Herzensblind
Eines der Häuser, die auf den Ästen des königlichen Mallornbaumes ruhen, wird uns als Unterkunft für die Zeit des Aufenthaltes gestellt. Geräumig sind seine erstaunlich vielen Räume, die halbkreisförmig um ein großes Kaminzimmer angeordnet liegen. Sonnengold flutet durch die bodengleichen Fenster und trotzdem sie keine Gläser beinhalten, ist es angenehm warm. Jedes Möbelteil wurde aus Holz gefertigt und wirkt so filigran und organisch mit der Umgebung verbunden wie alles in diesem Reich. Die Betten sind mit flaumig-weichen Laken bezogen und Baldachine aus sich im sanften Luftzug aufbauschenden Tüchern deren glitzernder Stoff als wären Stern in ihm verwoben mir vollkommen unbekannt ist, überspannen sie. Überall finden sich Kanapees, Chaiselongues, Sessel und Sitzkissen, auf denen man verweilen, lesen, ausruhen oder den weitschweifenden Blick über das goldene Blätterdach Lothloriens genießen kann. Angenehme Ruhe ist es, die sich in mein Herz stiehlt, kaum, dass ich diese Räumlichkeiten betrete.
Dieses Gefühl, so ungewohnt es auch ist, denn rastlos sind wir Zwerge, immer darauf bedacht uns nicht länger als nötig der Müßigkeit hinzugeben, ist dennoch willkommen nach den vielen Monaten immer in Hetze und Furcht verbracht. Und es findet sich in so vielen, was mir in diesem Reich begegnet, denn die hohe Herrin gestattete freimütig es uneingeschränkt zu erkunden. Die ersten Tage wandle ich meist allein oder zusammen mit Khajmel oder Balin an meiner Seite zwischen den silbernen Stämmen hoher Bäume und über blumenbunte Lichtungen, die inmitten ihnen ruhen wie grüne Inseln. Entspanne zu dem säuselnden Plätschern von Bächlein. Finde an ihren Läufen immer neue Freude an den von ihrem klaren Nass gespeisten Wasserspielen. Kann mich nicht sattsehen an den vielen Details filigraner Bauwerke. Besuche in ihnen liegende Räume, die so voller Wunder stecken, dass ich an ihrer Existenz zweifle und nicht wage Euch von ihnen zu berichten, denn Angst packt mich sie könnten vergehen zu flirrenden Faienstaub, preise ich sie nur etwas lauter als in schweigender Ehrfurcht.
Obwohl, eines von ihnen kann ich Euch doch beschreiben, fühlte ich doch sein Dasein mit eigenen Händen. Leise allerdings nur, heimlich bei Kerzenschein niedergeschrieben, während die Schreibfeder kratzte über das Pergament und Verschwiegenheit darüber müsst Ihr mir schwören bei allem, was Euch heilig ist.
Alleine bin ich unterwegs, obwohl weder Thorin noch Dwalin es gerne sehen, misstrauen sie den Elben doch noch immer, wenngleich nicht mehr ganz so grollend wie zu beginn. Ich dagegen spüre intensiv, dass mir wohl nirgendwo auf der Welt weniger an Gefahren drohen als hier. Einen Teil der Stadt in den Bäumen erkunde ich, der bislang zu weit entfernt lag, um ihn innerhalb der Zeit zu erreichen, die ich nicht verbringen muss mit Verpflichtungen, die es natürlich auch hier gilt zu erfüllen. Aber heute sprach mein Herr mich gänzlich frei von diesen und so erklimme ich über eine von Bögen überspannte, sich um den grauen Stamm windende Treppe einen der staatlichen Bäume, in dessen luftiger Krone sich ein Gebäude befindet, dass noch hochherrschaftlicher wirkt als anderen, abgesehen vom Königspalast.
Nachdem sich die mit Blättern und Ranken und zum Flug aufsteigenden Vogelscharen verzierten Flügeltüren mit einiger Mühe endlich öffnen, empfängt mich ein Anblick, der herrlicher ist als alle Naturwunder hier oder sonst irgendwo zusammen. Nahm ich einst an, die Sammlung an Schriften aller Art, die sich in der königlichen Bibliothek befindet, wäre unübertrefflich in Vielfältigkeit und Geschichtswerk, so lehrt mich diese die ich mit dem ersten erstaunt-weiten Blick kaum überblicken kann, doch beschämend eines Besseren. Auf den Anschein von ausladenden Verästelungen eines Baumes erweckenden, geschwungenen Borden, die sich an den Wänden entlangschlängeln, reihen sich Bücherrücken an Bücherrücken. In der Mitte stapeln sie sich auf Ebenen, die um den aufragenden und zudem mit allerhand Lampen, die den Raum in beruhigend-grün-bläuliches Licht tauchen, ausstaffierten Baumstamm. In den Ecken und vor einen Kamin, in dem ein Feuer lodert, stehen große Sessel und die allseits beliebten Sitzkissen laden zum sich niederlassen und besinnen ein.
Langsam gehe ich an den Kostbarkeiten entlang. Altes Leder und abgegriffene Seiten, ruhender Staub und eingetrocknete Tinte ... süße Vanille, Leim, der unverkennbare warme, pudrige Geruch von langsam zerfallendem Pergament ... ich kann das auf ihnen niedergeschriebene Wissen förmlich einatmen. Mit den filigranen Schriftzeichen der Elben in Silber und Gold und allerhand weiterfarbigen Symbolen und Zeichen die auf den Inhalt schließen lassen, sind sie verziert. Eines davon fesselt mich besonders, ist mir die Form des abgebildeten Blattes doch wohlbekannt. Lang sind sie, von hellen grün und wurden gepaart mit einigen saphirblauen Blüten. „Athelas" hauche ich und lasse die Finger ehrfürchtig die eingestanzten Linien befühlen. Welch weitreichenden und kostbaren Kenntnisse über die Heilkunst ruhen wohl hierin, denn unverkennbar ein medizinisches Werk ist es. Nur ergründen kann ich sie nicht, denn als ich es zur Hand nehme und die ersten knisternden Seiten aufschlage, sehe ich, dass es geschrieben wurde in einer verfallenen Sprache, den Quenya, dass selbst die ältesten Elben der heutigen Zeit nur noch mit schweren Zungen in Zeremonien verwenden. Dennoch, allein detaillierte Zeichnungen von Pflanzen, anatomischen Details und mitunter eher gefährlich als heilend aussehenden Instrumenten, faszinieren und bannen ungemein.
„Ihr interessiert Euch für die Heilkunde?" Eine sanfte, immer fern der Welt erscheinende Stimme erklingt plötzlich und vor Überraschung doch nicht alleine zu sein, lasse ich beinahe das kostbare Buch fallen. Die hohe Herrin steht unerwartet neben einem der mir abgewandten Ohrensessel, ein der zierlichen Hände mit den schlanken Fingern hält ein entrolltes Pergament, die andere umfasst die Lehne, so, als wäre sie gerade aus diesem auferstanden. Ich verbeuge mich schnell und tief um sie mit dem nötigen Respekt zu begrüßen und einen kurzen Moment zu gewinnen, in dem ich mich fassen kann. Seit unsere Ankunft sah ich sie nicht mehr, daher noch immer einschüchternd sind erhabene Gestalt und die Macht, die jede Faser ihres fehlerlosen Körpers innezuhaben scheint.
„Ja, Herrin", antworte ich schließlich, mich darauf besinnend, dass ich ihr diese noch schuldig bin. „Meine Mutter entfachte die Neugier einst und Meister Oin lehrte mich seitdem viele neue Dinge, besonders, was die Nutzung der verschiedenen Heilpflanzen betrifft." Erstaunlich freimütig und ohne jegliche Distanziertheit erzähle ich ihr dies, ganz so, als wäre sie Freundin anstatt fremder Herrscherin. Aber auch nachdem ich mir dessen bewusst werde, keine Scham über diese Ungeheuerlichkeit lässt mich zurückweichen. Richtig fühlt es sich stattdessen an. Tragbar. Zusagend. Unnötig wäre die Verschlossenheit sowieso, denn erneut ergreift mich das Empfinden, das sie tief blicken kann in das Wesen eines jeden, selbst durch sei es aus Schutz oder Hochmut erbaute Mauern die dicker sind als jede Gebirgswand.
Langsam schreitet sie näher, nachdem ich mich wiederaufrichtete. Elegant ist ihr erneut barer Schritt und es wundert mich, dass nicht augenblicklich dort wo ihre Füße den Boden berühren selbst aus eigentlich totem Holz Gras und Blumen sprießen. Beiläufig wird das Pergament von ihr auf einen kleinen Tisch, an dem sie vorbeikommt, gelegt. „Dann habt ihr Euch zielgerichtet ein besonders darüber wissensreiches Werk ausgesucht", bemerkt sie schließlich, nachdem sie mich erreichte, „wenn Ihr es denn lesen könnt." Ich senke nun doch etwas beschämt den Blick und schüttle den Kopf. „Nein, leider nicht, nur wenige Kenntnisse besitze ich über eure schöne Sprache und Quenya ist mir gänzlich unbekannt." Ich spüre geradezu, wie sie daraufhin lächelt. Ein beruhigend-flackerndes, wohlige Wärme nach einem anstrengenden Tag spendendes Kaminfeuer, vor dem man sitzt, heiße Schokolade genießt und einzig dem Knistern und Knacken der verbannenden Holzscheite lauscht. Ihr Lächeln besitzt die gleiche Macht wie ihr Reich, annimmt seine trostreiche Wirkung vielleicht sogar von ihm.
„Das ist schade, denn ein sehr berühmter Heiler meines Volkes hat das von ihm über viele Jahrhunderte gesammelte Wissen darin niedergeschrieben." Ehrfurcht beginnt in mir zu erzittern und plötzlich unwürdig fühle ich mich allein dieses Buch in den Händen zu halten. Daher froh bin ich, als sie es mir abnimmt. „Ich werde für Euch eine Übersetzung in Westron anfertigen", sagt sie plötzlich und erschrocken sehe ich auf. Widerspruch bildet sich in meiner Kehle, aber ein einziges Lächeln von ihren edel-blassen Lippen genügt, um ihn verstummen zu lassen.
„Warum?", frage ich stattdessen, ist es doch ein nicht unerheblicher Aufwand für ihren Schreiber, den er für einen Angehörigen eines eigentlich missliebigen Volkes nicht erheben müsste. „Nun, einen Zwerg treiben bekanntermaßen viele Gelüste mitunter zu großen Taten, aber die Wissbegierde ist eine von ihnen, die uns schon immer verband. Vorteilhaft lernten wir voneinander und auch euer Schöpfer weihte uns in viele der Fertigkeiten ein, die er euch mitgab, um starke und widerstandsfähige Geschöpfe im Kampf gegen das Böse dieser Welt zu werden. Daher seht es als ein Geschenk, um diesen Gemeinsinn erneut erstarken zu lassen."
Ich senke dankend nicht nur für die aufschlussreiche Erläuterung den Blick, aber dennoch: „Nur eine Dienerin bin ich leider, wenig Einfluss werde ich somit haben die Beziehungen unserer beiden Völker nachhaltig zu verbessern." Noch näher schreitet sie an mich heran und der Duft von Lavendel und Rosen der sie begleitet berauscht den Sinn. Sanft ist ihr Blick und dennoch unnachgiebig tief schürft er in Gedanken und dem Seelenleben.
„Ihr habt etwas an Euch, dass wenig mit dem gemein hat, was ich bislang an und in Zwergen sah. Die Achtung vor der Natur und die, verzeiht mir den Vergleich, beinahe kindliche Bezauberung über selbst die kleinsten Dinge, die in ihr zu finden sind. Die Unvoreingenommenheit mit dem Ihr Neuem begegnet und die Fähigkeit das Gute selbst im Schrecklichsten zu erkennen. All das enthüllt mir, dass ihr mehr seid als nur eine Dienerin." Verwirrt und zudem beschämt errötend über die Lobpreisung sehe ich sie an. Viel wollen immerzu alle in mir sehen: Bewahrerin vor Ungutem, Bedienstete, Kriegerin, Edelfrau. Unterstützung soll ich bieten in mancherlei Belangen, sei es nun mit Tatkraft oder Wissen. Immer stark sein, furchtlos und unverdrossen, zudem aber auch vornehm, höflich und unbedingt gehorsam, wie es sich ziemt, denn schwankt die eingenommene Stellung mit dem Wohlwollen meines Herren, das gedeiht vor allem auf dem Nährboden der Fügsamkeit. Oft bereits, verzweifelte ich an diesen Ansprüchen, weiß nicht, ob ich sie immer erfüllen kann, und nicht irgendwann einmal grausam-schmerzlich beraubt werde seines Lichts, in dem ich gedeihe wie eine Sommerblume. Nichts bin ich zudem, egal wie sehr er mich schätzt und vielleicht sogar liebt auf diese würdigende Art, mit der eine glänzende Lichtgestalt wie Thorin seiner schattenschwarzen Vertrauten huldigen kann. All diese Gedanken wird sie ergründen und nur wenig schert es mich, wie ich fassungslos erkenne.
„Verzeiht mir meine Zweifel", murmle ich daher, aber erneut lächelt sie beruhigend und streckt mir plötzlich eine Hand entgegen. „Ich möchte Euch etwas zeigen, wenn Ihr mir vertraut", fügt sie verschwörerisch zu der einladenden Geste hinzu und ja, kein mahnender Argwohn verspürt mein Herz, als ich sie ergreife.
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Die Dämmerung senkt sich bereits mit ihrem spektakulären Lichtspiel aus rot, orange und lila zwischen die goldenen Bäume, während ich der Herrin Galadriel schweigend-staunend folge. Groß und schön wandelt sie in ihrem Reich und jedes Ding, leblos oder lebendig, scheint sich in dankbarer Ehrfurcht vor ihr zu verbeugen. Eine hochgewachsene grüne Hecke auf dem südlichen Hang des im Zentrum aufragenden Hügels umschließt einen kleinen Garten, den wir schließlich betreten. Trotzdem er unverkennbar gestaltet wurde, denn geordnet wachsen Blumen in kieselweißumrandeten Beeten, lebende Zäune aus Kirschlorbeeren und hellgrünen Buchsbäumen umfrieden Separees mit hölzernen Bänken und ein Pavillon aus geflochtenen, rosenrotumrankten Ästen lädt zum Verweilen ein, wirkt alles natürlich schön in seiner Einfachheit.
Offen ist der Blick in den langsam zu dunkelblau wechselndem Himmel über uns und weit im Westen leuchtet bereits der Abendstern in all seiner bezaubernden Herrlichkeit. Kalt aber dennoch feurig ist sein Licht, das silbrig das Gras in einer Mulde bescheint, in die wir über eine geschwungene steinerne Treppe hinabsteigen. Das Bächlein, das wohl von dem Quell der hoch oben neben dem Herrscherbaum entspringt und bis hierher hinabfließt, sprudelt in leichten Windungen durch seinen Grund. Neben ihm steht ein niedriger Sockel, dessen wie die Verästelungen einer Baumkrone anmutender Kranz, eine flache, schneeweiße Schale hält.
Mit einem silbern-glänzenden Krug schöpft die Herrin Wasser aus dem Bach und lässt es plätschernd in die Schale rinnen, derweil ich sie fasziniert und verwundert dabei beobachte. Ein warmer Hauch ist es, mit dem sie die glitzernde Oberfläche danach benetzt. „Das ist Galadriels Spiegel", erklärt sie und deutet mir näherzukommen, „ich habe Euch hierhergebracht, damit Ihr hineinschauen könnt ... wenn Ihr denn wollt." Sanft rauscht der Wind in den uns umgebenden Wipfeln der starken Bäume. Dunkelheit kriecht langsam zwischen ihre grauen Stämme und legt sich schwer über die Lichtung. Sie aber strahlt silbrig-weiß und herrlich im Licht des Abendsterns.
„Was werde ich darin sehen?", frage ich misstrauisch, denn vor Kurzem erst offenbarte mir eine spiegelnde Wasseroberfläche Schicksalsträchtiges, auch wenn ich diese Verpflichtung aus Angst vor Versagen und Scham über die abwegige Stellung nicht annahm. Sie lächelt daraufhin und wie Diamantstaub glitzert das fallende Sternenlicht auf ihrer blassen Haut und in den goldenen Haaren. „Vieles vermag er zu zeigen ... Dinge die waren, Dinge die sind und Dinge, die vielleicht noch sein werden. Ereignisse die wir uns von Herzen wünschen, aber auch diese, die wir fürchten. Nur wenig Einfluss habe ich darauf und mitunter seinem eigenen Interesse folgt er."
Ich wende den Blick ab, um zu überleben, hin und hergerissen zwischen Bedenken und brennender Neugierde. „Es ist Eure Entscheidung ... aber wolltet Ihr nicht schon immer ergründen, welch Geheimnis Euch von Geburt an begleitet." Ich würge das heraufkrabbelnde Unwohlsein hinunter. Niemals sprach ich diesen Wunsch laut aus, wagte noch nicht einmal ihn in meinen Gedanken zu bilden, denn wusste ich um den Schmerz, den die Erinnerung meiner Mutter brächte. Tief und fest verschlossen in meinen Herzen ruhte er demnach all die Jahre. Wie also kann sie um ihn wissen.
Dennoch außerordentlich stark ist er dadurch geworden. Wuchs und schürte sich zu einem heiß-brennenden Feuer das nun, kaum aufgedeckt, funkt und lodert wie Flammen die sich unerbittlich durch das Holz eines vertrockneten Baumes fressen. Tief atme ich daher durch und blicke sie zu einem Entschluss gekommen wieder an. Keine Überraschung über ihn erkenne ich in ihrem Antlitz, als ich festen Schrittes zu dem Sockel schreite.
„Berührt das Wasser nicht, was auch immer geschieht", gibt sie als Anweisung, als ich mich, die Hände auf den dünnen Rand der Schale gestützt, darüber beuge. Undurchdringlich für den Blick ist das Wasser, obwohl nur wenige Zentimeter tief. Samtig schwarz und still wie Glas. Dann aber blitzen Sterne darin auf. Einer ... zwei ... unendlich viele. Sie funkeln, ordnen sich zu Bildern, manche Fallen begleitet von schimmernden Schweifen. Wunderschön ist der Anblick. An Kheled-zâram erinnert mich die Erscheinung und ich will bereits wieder zurückweichen, da verändert sie sich. Klar wird das Wasser plötzlich und abgründig. Und ich falle schwerelos in eine Unwirklichkeit, die sich alt und traurig anfühlt.
Blass ist der Winterhimmel über einer Zeltstadt inmitten einer kargen, frostglitzernden Landschaft. Harsche Befehle von Heerführern werden gerufen. Pferde wiehern aufgeregt. Weit entfernt beklagt eine Mutter oder Ehefrau den Weggang ihres Kriegers, dem die Gefahr niemals wieder zurückzukehren wie der dunkle Schatten eines Leichentuchs folgt. Das Schleifen von Stahl auf sich schnell drehenden Wetzsteinen ist zu hören. Die allgemeine Aufregung vor dem Aufbruch zu einer Schlacht vibriert grausam in der kalten Luft. Voller Angst und Verzweiflung ist sie, aber auch Hoffnung findet sich darin. Hoffnung, die bis zum bitteren Ende Bestand hat und dann fällt in einen tiefen Abgrund voller Trauer und Schmerz.
Die Plane eines der Zelte weht im schneidenden Wind und vor ihm steht meine Mutter. Jung ist sie, vielleicht gerade einmal mündig geworden und dennoch zeichnet bereits wohlbekanntes Leid ihr Antlitz. Dennoch einen ungewohnten Anblick bietet ihre Erscheinung, denn eine Rüstung trägt sie, einfach gearbeitet aber dennoch eine gewisse Kostbarkeit vermittelnd, der Brustpanzer ziseliert durch einen Wolfskopf im Profil. Ornamente aus geschwärztem Stahl besetzen Arm- und Beinschienen und das kurze Schwert an ihrer Seite steckt in einer ledernen Scheide.
Ihr tränenschwimmender Blick schweift in die Ferne und als mir der Spiegel gewehrt ihm zu folgen, sehe ich eine Gruppe Reiter sich entfernen. Silbern schimmern ihre Rüstungen im fahlen Licht, während sich die dunklen Haare offen über breite Schultern wellen. Wie erhaben ist doch ihr Anblick, wie stattlich die Erscheinungen von Kriegern, die unverzagt ziehen in eine Schlacht, in der sie für Ruhm und Volk und Edelmut kämpfen werden. Keiner von ihnen blickt zurück, aber dennoch erkenne ich das Zögern von einem, wie er langsamer wird, zurückfällt hinter seinen Waffenbrüdern. Damit ringt zurückzulassen, was wohl sehr viel mehr bedeutet als all die tapferen Taten und einhergehenden Ehren.
Aber noch bevor er sich umdreht um einen letzten Blick darauf zu werfen, die Erinnerung zu suchen, den Mut dennoch weiterzugehen, verblasst das Bild ...
... wandelt sich in ein neues und ich möchte schreien vor Schmerz so wie sie. Nieder kniet meine Mutter, das Gesicht vergraben in den Händen und ihr Weinen und Klagen ist entsetzlich. ‚Warum?', fragt sie in die dunkle Leere des Raumes. ‚Warum entreißt du mir mein Herz!?' Und dann sehe ich, als sie die Hände legt auf ihren Bauch, wie dieser bereits leicht gewölbt den Stoff des Kleides spannt.
Eine unabwendbare Träne löst sich aus meinem Auge, fällt auf die Oberfläche des Wassers, kräuselt das Bild und es wandelt sich erneut ...
... und ich sehe plötzlich die Herrin Dís. Genauso niedergedrückt von Trauer klagt und weint und befragt sie unseren Schöpfer nach dem Grund ihres Schmerzes und ebenso liegt eine Hand auf ihrem ein Kind behütenden Leib.
Ich will zu ihr, will Trost und Halt spenden. Aber kaum beuge ich mich hinunter, höre ich von weit entfernt die eindringliche Mahnung der Herrin Galadriel das Wasser nicht zu berühren, und die Störung bewirkt, dass sich die Erscheinung erneut variiert, und innehalte ich in der Bewegung, der Atem stockt und fallende Tränen wie Regentropfen erschüttern das Bild von mir in den vorhergehenden gleichenden Zustand der Trauer und Verzweiflung.
All meine Kraft mobilisierend stütze ich mich auf den Rand der Schale, um mich loszureißen von diesem. Fliehen will ich ... entkommen diesem Schreckensgebilde ... dieser Vision eines schmerzvollen Leidensweges. Aber gefangen hält sie mich weiterhin und ich will bitterlich flehen um Entlassung, um mich schlagen und rebellieren ...
... aber dann, verschwimmt das Bild endlich erneut und ich sehe eine zerfallene Festung. Dunkel ist sie, groß und nicht weniger entsetzlich. Ruinen von spitzen, einst wohl erhabenen Türmen und mit knorrigem Geäst überwucherten Mauern ragen aus dem wabernden Nebel hinauf in einen düsteren, regenverheißenden Himmel. Schrecken wohnt in ihr und eine scheußliche Boshaftigkeit, die mit spitzen, kalten Klauen in mein Herz kriecht. Es mir schließlich mit bestialischer Gewalt aus der Brust reißt. Ich schließe die Augen vor ihr, will nichts mehr sehen und ein ersticktes Wimmern entkommt dem Mund, Ausdruck von Qual und Kummer und Leid, wie ich sie noch nie in meinem Leben verspürte, und dann ... löst sich der Bann des Wassers plötzlich und ich falle zurück.
Weich ist das Gras, auf dem ich kaure, betaut von kleinen, erfrischenden Tropfen. Das Säuseln des Baches ist leise und ruhig und sternengefunkel-durchbrochener Schatten hüllt mich ein mit seiner Sanftheit. Neben der Schale steht noch immer groß und weiß die Herrin Galadriel, aber ihr Angesicht ist nicht mehr wunderschön, sondern finster wie die Nacht zur dunkelsten Stunde. Kummer sehe ich in ihm, Trauer, Schmerz, Verlust ... so viel von alldem ... so viel, dass mir bewusst wird, dass es ein Erinnerungsbild der vergangenen Jahrhunderte ihres Lebens widerspiegelt.
„Ich weiß, was Ihr saht", sagt sie mit zitternder Stimme und unerwartete Tränenfeuchte findet sich darin. Ich schluchze erneut, unfähig auch nur einen Deut des Leidens zu verbergen, das noch immer mein Herz quält. „Sind es Schattenbilder oder Voraussagungen?", frage ich schließlich mit in salzigen Fluten versinkenden Worten.
Die hohe Herrin schließt die wasserblauen Augen. „Undeutlich ist Eure Zukunft ... so viele Entscheidungen traf Euer Herz bereits, mit denen Euer Verstand noch hadert ... so viele muss es noch treffen auf Eurem weiteren Weg. Jede Einzelne von ihnen beeinflusst den Fortgang zum Guten oder zum Schlechten. Aber zu oft noch, ignoriert Ihr seine Mahnungen, folgt ihm nicht, obwohl man Euch dazu riet." Ich zittere und senke den Blick, denn erneut brechen Tränen die Beherrschung. Mit den Tautropfen die das Grün des Grases benetzen vermischen sie sich und funkeln einen vergänglichen Moment im Sternenlicht, rinnen zarte Stängel hinab und versinken in der dunklen Erde. „Ich kann nicht", schluchze ich, „so viele Gelöbnisse, Verpflichtungen und Ängste gebieten dem Verstand zu folgen. Nicht nur mich würde ich in schreckliches Unglück stürzen, gehe ich dem Willen des Herzens nach."
Eine warme, zarte Hand ist es, die mein Kinn umfasst und den tränenschwimmenden Blick zwingt auf ihr nun wieder wunderschönes, dennoch noch immer von Trauer gezeichnetes Angesicht. Fernab jeglicher majestätischen Würde, jedoch noch immer erhaben und imposant in allem das Ilúvatar ihr mitgab in seinen klugen Gedanken, kniet die Herrin Galadriel vor mir. Ihr Kleid ein See aus Weiß in dessen Zentrum ihre Gestalt aufragt wie eine Faie aus alten Märchen voller Wunder und Magie. „Ihr habt eine reine Seele und es schmerzt, diese so leiden zu sehen. Deshalb möchte ich Euch warnen: Das herzensblinde Gehorchen nur aus Treuepflicht wird es einst sein, dass dieses gefürchtete Unheil heraufbeschwören wird."
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