Erhabene Gründe
Zurück zur Diele führt sie ihr Weg, während ich den meinen in den Salon einschlage, dabei die Teetassen, auch ein Stück Kümmelkuchen für Balin, der diesen genauso gerne isst wie ich, und trotz aller Abwehr einen gut gefüllten Teller mit Gebäck und bunten Patisserie auf einem Tablett balancierend. „Ich glaube, unser Gastgeber traf gerade ein", unterrichte ich Thorin leise, als ich ihm seine Tasse reiche und er nickt zufrieden.
Nicht lange müssen wir warten, da betritt er begleitet von seiner Frau und womöglich seinem Sohn den Salon. Ich dachte es mir bereits, aber dennoch erstaunt es mich ... ein stattlicher Zwerg steht uns gegenüber. Möglicherweise sogar unserer Sippe zugehörig, denn lang und buschig und auffällig gestaltet mit ineinander geknüpften und geschmückten Flechten ist sein brauner Bart. Sein Sohn dagegen trägt kaum etwas dieser Pracht zur Schau, auch, wenn er nur wenig jünger als ich zu sein scheint. Lediglich die etwas stämmigere Statur und die knollige Nase, ebenfalls typisch für einen Angehörigen aus dem Stamm der Langbärte, zeichnen ihn als solchen. Viel Einfluss hat dennoch die Abstammung seiner Mutter auf das Aussehen, wenn auch die großen Füße fehlen.
„Es ist uns eine Ehre, Hoheit, Euch begrüßen zu dürfen", sagt der Hausherr aufgeregt-ergeben und verbeugt sich so tief, dass die Spitze des Bartes, in dem ich nun einige Tintenflecke erkennen kann, den Boden berührt. Unsanft tritt er seinem Sohn gegen das Schienbein, damit er es ihm gleichtut, denn viel zu erstaunt von und überfordert mit unserer Anwesenheit scheint der Junge zu sein. Wahrscheinlich hörte er bislang nur fantastische Geschichten von dem weit entfernt lebenden Volk seines Vaters, von den endlosen Hallen, von Schätzen und Königen und Prinzen und Prinzessinnen, die sich voller Stolz Söhne und Töchter Durins des Unsterblichen nennen.
Thorin steht auf, gibt mir die Teetasse zurück und tritt an ihn heran. „Bruni, es ist schön dich gesund und wie es scheint glücklich wieder zu sehen. Viele Jahre sind seit Azanulbizar vergangen." Ein sichtbar grauenbegleiteter Schauder kriecht dem Angesprochenen bei der Nennung des Schlachtfeldes über die Haut, als sei er eine krallenbewährte Bestie. Auch er kämpfte also dort. Überlebte, aber besiedelte nicht zusammen mit so vielen anderen die Blauen Berge. Das gewürdigte und verdiente Glück fand er wo anders, mit einer Geliebten außerhalb unseres Volkes. Selten ist dies, dennoch nicht verboten.
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„Ihr wollt die Hügelgräberhöhen erkunden?! Erlaubt mir diese dreiste Bemerkung Herr, aber das ist purer Wahnsinn. Keiner derer die sich dort in heldenmütigen Leichtsinn hineinwagten, fanden unbeschadet, wenn überhaupt, wieder hinaus. Ihr kennt vermutlich die Schauergeschichten genauso gut wie ich." Thorin nickt und nimmt einen Schluck des Weins, der ihm angeboten wurde und wohl mehr zusagt als Tee. „Ich kenne sie, denn jeder dem ich offenbare wohin wir gedenken zu gehen, erzählt sie mir unverlangt. Aber Bruni, wenn die Gerüchte stimmen ... ich muss einfach herausfinden, ob mein Vater derjenige ist, der dort umherwandelt."
Auffallend bitterlich verzweifelnd senkt sein Gegenüber den Blick. „Thráin ... viel habe ich ihm und Eurem Großvater, Mahal beschütze seine Seele in den unendlichen Hallen, zu verdanken, da sie mich verwaistes Kind nachdem der Drache kam aufnahmen, versorgten und gut erzogen." Er seufzt, reibt sich mit der großen, mit Tintensprenkel befleckten Hand, ein Beiwerk zum Beruf als angesehenster Bankier von Bree, über die Augen. „Auch ich hörte von diesen Erscheinungen, dachte mir allerdings bislang nichts dabei. Spelunkengerede halt. Oft verlaufen sich Unkundige, werden verrückt, fliehen hysterisch vor allem was ihnen zu nahekommt, egal ob Freund oder Feind. Wenn es wirklich Thráin sein sollte, der dort herumirrt, wird es schwer, ihn zu finden."
Thorin lehnt sich in seinem Sessel zurück und es ist die hochherrschaftliche Haltung nicht eines Prinzen, sondern die eines Königs, die er vielleicht sogar bewusst, obwohl ich ihm nichts unterstellen möchte, einnimmt. „Deshalb habe ich dich aufgesucht." Bruni zuckt zusammen, sieht ihn entgeistert an, genauso wie Luisanne, die neben ihm steht, eine Hand umsorgend auf der Lehne des Sessels gelegt, und dem Gespräch bisweilen in erwartungsvoll-schweigsamer Demut lauschte. „Nein ...", erwidert er energisch kopfschüttelnd. „Aber du warst schon einmal in den Höhen, hast sie erkundet und bist zurückgekehrt ... Berichte über diese heroische Leistung drangen sogar bis in die Blauen Hallen vor."
Thorin richtet sich und seine Würde auf, erscheint plötzlich noch mächtiger, noch respektabler und ich erzittere vor diesem Abbild von Königen alter Zeiten und Gewalten, das mir bislang noch niemals erschien. Bruni allerdings scheint dies nicht im Geringsten einzuschüchtern. „Ja ... und ich hatte verdammtes Glück und mehr als nur den Beistand unseres großen Schöpfers, sodass ich nur mit leichten Blessuren davonkam. Ich habe nicht nur mir geschworen, nie wieder solch ein törichtes Wagnis einzugehen", sagt er und sieht zu seiner Frau auf. Luisanne entflieht dem Blick und es quält zu sehen, dass sie trotz aller Versprechungen weiß, dass ihrem Liebsten nicht anderes übrig bleiben wird. Wie herzzersplitternd muss sie gelitten haben, als er sich in unbesonnener Abenteuerlust zu weit hinein wagte in das Schreckensgebiet und womöglich viele Tage als verschollen galt. Schließlich hält sie die Standhaftigkeit nicht länger und flüchtet geradezu aus dem Zimmer. Bruni, ungeachtet, dass sein Prinz noch immer auf eine Antwort wartet, springt auf und läuft ihr hinterher.
„Thorin, das kannst du nicht von ihm verlangen." Balin, der bislang stillschwieg, bricht die betretene Stille, die daraufhin eingekehrte. Thorin erhebt sich, plötzlich müde und gar nicht mehr herrschaftlich erscheinend, und tritt an eines der runden Fenster, durch die man ebenfalls den grünen und blühenden Garten bestaunen kann. Dennoch vermute ich, wenig seiner Aufmerksamkeit wird der herrlichen Natur geschenkt. „Ich muss es aber. Ohne einen kundigen Führer leite ich euch in das Verderben, das dort lauert. Ich kann ihm nicht den Befehl erteilen, daher hoffe ich, dass letztendlich die schuldhafte Verpflichtung gegenüber meinem Vater ihn umzustimmen vermag."
Verwirrend ist die Aussage, aber dann begreife ich. Auch wenn Bruni ein Angehöriger von Durins Volk ist, so zählt er nicht zu der Gemeinschaft, über die Thorin als Stellvertreter seines Vaters verfügen kann. Er ist angesehen, untersteht niemandem, ist sein eigener Herr, denn hier in Bree gibt es keinen König, keine monokratische Macht, die über das Schicksal vieler entscheidet, sondern lediglich einen Rat der Stadt, dem auch er als Vertreter der, wenn auch wenigen zwergischen Bewohner angehört. Thorins Macht stößt hier an ihre sonst so fernen Grenzen.
„Astâ, was denkst du?" Erschrocken zucke ich zusammen, sinnend mich verhört zu haben. Denn das kann nicht sein ... er hat mich nicht angesprochen, mich nach Meinung und Rat gefragt. Viel zu unbedeutend ist dieses doch aus dem Munde einer Frau und Dienerin noch dazu. Aber als er sich mir zuwendet, die Silhouette groß, breitschultrig und dennoch ungeduldig-angespannt von dem durch das Fenster hinter ihm fallenden Sonnenschein beschienen, da begreife ich, dass ich keinesfalls einer Sinnestäuschung erlag. Auch Balin scheint erstaunt, denn auch wenn er mich als rechte Hand schätzt und dies Thorin gegenüber wahrscheinlich bereits öfters hervorhob, es ist ein demütigender Übergang seiner Autorität als eigentlicher Berater.
Demnach verängstigt senke ich den Blick. „Meine Meinung, Herr, sollte nicht von Belang für Euch sein", flüstere ich ausweichend und hoffe, ihn damit zufriedenzustellen. Vielleicht ist dies auch nur ein Test. Ein auf die Probe stellen wie weit ich bereit bin, ihm auch in seinen Bestrebungen zu folgen. „Ich möchte sie dennoch gerne hören." Nach Hilfe um aus dieser Situation zu entkommen suchend, finde ich den Augenkontakt zu Balin. Aber es liegt nicht wie erwartet Missmut oder Eifersucht darin, noch vermittelt er mir das Gefühl, Unterstützung für das Entrinnen bereitzuhalten. Vielmehr der bestärkende Blick eines Lehrers an seinen Schüler um eine besonders schwierige Aufgabe trotz aller Zweifel an seinen Fähigkeiten anzugehen ist es.
„Nun ...", beginne ich daher zögernd, denn noch immer betrachtet mich Thorin erwartungsvoll, "ich kann seine abwehrende Haltung verstehen. Viel Verantwortung trägt er. Für seine Gemahlin, seinen Sohn und wenn ich die liebevoll gezeichneten Bilder ringsherum betrachte noch weitere Kinder und sogar bereits Kindeskinder, seine Stellung innerhalb dieser Gemeinschaft, in der er als zuverlässig und besonnen gilt. Niemand, noch nicht einmal ein König, sollte von jemandem fordern alles was man liebt zu verlassen und sich in Gefahr zu bringen. Sei es nun aus so niederen Beweggründen wie Besitzgier oder Vergeltung, oder aufgrund solcher viel edleren wie Liebe, Ehre oder um das Leben eines einzelnen zu retten. Wir werden einen anderen Weg finden, einen anderen ortskundigen Führer, da bin ich mir sicher. Bitte verlangt es daher wie Meister Balin bereits riet nicht von ihm."
Thorin sieht mich an, nicht verärgert oder tadelnd, dass ich seiner Denkweise nicht folge, sondern, wie ein Funkeln des Sonnenscheins auf den schneebedeckten Eisseen, voller Anerkennung und Stolz. Nur einen kurzen Moment lang, der Niederschlag der dunklen Wimpern lässt es erlöschen, aber dennoch glimmt das Leuchten weiter hell und warm in meinem Herzen. „Nun denn, dann müssen wir jemand anderen finden."
„Nein, das müsst Ihr nicht." Überrascht gleitet unsere Aufmerksamkeit zum Durchgang, unter deren Bogen Bruni und Luisanne stehen. Ihre geröteten und noch immer leicht tränenfeucht schimmernden Augen versetzen meinem Herzen einen quälenden Stich. „Vielen dieser aus nichtigen Gründen gegebenen Befehlen folgte ich in meinem Leben. Zog in Schlachten, sah Freund und Feind fallen, brachte mich in Gefahren, tötete und verließ die die ich liebte ... aber keinen erhabeneren Grund für all das gibt es wohl als meinen König zu retten."
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„Ihr wollt doch nicht etwa so auf dem Fest erscheinen?" Die Empörung in Luisannes Frage ist deutlich, als ich mich für dieses bereitmache. Als Ehrengäste luden sie uns an den Tisch ihrer Familie ein, der einen bedeutenden Platz auf der großen Wiese am Fuße des Breeberges einnimmt, dort, wo die Feierlichkeiten zum Schattenabend ihren Höhepunkt erreichen werden. Ich sehe verwirrt an mir hinunter. Sauber und geflickt sind Mantel, Tunika, Hose und selbst die fellbesetzten Stiefel wurden penibel vom Schlamm der zurückliegenden Regentage befreit. Daher weiß ich nicht, auf was sich ihre Entrüstung bezieht. „Auch wenn Ihr eine stolze Kriegerin seid, ein Kleid wäre angebrachter für Euch junge, hübsche Frau." Für einen Moment sprachlos sehe ich sie an. „Nein ... besser ist es, wenn Unkundige mich nicht als solche erkennen", sträube ich mich bestimmt, sicher, dass sie eigentlich darum wissen müsste. Aber sie lächelt nur, fasst mich an der Hand und zieht mich, ohne weitere Einwände gelten zu lassen, mit sich in eines der Zimmer.
Ausgestattet ist es wie das eines kleinen Mädchens. Bunte Blumen mustern Wände, einzelne Möbel, Kissenbezüge und die gesteppte Decke eines untadelig gemachten Einzelbettes. Puppen mit feinen Kleidchen aus Spitze wurden sorgfältig und mit viel Liebe auf die Ablage einer Kommode drapiert, Tiere aus Plüsch, mit großen schwarzen dennoch nicht leblos wirkenden Knopfaugen, sitzen zwischen ihnen. Überall finden sich Akzentuierungen mit den Farben von Flieder, Nelken, Kornblumen und Chrysanthemen. Filigran und verspielt wirken alle Möbelstücke, wie die aus einer Puppenstube.
Luisanne zieht eine der schwer aufgehenden Schubkästen der Kommode auf, kramt lange darin herum, schichtet Kleidungsstücke von einer Seite auf die andere, und holt schließlich eines von ihnen heraus. Mit einem Ausdruck in ihrem freundlichen Gesicht, der heller und wärmer scheint als die Sonne an einem klaren Sommertag, hält sie mir ein Kleid vor. Rot ist es wie eine Rose, mit schmalen samtenen Bändern an Brust und Rücken geschnürt, die kurzen Ärmel bestehend aus zarter blütenblätterdurchwirkter Spitze, die zudem den weit ausgestellten, langen Rock durchbricht und weitergehend die Schnürung als Einsatz unterlegt.
„Ich muss es etwas weiter schnüren, denn stämmiger seid Ihr als meine jüngste Tochter, aber auch größer, daher wird es wenigstens so wie es sein sollte bis knapp über den Boden reichen, denn ihr war es immer zu lang." Fassungslos und zutiefst berührt starre ich erst sie, dann das Kleid, dann erneut sie an. „Bitte, zieht es an, Ihr werdet wunderschön darin aussehen." Vor Erstaunen und Begeisterung bin ich unfähig ihr zu widersprechen ... oder zu antworten ... oder überhaupt irgendeine Reaktion zu zeigen. Also drückt Luisanne mir das Kleid einfach in die Hand und wendet sich erneut der Kommode zu. Nach weiterem Herumkramen in einer der Schubladen, präsentiert sie mir voller Stolz Haarspangen mit Seidenrosenbesatz und eine ... Maske. Weiß im Grund ist sie, an Stirn und Wangen bemalt mit und gekrönt von Rosenranken. Einzig Löcher für Augen, Nase und Mund wurden ausgespart, sodass sie das ganze restliche Gesicht und alles was sich daran befindet, sorgsam verbirgt.
Und endlich begreife ich ihren schlau erdachten Plan und insgeheim bin ich glücklich darüber, endlich einmal wieder mehr Frau als Kriegerin sein zu dürfen.
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