Abschied
„Mahal, wir bitten dich um Beistand und Schutz. Behüte deine Kinder auf ihrem Weg, den du ihnen in deiner unendlichen Güte aufzeigen wirst." Die sonore, Stein und Leib zum erzittern bringende Stimme des Priesters fällt auf die Reisenden hinab, die vor ihm knien und die glaubensstarken Fürbitten entgegennehmen. Schwer lastet seine große, von vielen Lebensjahren faltige Hand auf meinen Kopf, als er jeden einzelnen mit dem Segen unseres Schöpfers bedacht. Das Gemisch aus Charodorithstaub und intensiv nach Bergamotte und Anis duftenden Ölen klebt unangenehm auf der Stirn, nachdem er mit rauem Daumen das uns geleitende Symbol darauf zeichnete und es langsam beginnt zu trocknen. (Futhark-Rune Teiwaz, entspricht der Zwergen-Rune für T bzw. der Cirth-Rune für N). Eine besondere Ehre ist es, unter seinen Schutz gestellt zu werden. Nur selten wird seine kraftvolle, alles Böse abwehrende und Stärke schenkende Macht Kriegern mit auf den Weg gegeben. Sie verdeutlicht, welch hohe Wichtigkeit unser Unterfangen für die Zukunft der Zwergenheit in sich trägt. Thráin untersagte sie sich und seinen Begleitern dereinst, hätte ihr Vorhandensein doch verraten, welch von dem offiziellen Grund seiner Reise abweichenden Plan er schmiedete.
„Erhebt Euch nun, ihr Krieger durch unseres Vaters Wohlwollen beschützt, und erwartet die Prophezeiungen der Mutter." Angst und tiefe Ehrfurcht erfüllt ob dieser Ankündigung warm und kalt zugleich meinen Körper. Eine Mythengestallt ist sie. Alt wie der Mond soll sie sein, geboren aus seinem Licht und dem Stein, der unsere erste Heimat gestaltete. Bereits sehend als Durin der Unsterbliche herrschte, der Oberste unserer Art. Die ‚Himmelsbotin des Todes' wird sie auch genannt, denn der Vala Námo, der auch den Namen Mandos trägt und die Totenhäuser in Aman hütet, kann ihrer nicht habhaft werden.
Demnach erstaunt bin ich, als eine Zwergin den Raum betritt, die anmutet kaum älter als ich zu sein. Lange rote Haare die bis auf den Boden reichen würden, wären sie nicht zu einem dicken Zopf geflochten, und ein wunderschön-ebenmäßiges Gesicht mit unerheblich durch Gold und edle Steine verzierten, aber dafür in einer reichen Kunstfertigkeit gestalteten Bart, der seinesgleichen sucht. Den ihr auch den Beinamen ‚tharkûna' gebende krumm-knochige Stab aus glattem Eichenholz fest in der rechten Hand haltend. Ein milchig-weißer Edelstein thront auf ihm und bei jedem Treffen des unteren Endes auf den felsigen Boden, glimmt ein in seinem Zentrum gefangenes, mystisches silber-blau-violettes Schwelen auf. Das Licht des ersten vollen Mondes, dass sie einst erschuf, so erzählten ehrfürchtig uralte Schriften. Eine besondere Macht ruht in dem Funkeln. Es kann Erschaffen und Zerstören, Dinge sichtbar machen, die im Verborgenen liegen und, wenn man den Legenden Glauben schenkt, Reisen ermöglichen, die jeder Vorstellungskraft entsagen. Ein kleines Mädchen begleitet unsere Mutter, führt sie zielgerichtet auf uns zu, denn einzig an ihren Augen erwirkten die vielen Jahrhunderte deutliche Spuren zu hinterlassen. Gänzlich weiß und erstarrt sind sie. Blind, aber dennoch sehend. Ängstlich zitternden Respekt einflößend in jeden, den sie dennoch damit abschätzend zu betrachten scheint.
Thorin als unser Anführer wird als erste mit ihnen bedacht. Aber im Gegensatz zu meinem, fällt seinem Herzen keine Furcht anheim. Stumm und aufrecht entgegnet er dem starrenden Blick, nachdem sie vor ihn trat. Nicht zum ersten Mal wird er sich ihm stellen müssen, denn viel zu oft für sein junges Alter kämpfe er bereits um die Zukunft seines Volkes. Tharkûna berührt mit langen, silberringbewehrten Fingern seine geharnischte Brust, murmelt mit rauer Stimme Worte, denen ich nicht nur weil ich am weitesten von ihnen entfernt stehe, kaum lauschen kann. Schließlich nickt er die Prophezeiung akzeptierend und nur einen Moment lang, einen unbedeutenden Wimpernschlag dauernd, legt sich trübe Trauer über ihn wie ein dunkler Schatten.
Die Himmelsbotin zieht weiter. Verkündet schließlich Dwalin der neben mir steht seine Prophezeiung und selbst jetzt, trotzdem sie nah und sogar das Rosenöl zu riechen ist, mit dem sie wohl Haare und Bart pflegt, vermag ich ihre Worte nicht zu hören, so, als wären sie ausschließlich für ihn bestimmt. Auch er nickt annehmend, aber keinen Kummer spüre ich in seinem Herzen aufkommen, eher Freude.
Als sie zuletzt vor mich tritt, widerspreche ich nur mit allergrößter kriegerischer Standhaftigkeit dem instinktiven Drang einen Schritt zurückzuweichen. Klein ist sie, sodass ich auf ihre Gestalt hinunterschauen muss, dennoch groß in Macht und Herrlichkeit. Spitz die Fingernägel, sie sich sogar durch den Harnisch hindurch in meine Brust zu bohren scheinen. Allerdings nicht schmerzhaft. Nicht unangenehm. Ein warmes Kribbeln beschwören sie stattdessen herauf, dass Körper sowie Geist gleichermaßen ergreift und beruhigt. Milchig-weiß fixieren mich ihre Augen. Sie bannen, faszinieren, entführen mich innerhalb eines Atemzugs in eine schatten- und lichtreiche Welt, die außerhalb des Hier und Jetzt zu existieren scheint. Und dann, plötzlich, wandeln sie sich. Werden blau wie klares Wasser. Grün wie Auen. Rot wie Mohnblumen. Schwarz wie die dunkelste Nacht.
„Dein Schicksal ist verwoben mit dem vieler. Glückseligkeit wirst du auf dieser Reise finden wie auch Leid. Freunde gewinnen und Feinde beschwören. Mut und große Leistungen wird sie dir abverlangen. Fühlst du dich bereit dafür, mein junges Kind?" Ich sehe, wie sich ihre blutroten Lippen bewegen, Worte säuseln, aber vielmehr mit dem Herzen spüre ich die betörende Melodie der Weissagung, als dass ich sie mit den Ohren höre.
„Ich will ... kann ... Euch nicht belügen ... Sorge darüber beherrscht mich... Furcht, dass ich scheitern werde an den Prüfungen, die Mahal mir auferlegen wird. Aber zeigen, darf ich diese nicht." Es ist nicht meine Stimme, die dies ausspricht, sondern das unter dem Geständnis aufgeregt schnell schlagende Herz das antwortet. Dennoch nur achtsam gewispert, schutzlos dem Schwur niemals Angst zu verspüren ausgeliefert, der droht es zu unterjochen und durch schmerzhafte, durchaus gerechtfertigte Strafen abzumahnen.
„Warum bangst du darum zu versagen?" Sie klingt wohlwollend und sanft, so, wie es eine Mutter sein sollte, und Wärme durchflutet mich erneut, als die körperlose Existenz ihrer Hand tröstend über meine Wange streicht. „Ich bin nur ein Kind, unerfahren in Kampf, Weltenwandeln und Abenteuern. Welch Leistung könnte ich schon vollbringen? Werde ich nicht eher ein Hindernis sein?" Tharkûna lächelt besänftigend, unsichtbar für andere wie ihre Offenbarungen. Es gilt nur mir und meinen Ängsten und ermutigt. „Dennoch bist du eine Kriegerin und glaube mir, noch bevor du zurückkehrst, wirst du weitere Zeichen dieses Ehrentitels tragen als nur Schwert und Mondsichel und deiner Herkunft entsprechen. Vertraue auf dich, auf deine Waffenbrüder und alles Wohlwollende, dass dir begegnen wird. Folge Licht und Gesang, und du wirst nicht scheitern."
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Unruhig sind unsere Pferde und so schwer bepackt mit zahlreichen Taschen und Beuteln und Säcken, dass es wohl ratsamer gewesen wäre, noch ein zusätzliches Lastentier mitzuführen. Khajmel beobachtet aufmerksam die geschäftige Aufbruchsstimmung. Seine Ohren sind aufgerichtet und bewegen sich aufgeregt in alle und auch schon einmal in entgegengesetzte Richtungen, um auch ja alle Eindrücke die ihm neu und interessant erscheinen, erfassen zu können. Sein Schweif ist aufgestellt und ab und an scharrt er ungeduldig über die lange Wartezeit, die ihn zum Nichtstun verbannt, mit den Hufen. Dennoch weicht er nicht von meiner Seite, obwohl ich die Zügel nur locker halte. Ein tiefes Vertrauen entwickelte sich innerhalb dieser wenigen Wochen des gemeinsamen Trainings zwischen uns. Auch ohne Zutun folgt er mir, ist ruhig und außerordentlich gehorsam, wenn ich auf ihm sitze. Womöglich, da wir beide noch jung und unerfahren sind und uns aufeinander verlassen müssen, bei dieser unseren ersten großen Reise. Mit viel Lob, Streicheleinheiten und heimlich aus Fennas Vorratskammer gestohlenen Äpfeln belohne ich ihn dafür.
Wie einst bei König Thráin versammelten sich die Bediensteten in der großen Eingangshalle, um die Aufbrechenden zu verabschieden. Jassin hat den Kopf gesenkt, damit niemand und vor allem ich ihre still-fließenden Tränen nicht sehe. Bitter begleitet durch diese war der Abschied in meinen Gemächern heute früh bereits. Es schmerzt sie zurücklassen zu müssen. Ihre strahlenden Augen, die herzlichen Umarmungen und den immer plappernden Mund werde ich wohl am schrecklichsten vermissen. Mehr noch als ein gemütliches Bett, ein prasselndes Kaminfeuer oder den Schutz einer Behausung. Fenna legt tröstend eine Hand auf ihren Rücken und Bombur reicht ihr unauffällig ein Taschentuch, mit dem sie erfolglos und zumindest mit einem kleinen dankenden Lächeln an ihn versucht die Tränen von den geröteten Wangen zu verbannen.
Auch Dís, wenn auch gefasster wirkend als dereinst, kann dennoch unendliche Sorgen und Ängste nicht verhehlen. Nur allzu deutlich sehe ich beides wie dunkle Wolken das Blau ihrer Augen überschatten, als Thorin endlich sein Pferd besteigt und sein Gefolge es ihm gleichtut. „Unser aller Wünsche und Gedanken werden euch begleiten. Möge Mahal über euch wachen, damit ihr schnell und erfolgreich zu uns zurückkehrt." Ihre Verabschiedung an uns alle und besonders an ihren Bruder gerichtet klingt beherrscht, unerschütterlich, so, wie es von ihr, als nun Regentin des Berges gefordert wird. Víli wird unter dieser gewichtigen Verantwortung an ihrer Seite stehen und sie unterstützen und wenig Sorge bereitet es Thorin, ihnen diese aufbürden zu müssen. Er erklärte mir, dass mehr Stärke und Gewalt, als sie sich bislang zutraute und von der sie weiß in ihr steckt. Eine Tochter Durins ist sie, stattlich, einflussreich, jung zwar und unerfahren, aber dafür geboren, um selbst in schweren Zeiten entschlossen und gerecht zu herrschen. Diese Gewissheit gleichwohl nach langem Zaudern annehmen musste er selber vor noch nicht allzu langer Zeit. Auch ich hege keine Zweifel daran, dass sie schnell Vertrauen und Geschick in der neuen Aufgabe fassen wird.
Thorin nickt stumm ihre Worte annehmend. Ebenso stark wirkend, dennoch sehe ich wie der Schmerz des Abschieds auch seine Augen verdunkelt. Einzig sie wird ihm an engster Familie bleiben, sollten wir seinen Vater nicht finden können und auch wenn er es nur selten zeigt und noch weniger zugibt, er liebt sie inniger als jemals jemand anderen. Bruder und Schwester, sich einzig habend in den vielen leidvollen Zeiten des Verlustschmerzes.
Meine Hand schließt sich fest um den kostbaren Stein in der Manteltasche und beschwörend streicht der Daumen über die eingeritzten Runen. Ich werde auf ihn Acht geben, Herrin, noch einmal gelobe ich ihr dies aus tiefstem Herzen mit liebevoll-tröstenden Blick, als sich der kleine Trupp in Bewegung setzt und ich an seinem Ende reitend sie erreichte. Dís hält mich daraufhin zurück. Ihre Hand warm und beinahe mütterlich sanft auf meinem Schenkel. Aber keine Worte findet sie für mich zum Abschied, so, als würde allein der Versuch sie zu formulieren die auferlegte Beherrschung gefährlich ins Wanken bringen.
„Astâ, kommst du?" Dwalin ist es, der ungeduldig auf mich wartet und das Zaudern schließlich beendet. „Nicht nur Jassin wird dich vermissen", flüstert sie schließlich, durch Stimmlosigkeit verbergen wollend, was sie damit offenbart. „Und ich werde dies ebenfalls." Dís lächelt darauf hin und es ist die Freude über die sich darin befindliche Liebe, die es vermag den schweren Kummer des Abschieds von meinem Herzen zu nehmen.
Ich reite an Dwalins Seite durch das große, stein- und stählerne Tor, dass mich endlich in diese jenseits liegende, lang ersehnte Welt entlässt. Eine Welt voller Wunder und Abenteuer, aber auch Ungewissheiten und Gefahren. Was werde ich wohl erleben? Werde ich meinen Schwur erfüllen können? Mich beweisen können als Kriegerin?
Die noch fahle, tief stehende Sonne an diesem Morgen des Äquinoktium vermag es kaum in die lange Schlucht hineinzufallen, durch die sich der dahinter liegende Weg bahnt. Als ein gutes Omen wird es gesehen, eine Reise an dem Tag beginnen zu lassen, an dem der helle, bereits warme Tag und die dunkle, noch immer kalte Nacht gleich lang dauern.
Der Frühling jedoch befreite Mittelerde bereits vor einigen Wochen aus den eisigen Klauen des Winters und eine blühende, smaragdgrüne Landschaft eröffnet sich nach dem Verlassen des engen, gewundenen Tals, dass den Eingang zum Berg beschützt, da es einen zahlenmäßig überlegenen Angriff unserer Feinde unmöglich macht. Noch wunderschöner ist dieser Anblick, als ich ihn mir jemals erträumen konnte. Schmetterlinge und Bienen umwerben die ersten wohlduftenden Blumen. Lila Veilchen, rote Tulpen, leuchtend-gelbe Narzissen inmitten eines blassblauen Teppichs aus Szillablüten. Die Kirsch- und Apfelbäume, die den sich hindurch schlängelnden Weg säumen, glänzen bereits in ihrer zart-rosa-weißen Pracht und einige der Blüten schweben getragen von dem frühlingswarmen Wind hinab. Auf den umliegenden Feldern bestellen die Bauern ungeachtet der Frühe den Boden für die Aussaat des Sommergetreides. Riesige Ochsen mit beeindruckenden Hörnern ziehen die schweren Pflüge mit Leichtigkeit durch die schwarze Erde. Einige von ihnen halten inne, als wir vorbeiziehen, verbeugen sich untertänig und eine erfolgreiche Reise wünschend. König Thráin zu finden und zurückzubringen wird ein gewichtiges und vielleicht unmögliches Unterfangen, aber viele hell-strahlende Hoffnungsfunken begleiten uns und werden den schweren Weg erleuchten.
Schließlich gelangen wir auf die Kuppe der baumbedeckten Anhöhe, die mir bislang den Blick aus dem Berg hinaus auf die weite Welt dahinter verwehrte. Der Drang sich umzuwenden kommt plötzlich auf, als sich der Weg vor uns im dunklen Gehölz verliert. „Blicke nicht zurück ... niemals", brummt da Dwalin noch immer neben mir reitend, „der Kummer über das Zuhausegebliebene wird dein Herz erneut und noch schrecklicher ergreifen und dich beharrlich während der Zeit der Abwesenheit verfolgen. An ihr zugrunde gehen wirst du vor Sehnsucht und Schmerz und der Grund deiner Reise mit dir." Erschrocken darüber, dass er mein Verlangen erkannte, sehe ich ihn an und begreife, dass wohl auch er damit zu kämpfen hat es zu unterdrücken, egal, wie oft er bereits Abschied nehmen musste. „Auch wenn dir die Aussicht Angst bereitet und dir schwärzer vorkommt als die dunkelste Nacht, blicke nur nach vorn."
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Tharkûna – Frau mit Stab
* Äquinoktium - Tagundnachtgleiche (auch Tag-und-Nacht-Gleiche) werden die beiden Tage im Jahr genannt, an denen der lichte Tag und die Nacht gleich lange dauern. Die Tagundnachtgleichen fallen auf den 19., 20. oder 21. März und den 22., 23. oder 24. September. Sie markieren den kalendarischen Anfang der astronomisch definierten Jahreszeiten Frühling und Herbst.
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