Bree
Am nächsten Morgen gedenken umgestürzte Bäume, vom starken Regen niedergedrückte Getreidehalme und graue Nebelschwaden, die über die getränkten Böden der zwischen Hügeln liegenden Senken schweben, an die stürmische Gewitternacht. Wie rein gewaschen ist die Luft und der Geruch nach feuchten Steinen, die von den durch die wenigen verbliebenen Wolken kaum gehinderten Strahlen der immer höher steigenden Sonne erwärmt werden, liegt in ihr. Wie liebe ich diesen. Wie verbinde ich ihn mit geschenkter Nähe und Geborgenheit und mit der Freiheit und den Abenteuern, die ich mir einst erträumte. Wie sehr unterscheidet sich die Wirklichkeit doch von den naiven Vorstellungen eines kleinen, ahnungslosen Mädchens und wie sehr peinigt doch diese Vertrautheit, ist gefährlich und unmoralisch.
Ohne weitere Hindernisse und Behelligungen von schlechtem Wetter, gelangen wir nach drei weiteren dennoch anstrengenden Tagesritten an das mächtige westliche Eichentor von Bree. Die Abenddämmerung beginnt gerade die Stadtmauer aus grauem Gestein, die streckenweise auch aus einer hohen, dornigen Hecke besteht, in gedeckten Rottönen erglühen zu lassen, als wir verfolgt von den misstrauischen Blicken der Wächter, die es gerade für die nächtliche Sperre fest verschließen und mit Eisengittern sichern wollten, hindurchreiten.
Ein Anblick eröffnet sich mir dahinter, der wenig mit den Schilderungen in historischen Büchern gemein hat. Weder goldene Straßen noch herrschaftliche, bunt-bemalte Häuser entdecke ich zu meinem allergrößten Verdruss. Stattdessen ob des Regens noch immer matschige Gassen mit von überladenen Wägen tief-gefurchte Fahrrinnen drängen sich durch dichtbeieinanderstehende Gemäuer, an denen nur durch genaueres Hinsehen die hölzernen Fachwerkbalken auszumachen sind. Denn ihre Fassaden sind bespritzt mit Schlamm, der sich mit dem bei Trockenheit aufgewirbelten Staub vermischte. Verwelkte Blumen in Kübeln hängen über den Simsen von schmutzigen Fenstern, hinter denen wenig Licht flackert, oder säumen steinerne Stufen, die zu verschlossenen Türen in dunklen Löchern hinaufführen. Dagegen teilweise weit geöffnet sind die Tore von großen Pfortenbögen und erlauben einen Blick in die dahinter liegenden Höfe. Ställe mit Kühen, die durch Bäuerinnen von ihrer abendlichen Milchlast befreit werden, Scheunen in denen gerade Strohballen eingelagert werden, spielende Kinder, zu entladene Pferdewagen, Frauen die Körbe voller Wäsche oder Lebensmittel tragen, mit Handschlag besiegelter Handel zwischen Männern. Innerhalb von wenigen Sekunden erfasse ich dies alles und die Lebhaftigkeit entschädigt für die erste Enttäuschung.
Eine wogende, undurchdringlich erscheinende Masse an Leibern hastet in verschiedenen Richtungen auf den Straßen entlang. In dunkle, zerrissene Mäntel oder schmutzige graue Leinen gekleidete Menschen, schauen, als wir an ihnen vorbeireiten, teilweise so grimmig zu uns hinauf, dass mir ganz flau im Magen wird. Unter ihnen nur vereinzelt zu entdecken, da nicht größer als Kinder aber kleiner noch als wir, Gestalten, die aber nicht mit beiden verwechselt werden dürfen. Ihre Gesichtszüge kennzeichnen sie als ausgewachsene Männer oder Frauen, diesem widersprechend tragen sie aber kindlich bunte, wildgemusterte Kleidung, auf dem ersten Blick keinerlei Bärte aber oft große, kunstvolle und auch mit Federn verzierte Hüte. Baren, behaarten Fußes flanieren sie laut schnatternd in kleinen Gruppen an uns vorbei und verschwinden in Häusern, die in den eine natürliche Festungsmauer bildenden Breeberg eingelassen wurden und größtenteils gepflegter und sauberer erscheinen als die des mit ihnen hier lebenden großen Volkes. Sogar kleine blumenbunte Gärten mit Bänken und allerlei dekorativen Firlefanz finden sich davor.
Beschwerlich ist der Weg durch die Personenmasse, aber nach einigen Wegbiegungen erreichen wir bereits das von Thorin gesuchte Gasthaus. Ein Schild mit einem auf den Hinterbeinen tänzelnden Pony wiegt sich knarzend im seichten Abendwind und lädt die früher einmal zahlreichen und nunmehr wenigen Reisenden und Händler zum Verweilen ein. Selbst durch die geschlossene Eingangstür aus Eichenholz und wenigen geöffneten Fenstern quillt lautes Stimmengewirr und allerlei schwere Gerüche bis auf die Straße. Eigenartig freudig vertraut ist mir beides, unterscheiden sie sich doch nicht von denen zwergischer Etablissements.
Ein Stallbursche, kaum älter als vielleicht zehn und damit genauso groß wie ich, eilt um uns die Pferde abzunehmen und in die Stallungen zu führen. Thorin steckt ihm einen Kupferpfennig zu und gibt Anweisung, sie gut zu versorgen. Von Khajmels Rücken gleite ich mit einem tiefen Seufzen, das mich hoffentlich erwartende warme, gemütliche und dem schmerzenden Rücken guttuende Federbett bereits spürend, als ich unvermittelt auf ein Hindernis stoße.
„Kannst du nicht aufpassen!", motzt dieses lallend und nachdem ich mich erschrocken umdrehe, bemerke ich einen rundlichen Mann dicht neben mir stehen, den ich wohl versehentlich angerempelt habe. Verklärt wirken seine dunklen, wässrigen Augen und auch die schwankende Haltung verrät, dass er wohl gerade aus dem Gasthaus kam und dort bereits ein Zuviel des weit über die Landesgrenzen hinaus berühmten Bieres genossen hatte. Die braunen Haare hängen strähnig in sein feistet, kurzbärtiges Gesicht, das von einer knolligen Nase geprägt ist und die Kleider, die er trägt, sind schmutzig aber auf den ersten Blick in keiner Weise schadhaft.
„Verzeiht bitte meine Unachtsamkeit, Herr", entschuldige ich mich sofort, „habe ich Euch wehgetan?" Er sieht mich verzweifelt das Gleichgewicht suchend an, mustert mich geradezu von oben bis unten. „Ist schon gut, Mädchen ... nichts passiert", murmelt er schließlich, legt eine große Hand auf meine Schulter, geht genüsslich von einer Karotte abbeißend weiter und verschwindet schließlich zwischen den sich drängenden Leibern. Seltsam fühlte sich die Begegnung mit ihm an und erschreckend dazu, da er mich als Zwergin erkannte, so als hätte er über unsere Welt tiefere Kenntnisse noch als man sie nur aus Erzählungen und Büchern schöpfen kann.
Schwer und nur von einem durchdringenden Knarzen begleitet lässt sich die Tür zum Schankraum öffnen. Sofort prallen wir auf draußen bereits dumpf wahrgenommenen Lärm und Geruch wie auf eine steinerne Wand. Ein Wirrwarr aus durcheinander erzählenden Stimmen, brummender Gesang von bleiernen Zungen, Rufe und Pfiffe und anzügliche Bemerkungen in Richtung der Schankmädchen. Das Ratschen von zurückgezogenen Stuhlbeinen auf dem schartigen Holzfußboden, Klirren von Geschirr und laut zerschellende Gläser. Nicht minder vielfältig das typische Aroma. Pikanter und bisweilen auch blumiger Pfeifenrauch, atemnehmende Absonderungen jedweder Art, scharfer Knoblauch und gebratenes Fleisch, Kohlsuppen, Zwiebelsud, herbes Bier, trockener Wein und süßer Met. So sehr ich dies alles verabscheute in meiner Zeit als Schankmaid, so sehr beschwört das Wiedererleben wohlige Erinnerungen herauf. Nicht alles war fürchterlich währenddessen.
Weiter durch einen länglichen Flur hinein gehen wir in den nur schummrig erhellten Raum. Die Wände sind auch hier schwarz und glänzen fettig im Licht der wenigen Kerzen von den über wohl viele Jahrzehnte aufgenommenen Gerüchen und Ausdünstungen. Einige verstaubte Bilder hängen an ihnen. Gemälde von Landschaften, Familien, einzelnen Herrschaften mit kolossalen Ausmaßen der Leibesmitte, Impressionen der Stadt zu glanzvolleren Zeiten, die bisweilen mit den Erzählungen mithalten können. Sowie Geweihe imposanter Hirsche, ausgestopfte Kleintiere auf Regalen, Eichhörnchen, Hasen und etwas, das auf den ersten Blick ebenfalls einer ist, aber Flügel und Watschelfüße einer Ente und den Kopfschmuck eines Rehs trägt, und allerlei Trödel und Krempel lässt sich bestaunen. Viele frei stehende Tische mit bequem aussehenden Stühlen laden zum Verweilen ein. Alkoven mit gepolsterten Bänken für die Gäste, die ihren Aufenthalt etwas privater halten wollen. Ein imposanter Kamin, über dessen Feuer ein Wildschwein gart, verbreitet Wärme und flackerndes Licht.
Die Theke, an die wir schließlich gelangen, ist hoch und alt, aber sauber und umgeben von sich zuprostenden Menschen und erneut diesen kleinen Wesen, von denen mir Dwalin einst erzählte. Hobbits nannte er sie, wenn ich mich recht erinnere. Sonderbar sehen sie aus, aber sie scheinen sich gut mit dem großen Volk zu verstehen, denn einträchtig trinken und schwatzen sie miteinander.
„Was kann ich für Euch tun, meine Herren Zwerge?" Eine tiefe, sonore Stimme reißt mich plötzlich aus der Erforschung meiner Umgebung. Der Wirt, ein ausladender Mann, der denen auf den Gemälden wie aus Leib und Gesicht geschnitten scheint, beugt sich über den Schanktisch um Thorin besser sehen zu können. Ein Lappen, mehr fleckig als weiß, liegt ihm über der mit gutem Tuch bekleideten Schulter. Sein ordentlich gekämmtes aber dennoch etwas zotteliges rotblondes Haar umrahmt ein gutmütig erscheinendes und lächelndes Gesicht.
„Wir benötigen Unterkunft für unsere Pferde, Speis und Trank und fünf Zimmer für drei Tage", antwortet Thorin mit hoch erhobenem Kopf, nicht nur um ihn anzusehen. Der Wirt schüttelt dennoch den seinen. „Die ersten Wünsche kann ich Euch mit Freuden erfüllen, Herr, aber eine solche Anzahl einzelner Zimmer habe ich nicht mehr für Angehörige der kleinen Völker, wenn Ihr mir den Ausdruck verzeiht. Ich kann Euch aber ein solches Zimmer für drei und eines mit einem großen Bett für eigentlich einen anbieten, wenn dies genehm ist."
Ich schlucke den sich augenblicklich hart im Hals bildenden Kloß herunter. Gerechtfertigten Anspruch wird Thorin gewiss erheben auf das Größte der Zimmer und vermutlich selbst als sein vertrautester Waffenbruder wird es ungewöhnlich sein, dass Dwalin dieses mit ihm teilt. Somit bleibe nur noch ich als mögliche Mitbewohnerin. Mit ihnen gemeinschaftlich in der Wildnis oder in geschlossenen Räumlichkeiten übernachten bereitete mir keinerlei Probleme, aber alleine mit Thorin, nicht nur in mir wird diese Vorstellung Unbehagen hervorrufen. Thorin sieht zu uns herüber, mir direkt in die Augen, bestätigt damit den Verdacht, bemerkt ohne Zweifel die Unsicherheit und nickt dann dennoch zustimmend.
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