Die Hände eines Königs sind die eines Kämpfers und die eines Heilers
Den Vergang einer halben Stunde nach der neunten dieses Abends bekundet die große Standuhr neben der Tür, durch die ich gerade eintrat. Wie verächtliche Schelte tönt mir heute ihr blechender Klang, kam ich doch all die Jahre noch nie verspätet, zu keinem Treffen und vor allem nicht zu den allabendlichen Lesestunden. Aber längere Zeit als beabsichtigt benötigte ich um mich zu waschen und umzuziehen, denn schmerzhaft ist noch immer jede fahrige Bewegung und die Zeichen des Kampfes klebten allzu hartnäckig an dem geschundenen Körper. Gerade jetzt allerdings, wiegt das Vergehen schwer.
Thorin, umhüllt vom goldenen Licht des Kaminfeuers, steht vor ihm, die Hände auf den Sims gestützt, den Blick in die Flammen gerichtet. Befreit von Rüstung und ebenfalls allen sichtbaren Makeln, die unser Gefecht hervorbrachte und die Unerreichbarkeit seiner Erhabenheit beschmutzten. Keine Aufmerksamkeit schenkt er mir in seinem berechtigten Groll, aber wieder gehen darf ich nicht ohne seine Erlaubnis. Also schweige ich. Warte. Schäme mich. Bereue meine Taten. Verfluche sie still aber umso heißer.
Als ich nach vielen Minuten, die wie Stunden erschienen, unbewusst das schmerzende Bein ein wenig mehr entlaste als sowieso schon, ziehe ich wohl mit der Bewegung endlich (nicht) ersehnte Beachtung auf mich. „Du bist spät", tadelt Thorin unvermittelt und ich senke schuldbewusst den Blick. „Verzeiht mir, Hoheit, aber Meister Oin war zu gütig und versorgte so spät am Abend noch meine Wunde", begründe ich das Vergehen, schelte mich im nächsten Augenblick bereits dafür, klingt es doch wie ein nicht gerechtfertigter Vorwurf an ihn.
Ich höre, wie er sich von dem Kaminsims abstößt und mit festem, weitem Raum greifenden Schritt auf mich zukommt. Wage es aus Scham aber nicht ihn anzusehen, sodass er mich geradezu zwingen muss, indem er mit rauen dagegen warmen Fingern das Kinn umfasst und beinahe grob ob meines Unwillens nach oben drückt. „Lass mich sie sehen", sagt er. Kein Angebot, sondern ein Befehl und ich zucke verwirrt und ängstlich zusammen. „Ich verstehe nicht Herr ... wieso ..." Zu Ende führen kann ich die im Moment mehr als kühne Versagung meiner doch einst so leidenschaftlich zugesicherten absoluten und widerspruchslosen Gehorsamkeit nicht, denn überraschend hebt er mich auf seine Arme.
Genauso stark und Geborgenheit schenkend sind sie wie die Dwalins, aber viel zu entsetz bin ich über die plötzliche Handlung, als dass ich beides genießen könnte. „Ich sehe nur allzu deutlich, dass sie dich noch immer schmerzt. Du belastest das Bein nicht, bist blass und zittrig. Lass mich sie versorgen, vielleicht kann ich dir weitere Linderung schenken." Noch maßloser als die Aufforderung verwirrt mich seine Erklärung. Was könnte er schon mehr tun als ein Heiler?
Thorin setzt sich ohne eine Zustimmung abzuwarten in Bewegung und verängstigt bebend schlinge ich die Arme um seinen Hals, denn in Richtung des Schlafgemachs trägt er mich. Trotz meiner Stellung, noch nie betrat ich ihn bislang. Zu tief ginge der Einblick in die Privatsphäre eines Regenten. Zu intim, dass selbst eine Zofe nicht darüber Kunde haben sollte.
Allein ein wohlige Wärme spendendes Kaminfeuer erleuchtet den Raum. Hüllt die wenigen Gegenstände und Möbel aus dunklem Holz in flackerndes Schatten-Licht. Nur kurz erhasche ich im vorbeigetragen werden einen Blick auf den hölzernen Rüstungsständer in einer Ecke. Silbern und prachtvoll spannt sich darüber ein Harnisch aus unzähligen drachenähnlichen Schuppen zusammengesetzt. Binamrâd ruht nach getaner Arbeit und von meinem Blut gereinigt aufgehängt an einer reich mit Goldschnörkeln verzierten Wandplatte neben einer wunderschönen, dreieckigen Streitaxt mit langem Stiel. Und daneben, bei Mahal, noch nie sah ich es. Das von schillernden Legenden umrankte Symbol für Tapferkeit und Kampfeswillen. Faszinierender und herrlicher als ich es mir jemals vorzustellen vermochte. Ein Schild aus einem ursprünglich schlichtem Eichenholzast. Erhoben zu Unersetzbaren während einer Schlacht, die bislang ihres Gleichen sucht in unser aller Ahnenzeit.
Von unruhigen Nächten voller albgehetzter Träume zerwühlt sind die Laken des großen Bettes mit den schweren, von Streben getragenen Vorhängen und warmen Hermelinfellen und hohen, geschwungenen Kanten. Sorge um seines Vaters Verbleib, Erinnerungen an gesehene Schrecken und Gefechte, Trauer um Tote und Vergangenes quält umso schrecklicher in einsamer und stiller Finsternis. Das anvertraute er mir einst und ich nachfühle es ihm in jeder meiner dunklen Nächte. Und, oh Mahal gib mir die Stärke es zu begreifen, genau in dieses niederlegt er mich schließlich.
Unwohl fühle ich mich in seinem Bett und auch wieder nicht. Es ist der wohl persönlichste Raum eines Wesens und nur die die absolutes Vertrauen und tiefe Zuneigung genießen, dürfen in ihn vordringen. Wenn nicht einzig die oder der eine Auserwählte mit dem man alles Teilen möchte, dass einem lieb und teuer ist. Demgemäß sehr verkrampft und verunsichert sitze ich da. Die Arme schützend vor die Brust gepresst, die Beine dicht an mich gezogen, der Blick fragend auf Thorin gerichtet und ich sehe die dennoch nicht verspottende Belustigung über die Verlegenheit in den seinem.
„Ängstige dich nicht, schwer kann ich die Wunde betrachten, wenn du dabei stehst oder sitzt. Zudem ist es behaglicher und auch besser für dich, denn Meister Oin riet dir bestimmt, das Bein nicht allzu sehr zu belasten." Beistimmend nicke ich stumm und wende reuend, dass ich es dennoch tat, den Blick ab. Thorin entzündet eine Kerze auf dem Nachtisch. Flackernd umhüllt uns das rot-goldene Licht und glüht auf seinen Gesichtszügen. Faszinierend ruhen die Schatten in den Tälern. Bezaubernde Spiele treibt das Flammen auf der ebenmäßigen Haut.
„Deshalb ist es unverständlich, dass du trotzdem hier bist. Nicht wirklich gerechnet habe ich heute noch mit deinem Besuch", sagt er, während er zu einer dem Kamin nahen Kommode geht und kurze Zeit später mit einem Kästchen, einer Schüssel mit dampfendem Wasser, sowie einem Leinentuch und einer neuen Bandage zurückkehrt. Ordentlich platziert er alles griffbereit auf dem Tischchen neben dem Bett. „Ihr stelltet mich nicht frei", murmle ich in dem Streben nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen und sehe ihn dabei nur kurz an. Thorin räuspert sich dennoch getroffen, während er weiterhin die Utensilien sortiert. „Nun, das hätte ich wohl besser tun sollen. Verzeih, aber manchmal vergesse ich, dass du nur von mir Befehle entgegennehmen darfst." Ihn gerade dies glauben, kann ich nicht. Er ist sich seiner beeinflussenden Macht über mich nur allzu gewahr und ließ mich diesen Umstand in den letzten Tagen vermehrt und deutlicher spüren als jemals zuvor. Warum, das weiß ich nicht. Aber sie führte mir deutlich vor Augen, wie abhängig ich doch von ihm und seiner Gewogenheit bin. Wenn ich nicht achtgebe, Dienst oder Gehorsam verweigere, abtrünnig werde, kann er mir Stellung, Stolz, Würde, Sicherheit, all das, was er mir schenkte, umgehend und grauenvoll quälend entziehen.
Erschrocken zucke ich zurück, als er eine Hand erhebt und wie selbstverständlich und ohne Scheu auf das noch vom Unschuldsweiß des Unterkleides bedeckte Bein legen möchte. „Vertraue mir, lediglich betrachten möchte ich das was ich anstellte", versichert er mir augenblicklich und mit einer solch hellen Aufrichtigkeit in der dunklen Stimme, dass kein Zweifel daran bestehen sollte. Dennoch nur widerstrebend lasse ich ihn gewähren. Gestatte zwiegespalten, dass die Festigkeit seiner Finger den Stoff ergreift und langsam und behutsam nach oben streift. Zentimeter um Zentimeter der bloßen, unter Berührung und Blick kribbelnden Haut freilegend. Denn schon einmal wanderte eine raue Kriegerhand dort entlang. Allerdings ungezierter, roher, eine Absicht erzwingend, die ich ihm nicht unterstellen möchte ... ihm nicht unterstellen will. Beruhigung finde ich darin, dass er geflissentlich darauf achtet nicht unnötig viel Ungebührliches sichtbar werden zu lassen.
Letztendlich kommt das bereits vereinzelt rotschimmernde Weiß des Verbandes hervor. Einen bitteren Kontrast zur Haut bildet es, ist störend, ein Schandmal wie die Narbe, die sich darunter bildet und auf alle Zeiten erinnert, dass ich mich beinahe von ihm besiegen ließ. Vorsichtig entwirrt Thorin die Lagen, darauf bedacht nicht sinnlos die Haut des anderen Beines zu streifen. Ein fast unmögliches Unterfangen. Dennoch das Misstrauen lindernd ist es ebenso.
Als die Wunde schließlich frei liegt, schluckt er erschrocken angesichts ihres zerstörerischen Ausmaßes, obwohl ich annehme, dass er bereits zahlreiche weit aus schlimmere und vor allem unversorgte Verletzungen sah. Zum Glück nur leicht gerötet sind die Wundränder um die Einstichstellen der Nadel herum. Meister Oin benutze mit Alkohol getränkte Seidenfäden, ein Material der Heilkunde, so kostbar, dass sie sich eigentlich nur Höhergestellte leisten können. Leicht dunkelrot-blau verfärbte sich das geronnene Blut unter der nahen Haut bereits. Ebenfalls eine Nachwirkung des wuchtigen Schlags mit Binamrâd. Lange wird es benötigen, um abzuklingen. Schwer bestürzt eigentlich nur die Größe. Über die Hälfte des Oberschenkels erstreckt sich der gut zu erkennende Schnitt.
„Oin leistete sehr gute Arbeit. Fein und nah beieinander sind die Nähte gesetzt. Es wird zwar eine große, aber nicht wulstige Narbe werden", klärt mich Thorin erfahren auf, nachdem er sich wieder fing, und betastet vorsichtig das Gewebe. Qualvoll ist die Berührung, wie Feuermeere auf bereits gesalzenes offenliegendes Fleisch, aber ich gestatte mir lediglich das davon ablenkende Beißen auf die Unterlippe. Keine Schwäche will ich vor ihm zeigen. Keine Schmerzen. Keine weiteren Verstöße gegen das Gebot der Krieger seinen Herren unerschütterlich zu beschützen begehen. Thorin merkt es dennoch. „Ich weiß, es schmerzt ... verzeih mir", gesteht er flüsternd und ich vermag es nicht zu unterscheiden, für welche Handlung genau er um Entschuldigung bittet.
Schließlich scheint er die Begutachtung abgeschlossen zu haben, denn er öffnet vorsichtig das bereitstehende Kästchen. Ein süßer, frischer Duft erfüllt augenblicklich das Zimmer. Unübertroffen in seiner belebenden Ausprägung. Interessiert beobachte ich, wie er ein Bund langblättriger Kräuter mit kleinen, zartblauen Blüten entnimmt. „Was ist das?", frage ich neugierig, denn noch nie sah ich eine solche Pflanze. Thorin lächelt und zerreibt einige der abgezupften Blätter zwischen den Fingern, sodass der Geruch noch intensiver wird und angenehm in der Nase kribbelt. „Ibsêtmajd", flüstert er andächtig. Ich stutze. „Athelas hat lediglich fiebersenkende Eigenschaften und hilft gegen Kopfschmerzen", sage ich wissend, denn zumindest gelesen habe ich in den vielen Büchern Oins über diese wundersame Pflanze, die einst Menschen aus dem Land der Gabe mitbrachten. Nur noch selten findet man es in Mittelerde, seitdem die Herrscherlinie der Dúnedain schwindet und ihre Existenz selbst bei ihrer Rasse beinahe in Vergessenheit geriet.
Thorin verzieht etwas angewidert das Gesicht, womöglich, weil ich die geläufige Bezeichnung in Sindarin aussprach und gibt schließlich die zerriebenen Blätter in das dampfende Wasser. Nicht mit einfachen Wörtern zu beschreiben wird die Wirkungsstärke des Aromas auf Geist und Körper mit dem darauffolgenden, ersten Atemzug.
Einst als Kind hatte ich einen Freund. Ein Nachbarsjunge, wenige Jahre älter als ich. Auch er verlor in der Schlacht im Schattenbachtal seinen Vater und die Trauer verband uns. Unsere liebste Ablenkung von Haushaltspflichten und Kampf um das Überleben bestand darin, den allerhöchsten Punkt des Berges zu erklimmen. Oft stahlen wir uns davon, aber nur ein einziges Mal blieb mir bis heute in Erinnerung:
Stickig und heiß war die Luft damals im Berg, denn um eine große Lieferung Roheisen fertigzustellen, wurden alle verfügbaren Hochöfen angeheizt. Drückend die seit Wochen andauernde Sommerhitze zusätzlich, die selbst ungewöhnlich stark durch die Luftschächte und isolierenden Hänge eindrang.
Beschwerlich war daher der Aufstieg, kaum mehr Kraft zum Atmen hatte ich. Jedes Luftholen anstrengend und kaum mit Erfolg vollendet. Aber dann öffneten wir die in Vergessenheit geratene, hölzerne Tür und der pfeifende Wind des Berggipfels empfing uns. Er war so frisch, so kühl, so wohltuend, als füllten wir unsere Lungen mit dem Lebenshauch Ilúvatars selbst. Jeder Schmerz verflog. Die Hitze verging. Keinen Hunger verspürten wir mehr, obwohl wir seit Tagen nurmehr wenig gegessen hatten. Die Kälte des Windes, die sonst durch die zerrissenen Kleider drang und brannte, bemerkten wir nicht. Jeder Gedanke war frei, flog entlastet von den Sorgen und Ängsten die das Leben in Armut mit sich brachte davon. Über hohe Berge und tiefe Täler, mächtige Wälder und glitzernde Seen, bis hinauf in die unendliche Leere, in der weder Zeit, noch Furcht, noch Kummer existiert und einmal dort Angekommenes für immer gebannt wird.
Bis der Abend dämmerte, blieben wir dort. Dicht beieinandersitzend und redend und alles Schreckliche vergessend. Das letzte Mal war ich damals dort, denn wenige Tage später schickte ihn sein Stiefvater in die Kohleminen, die er nie wieder lebend verließ.
„Das sind nur zwei der Dinge, die Ibsêtmajd bewirken kann." Thorins Stimme reißt mich plötzlich grausam aus der Erinnerung und ich benötige einige blinzelnde Augenblicke, um mich wieder im Hier und Jetzt zurechtzufinden. Diffus ist sein Ebenbild, einem verblassenden Traumgebilde gleich. Fern seine Stimme, so als lägen Meilen zwischen uns. Verwirrt reibe ich mir über die Augen, die schmerzen, als würde ich sie nach langem, tiefem Schlaf gebrauchen. „Es ist das erste Mal, dass du seiner Wirkung ausgesetzt bist?", fragt Thorin und ich nicke, unfähig auch nur das kleinste Wortgebilde in dem neblig-wabernden Kopf vereinigen zu können.
Ich merke, wie erneut ein athelasschwangerer Lufthauch das erhitze Gesicht streift und auf einmal verfliegen die Schleier und das Gefühl der Sorgenfreiheit entsteht abermals. Sanft sind die Hände, die die Meinen entfernen und nunmehr wieder klar zu erkennen die eiswasserblauen Augen, die mich lächelnd betrachten. „Deine Assoziation mit seinem Geruch war stark und bedeutend, eine behagliche Gedankenreise, in der du drohtest verloren zu gehen." Verwirrt bin ich über die Macht die diese einfache, so unscheinbar wirkende Pflanze hat und von der ich nirgendwo bislang las.
„Es wird nicht umsonst auch ‚Königskraut' genannt", erklärt Thorin schließlich und tränkt das Tuch mit dem grünlichen Sud. „In den Händen von Angehörigen einer Königsblutlinie, entwickelt es besondere Kräfte." Sanft tupft er die Wunde mit dem vollgesogenen Leinen ab. Und plötzlich vergeht jeglicher Schmerz, jegliches Brennen, jegliche Schwäche und Angespanntheit. Als würde das Gemisch all dies aus mir herausziehen und in seiner Reinheit bannen. „Es kann Wunden heilen, Vergiftungen mildern und sogar dunkle Mächte die den Körper befielen bekämpfen, obwohl ich Letzteres noch nie bewirken musste."
„Die Hände eines Königs sind die Hände eines Kämpfers ... und die Hände eines Heilers", zitiere ich ohne lange darüber nachzudenken einen Vers, den ich unzusammenhängend letztens auf einem alten Stück Pergament las und der mir im Gedächtnis blieb, da ich mich über ihn wunderte. Thorin schmunzelt darüber, verlegen und in seiner Seltenheit wunderschön, weiterhin darauf konzentriert, keine Stelle meiner Wunde zu vernachlässigen. „Wenige besitzen noch das Wissen darüber. Es ging über all die Jahrhunderte verloren und wenn nicht einst mein Großvater mir den Umgang gelehrt hätte, selbst ich besäße es nicht."
Aber, oh weh, jetzt nachdem der Schmerz der Verletzung verging, erwacht unversehens eine andere Qual. Brennend heiß spüre ich jede seiner Berührungen auf der bloßen Haut. Die Rauheit der groben Finger dennoch feinfühlig. Wohlig wie dereinst lodern die Flammen in meinem Inneren auf. Jeder sorgliche Kontakt ein zäher Tropfen, der die peinigende Leere füllt.
„Verzeiht mir, dass ich Euch demütigte", wispere ich schließlich, unter der Wirkung des Athelas den Mut findend, endlich das Vergehen anzusprechen. Thorin indes sieht mich verwundert an. „Was meinst du?" Ich beiße mir beschämt auf den bereits spröden Lippen herum, senke den Blick auf die in dem Schoß ruhenden, zusammengefalteten Hände. „Ich habe schlecht gekämpft, die Fassung verloren, gegen ein Gebot der akrâgkutnu verstoßen, die Prüfung nur durch einen schäbigen Trick, ich möchte noch nicht einmal sagen, bestanden und Euch zudem verletzt, verunglimpft und bloßgestellt." Tränen der Schuld brennen in den Augen und als ich wieder aufblicke, perlen sie groß und rund die Wangen hinab, egal wie heiß ich mir ihr Fließen verbot. „So viel habe ich heute falsch gemacht und gerechnet habe ich mit einer berechtigten Schelte, wenn nicht sogar mit dem grausamen Verstoß von Eurer Seite ... Aber stattdessen ... Ihr seid so gütig, Herr ... Mit was habe ich Eure barmherzige Behandlung nur verdient." Nurmehr stockend unter bitterlichen Schluchzern sind die letzten Worte auszumachen. Von der Seele rede ich mir unbedacht jede Last und ich befürchte, auch dies ist eine Nachwirkung des Athelas.
Thorin beugt sich zu mir, nimmt die tränennassen Wangen in die großen Hände und legt die Stirn an meine. „Astâ, Uzfakuh, quäle dich nicht mich solchen Gedanken, bitte. Nichts Falsches hast du getan, keine Demütigung habe ich durch dich erfahren, kein bisschen beschämt fühle ich mich. Eher muss ich mich in aller Aufrichtigkeit bei dir entschuldigen und Sühne leisten. Ich verstieß gegen das wichtigste Gebot des Kodex und habe dich unbedacht und in Raserei verletzt. Keine Strafe ist angemessen dafür. Keine abbüßende Handlung könnte dies je wieder gut machen." Warm sind seine Worte. Wie der Atem, der über mein Gesicht streift. Wie die Augen, die mich anschließend betrachten, trotz des schmelzenden Eises darin. „Stolz bin ich stattdessen auf dich, denn du hast dir die Ehre verdient nicht nur im Frieden an meiner Seite zu stehen, sondern auch im Krieg an ihr zu kämpfen. Du bist nun ein vollwertiges, unantastbares Mitglied meiner Garde und ich lege mein Leben ohne Zweifel in deine Hände. Erlaube mir deshalb, auch dein Leben zu schützen, deine Wunden zu versorgen. Erlaube mir, dich zu lieben und zu ehren. Ohne jeden Vorbehalt. Jederzeit. Einzig mit der Bedingung verknüpft, dass ich all dies ebenfalls von dir erhalte." Erneut schluchze ich, dieses Mal aber vor Freude. „Das werde ich Hoheit ... ewiglich."
Thorin lächelt und haucht einen Kuss auf meine Stirn. „Viel zu viele Gedanken machst du dir immer, viel zu oft gibst du dir Schuld für Dinge, die ungerechtfertigt ist. Lebe glücklich, lebe frei. Entlasse deine Sorgen und Selbstanklagen ab und an in die Weite der schwarzen Leere, dort, wo niemand sie je wiederfinden wird." Verwundert blinzle ich über diese Anweisung. Woher weiß er nur ...?
Thorin widmet sich schließlich wieder dem Versorgen der Wunde ohne die stumme Frage zu beantworten und es scheint mir, noch behutsamer und genauer als vormals bereits behandelt er sie. Nachdem er zufrieden scheint mit dem Reinigen und Beträufeln, zupft er noch einige der wunderschön blauen Blüten und zerkaut sie zu einer Paste, die er ebenso sorgsam auf dem Schnitt verteilt. Genau und wissbegierig beobachte ich sein Handeln, wer weiß, ob ich nicht auch einmal in Bedrängnis kommen werde diese wundersame Pflanze anzuwenden. Selbst, wenn sie in meinen Händen wohl kaum eine solche Macht entwickeln wird.
Nachdem er erneut einen Verband anlegte, betrachte er mit einem gefallenen Nicken sein Werk und möchte sich erheben. Aber zurück halte ich ihn plötzlich in meiner mir selbst befremdlich erscheinenden Kühnheit mit dem Ergreifen eines Stücks seines Ärmels. Verwundert aber stillschweigend beobachtet er, wie ich mich aufrichte und nach Kurzem unschlüssig Sein das Leinentuch aus der Wasserschüssel in seinen Händen nehme. Gleichermaßen sorgfältig und achtsam wie er, erlaubt Thorin mir die noch immer allzu schändlich sichtbare Verletzung an seinem Hals zu versorgen. Auch wenn es lediglich ein sich leicht rötlich absetzender und wahrscheinlich wenig schmerzhafter Striemen unter dem Dunkel des Bartes ist, so bereitet er vor allem mir unsägliche, kaum zu beschreibende Qualen.
Thorin derweil achtet mein Handeln mit einem außergewöhnlich gefühlvollen Blick. Allerdings lediglich schwer und kribbelnd spüre ich ihn auf mir liegen. Denn gestatte ich mir nicht etwas anderem Aufmerksamkeit zu schenken, als der durch mich verursachten Wunde. Viel zu sehr fürchte ich das Brennen, das von dem Eiswasser seiner Augen ausgeht und die Flamme in meinem Inneren zu einem kaum zu bändigenden Feuermeer schüren würde. Mit einer Gewalt, deren Auflodern zitternde Angst und damit verbundene Bauchschmerzen bereitet. Ehrfürchte ich mich doch vor dieser glorreichen Heldengestalt, um mehr in ihn zu sehen, als nur das. Dennoch labe ich mich gierig an diesem Moment wie an einer zuckersüßen Speise. Genieße die Nähe zu ihm. Die Vertrautheit. Die Wärme seines Atems. Der Geruch seiner selbst. So nah ... so intensiv ... so wohlbekannt und dennoch jedes Mal auf Neue auserlesen köstlich.
Schließlich muss ich mich mit einem viel zu kurzen Augenblick zufriedengeben, denn kein allzu langes Versorgen gestattet die kleine Wunde. Als ich aufschaue, dankt er mir mit einem Lächeln und seine Augen sind genauso wärmend, wie ich sie ersann. Er öffnet die Lippen, setzt zum Sprechen an ... zögert ... bleibt stumm ... erhebt sich letztendlich ohne erneutes Zurückhalten meinerseits und verlässt beinahe flüchtend den Raum.
Annehmend nun keinen Grund mehr zu haben, um weiterhin sein Bett zu belagern, schiebe ich vorsichtig die Beine über die hohe Bettkante. Allerdings kein Schmerz, kein Brennen und kein Stechen durchzieht die Wunde, als ich die Füße auf den Boden stemme, um aufzustehen. Welch Wunderkraut. Welch Wunderhände.
„Was hast du vor?", fragt unvermittelt seine dunkle Stimme und lässt mich zusammenzuckend wieder zurück auf die Weichheit der Matratze sinken. Thorin steht in der Tür, lediglich bekleidet mit leinener Hose und ebensolchen, halbgeöffneten Hemd, das den Blick freigibt auf krause Haare und starke Muskeln und einen Raben mit zum Flug ausgebreiteten Schwingen darauf gezeichnet, in der Hand unser Buch haltend. Zu keiner Antwort bin ich fähig angesichts seines entflammenden Anblicks. Und so schüttelt er nach kurzem Abwarten den Kopf und schreitet gebieterisch auf mich zu. „Du bleibst hier." Ein Befehl ist es, verbunden mit dem auffordernden Entgegenstrecken des Buches. Keine Aussicht auf Widerspruch gestattet er.
Zögernd nehme ich das in braunes Leder eingebundene Buch an mich. Rau und vertraut fühlt es sich an, denn bereits viele Male las ich es ihm auf Verlangen vor. Von einem Zwergenkönig erzählt das Pergament, der unerbittlich und entgegen jeder Vernunft einen weißen Drachen jagt, denn er nahm ihm einst Unersetzliches. Aber während seiner Verfolgung, die ihn und seine Begleiter über Berge und durch Täler, hoch in den Himmel und tief unter die Erde führt, findet er schließlich den Sinn seines Seins. Nicht die Rache ist es, die ihn am Leben erhält, so wie er es viele viele Jahre dachte, sondern die Loyalität seiner Mannen, die ihm selbst in der dunkelsten Stunde voller Schmerz, Wut und Trauer ungebrochen und leidenschaftlich gilt.
„Mach es dir gemütlich, keine Geschichte wird gut erzählt, wenn der Vorleser angespannt ist." Erneut zucke ich erschrocken zusammen und sehe über die Schulter zurück, als seine Stimme plötzlich hinter mir ertönt. Außerhalb meiner Aufmerksamkeit scheint er das Bett umrundet und sich neben mich gelegt zu haben. Ich lächle bekümmert, denn dereinst sagte er die gleichen Wörter und erst jetzt werde ich mir gewahr, wie unnatürlich verkrampf die Muskeln im gesamten Körper spannen. Genauso wie damals, als er das erste Mal darum bat ihm etwas vorzulesen. Lange schon fühlt ich mich nicht mehr so unbehaglich in seiner Gegenwart. Ist es rechtens, gebührlich, richtig in seinem Bett zu liegen? Gewissermaßen mit ihm das Lager zu teilen.
Trotz aller Zweifel und dem Gewissen, dass laut und empört nach Luft schnappend wie eine hysterische Anstandsdame in Ausführung ihrer Pflichten tadelt, krauche ich zurück auf die dicken, weichen Felle. Im Schein der Kerze und des Kaminfeuerlichts glüht sein Gesicht. Lässt die Haut hell-golden-rötlich schimmern, die Haare dunkler wirken als sie es bereits sind und hüllen die Gestalt geheimnisvoll in Schatten-Licht. Entspannt den Kopf in die Hand eines angewinkelten Arms gestützt, scheint er darauf zu warten, dass ich endlich beginne.
Ablenkung von diesem wundervoll-funkensprühenden Anblick suchend, schlage ich deshalb das auf den Knien ruhende Buch auf und beginne zu lesen. Lange. Länger als sonst. Ein Kapitel ... zwei ... drei. Die Zeit tröpfelt, als würde sie aus klebrigem Sirup bestehen. Wohlig ist die Wärme des Kaminfeuers, die das Zimmer erfüllt. Wohlig ebenso die Wärme des Körpers neben mir. Stille einzig durchbrochen von meiner sonoren Stimme und seinem ruhigen Atem.
Als ich schließlich doch noch Ende; der Zwergenkönig und seine Mannen wurden gerade von einem alten Feind gefangen genommen; sehe ich weiteren Befehl erwartend neben mich und stutze bereits in der Bewegung. Eingeschlafen ist mein König. Tribut forderte der anstrengende Tag letztendlich, ohne dass er ihm mit trotzigem Widerstand Einhalt gebieten konnte. Und gleichwohl es nun an der Zeit wäre sein Bett und ihn zu verlassen, zögere ich. Schlimmer noch. Einem unerklärlichen Drang folgend, lege ich das Buch beiseite und den Körper neben ihn. Nur einen Moment lang, halte ich dem einwendenden Gedanken entgegen, die mahnen und daran erinnern, wer er ist und wer ich bin, wo wir uns befinden und was ich mir angesichts dessen herausnehme. Nur einen Augenblick möchte ich ihn betrachten. Diesen Anblick absoluter Entspannung, Ruhe und Verletzlichkeit genießen. Denn noch nie gestattete er einen solchen. Umso liebreizender ist er letztendlich.
Jünger erscheint er im Schlaf wie wohl jedes Geschöpf unter Ardas Sonne. Sorgenfrei solange Albträume nicht quälen. Verbannt ist jeder Ausdruck von Härte und Feudalität. Kein sonst so allgegenwärtiges Zeichen des Gehetztseins von Ämtern und Pflichten, der bedrückenden Last der schweren Verantwortung ein ganzes Volk zu regieren obwohl er sich dessen nicht vollumfänglich bereit fühlt, ist mehr zu finden. Wie wunderschöner er doch ist als einfacher Mann, entpflichtet von den allgegenwärtigen Bürden eines Regenten und Helden.
Und in der Bezauberung versunken, merke ich nicht, wie die Müdigkeit eines langen, aufreibenden und ereignisreichen Tags sich auch den meinigen Geist bemächtigt ...
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Ibsêtmajd – Athelas (Sindarin), Königskraut (Westron)
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