleibens, und ich bin mir sicher, er hätte dich nicht gebraucht." Ich schlucke ob dieser deutlichen Bemängelung des Verhaltens und will die Hände seinem Griff entwinden, aber genauso vehement umfasst er sie wie die Schäfte seiner Äxte. „Immerzu bringst du dich selber in Fährnis, aus edelmütigen, aufopferungsvollen Motiven zwar, jedoch viel zu oft mit Leichtsinn. Du hast bereits etliche Male bewiesen, dass du kein Kind mehr bist, aber manchmal befürchte ich, die Narrheit steckt noch zu sehr in deinem schönen Kopf, als dass ich jemals eine sorgenfreie Minute genießen könnte."
Von unten herauf sehe ich ihn an. Seine Augen scheinen dunkel, wie Kakao mit zu wenig Milch vermischt. „Ich will dir keine Sorgen bereiten", sage ich empfindungsvoll, denn nie war eine Aussage ehrlicher. Dwalin beugt sich zu mir, nah, noch näher, und lehnt seine Stirn an die meine. „Das weiß ich, aber verhindern kannst du es dennoch nicht. Ich müsste dich in einen goldenen Käfig stecken, damit du keinen Unfug mehr anstellst, jedoch elendig daran zugrunde gehen würdest du und daraufhin auch ich. Du bist wie eine Lichtfaie, unbändig und immer dort, wo das Feuer am hellsten und verheerendsten brennt, aber auf genauso wundersame Weise, nimmst du nie ernsthaften Schaden."
Leicht schmunzle ich, denn vertraut ist dieser Vergleich mit den (toll)kühnsten aller Faienarten die Mittelerde bewohnen, nutzte ihn Thorin doch einst ebenfalls, als er die schwere Aufgabe der Aufsicht über mich Dwalin übertrug. Eigentlich nur während des Reststücks unserer Reise sollte sie lasten, allerdings auch danach verminderte sie sich nicht. Wenngleich wir uns nicht mehr so häufig sahen, immerzu konnte ich mir seiner Wachsamkeit, seinem Schutz und Augenmerk sicher sein. Soldaten seiner Einheit, die jeden Schritt beobachteten. Sein Bruder, der die Euphorie manch gewagter Dinge auf ein versiertes Maß eindämmte. Gemeinsame Vertraute, die mich während Bällen und gesellschaftlichen Anlässen, auf denen er nicht zugegen sein konnte, allzeit begleiteten.
„Ich werde mich bessern, versprochen", schwöre ich flüsternd, allerdings leicht verzweifelnd wirkend ist Dwalins Schnauben daraufhin. „Und ich weiß nicht, ob ich dies überhaupt will. Unbekümmert sind meine Gedanken an dich nie, aber sie verhindern andere, allzu Bedenkliche, die das Gegenteil bewirken würden." Beinahe schmerzhaft ist der Biss auf die Unterlippe ob der aufkommenden Anspannung. Welche Art von Gesinnungen mögen dies wohl sein?
Aber noch ehe ich ihn fragen kann, reißt uns ein Klopfen aus der behaglichen Vertrautheit. Sofort stieben wir auseinander, um die schickliche Distanz wiederherzustellen, die eigentlich einzig zwischen uns herrschen sollte. Herein bitte ich und hoffe auf Balin oder einen der Heiler, die uns Nachricht von Oin bringen können. Jedoch es ist Thorin, der eintritt. Weiterhin in sein festliches Ornat aus schwerem Mantel, Fell- und Goldbehang gekleidet, dass aber deutliche Spuren der Ereignisse trägt. Kaum werde weder die königlichen Schneider noch ich die kleinen Holzsplitterrisse flicken können, die unter der Staubschicht erkennbar sind.
Wir erheben uns schnell, um ihn gebührend zu begrüßen, aber der mohn- und schmerzvernebelte Körper verargt diese überstürzte Bewegung und erneut schwummerig wird mir. Dwalin greift instinktiv nach meinem Arm und wirft Thorin einen bittenden Blick zu. Er erhört ihn sofort und erlaubt mir wieder Platz zu nehmen. Peinlich ist dieser wiederholte Zusammenbruch, insbesondere vor ihm, daher kaum wage ich aufzublicken, auch nicht, als er Dwalin auffordert, uns allein zu lassen. Seinen Sitzplatz direkt vor mir nimmt mein Dienstherr ein, als die Tür hinter ihm ins Schloss klackt.
Ich weiß nicht, warum er hier ist. Gefährlich ist es weiterhin für ihn, auch, wenn der Attentäter gefasst wurde, so können doch noch andere lauern, von denen wir nichts wussten. „Wie geht es dir?", fragt er schließlich nach langem Schweigen. „Ich war bestürzt, als ein Soldat mir sagte, Dwalin hätte dich und Oin hier her bringen lassen." Zum Glück wohl keine Kunde erlangte er von dem befehlsmissachtenden Zurückbleiben. Ich schließe die Augen, versuche mit aller Kraft die Mahal mir gab das Flimmern vor ihnen zu bekämpfen und meine Gedanken von den Gespinsten des Schwindels zu befreien. „Meister Oin war verletzt", flüstere ich, ungewohnt befangen in seiner Gegenwart, aber eine Erklärung dafür, kann ich Euch nicht geben.
Ich zucke zurück und schaue nun doch erschrocken auf, als mich unvorhergesehen sanfte Fingerspitzen an der Stirn berühren. „Du ebenfalls", sagt er gleichermaßen mit gedämpfter Stimme. Nicht deswegen schelten will er mich oder seine auch ihn immerwährend quälenden Sorgen bekunden wie Dwalin, das spüre ich.
Langsam, so als wolle er lieber länger verweilen, zieht er die Finger zurück. „Es geht mir gut, nur leichte Verletzungen zog ich mir zu." Thorin mustert mich aufmerksam. Noch immer kann er mich lesen wie ein sich ihm im hellsten Kerzenlicht offen präsentierendes Buch. Mitunter kleine vertretbare Lügen aus der Not heraus schaffte ich zwar bereits, unbemerkt zwischen die Zeilen zu schummeln, aber mehr traute ich mich bislang nicht. Viel zu viel könnte verlorengehen, sollte mir seine Gunst abtrünnig werden durch unangebrachte Heimlichkeiten.
„Was du heute getan hast ... kein Wort, keine Belobung, keine Auszeichnung vermag auszudrücken, wie sehr ich dir dafür danke." Für einen kurzen Moment irritiert von dieser plötzlichen Aussage, blinzel ich, aber unbeirrt davon fährt er fort. „Nicht nur mein Leben hast du gerettet, indem du die gefährliche Aufgabe übernahmst herauszufinden, wer mir danach trachtet und dabei halfst ihn zu fassen, sondern durch schnelles, umsichtiges Handeln auch das meiner Schwester und so manch anderer, die mir wichtig sind."
Mir wird gewahr, wie die Verlegenheitsröte heiß-brennend bis in die Ohrenspitzen aufsteigt. Sie verbergen wollend senke ich den Blick erneut. „Meine Pflicht ...", beginne ich stockend die Leistung herunterzureden, obwohl es so viel mehr war als das. Nicht ertragen hätte ich es, wäre ihm oder der Herrin, Oin, Bifur oder Meister Hanarr etwas geschehen.
Aber er unterbricht mich zärtlich, genauso wie die Hand, die die Wange berührt und den Blick wieder hebt. „Deine Pflicht am heutigen Tage wäre es gewesen an meiner Seite zu glänzen. Wunderhübsch in einem edlen Kleid, Sommerblumen im Haar, stolz auf das, was du in den letzten Monaten geleistet hast. Stattdessen mit Lumpen verbargst du deine Anmut, wähltest die Aufgabe über mich zu wachen, mich zu schützen."
Tief geht sein Blick. Dankbarkeit dafür drückt er aus, Anerkennung, Stolz, Bewunderung ... all das, nachdem ich allzeit strebe, solcherlei von meinem Herren zu erhalten. Sooft wurde mir diese Freude bereits zuteil, gleichwohl keine Spur gewöhnte ich mich an das erregende Gefühl, dass das Herz währenddessen erfüllt. Kaum zu vergleichen ist es mit anderen. Ein Wirrwarr aus Euphorie, Liebe, Befriedigung und Aufregung, jedoch auch Furcht, denn näher noch als sonst ist er mir dadurch. Offenbart Schwächen, die er nicht aufzeigen darf als Regent und Krieger. Nur wenige die wir gleichsam Vertraute nennen, erkannten diese bislang, aber welch Gefahr droht uns, wenn sie entdeckt wird von überall lauernden Feinden.
Oh so sanft ist der Kuss auf meine Stirn, nahebei der versorgten Wunde. Zärtlich besorgt die Fingerspitzen, die indes über die Wange streichen, an einem kleinen Kratzer verweilen, ihn heilen allein mit der Berührung. Sie eigennützig genießend nach diesem anstrengenden, ereignisreichen Tag, schließe ich die Augen.
„Deine Haut ist so weich." Thorins Feststellung zerreißt allerdings jäh die allmählich aufkommende Entspannung. Erschrocken entferne ich mich von ihm. Erschrocken scheint auch er darüber, dass er seine Gedanken wohl unbeabsichtigt laut aussprach. Mit starren Blick sieht er mich an, wendet ihn schließlich ab. „Verzeih", murmelt er, „ich wollte nicht." Hastig steht er auf, streicht eine imaginäre Falte seiner Tunika glatt. „Bleib noch ein wenig hier und erhole dich ... ich sehe derweil nach Oin." Kaum so schnell hören kann ich, wie er redet. Und dann schließt sich bereits die Tür hinter ihm. Zurück bleibt einzig ein noch sehr viel befremdlicheres Gefühl.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro