Kapitel 6
Gegenwart
Ich sah aus dem Fenster des fahrenden Autos und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. Der Verkehr war blöderweise nicht mal so schlecht, weshalb die Chance in einen Stau zu geraten ziemlich niedrig lag. Mein Plan Zeit zu schinden und meinen Aufenthalt in Aberdeen zu verkürzen, waren somit hinfällig.
Resigniert nippte ich an der Dose eines Energie Drinks und schluckte das süße Aufputschmittel runter.
Jacob trommelte mit seinen Fingerkuppen auf dem Lenkrad und summte zu der leisen Radiomusik. Ich widmete mich wieder dem Landstrich und verfolgte aufmerksam wie schnell wir an den unzähligen Bäumen vorbei fuhren. Die Texturen der Blätter vermischten sich zu einem grünen, verschwommenen, dicken Balken. Aber es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich.
„Wir müssen noch knapp eine Stunde fahren," sagte Jacob. „Wie fühlst du dich? Immer noch Kopfweh?"
Am liebsten würde ich meine Nase massieren und über meine Augen reiben, um die Müdigkeit loszuwerden. Aber ich ließ es, denn sonst würde ich mein Make-up verschmieren.
„Ist nicht mehr all zu schlimm."
Danach sagte wieder eine Weile keiner ein Wort mehr. Ich war heute nicht so gesprächig und das hatte Jacob vorhin schon bemerkt. Mir war einfach nicht nach reden zu Mute. Außerdem war ich zu beschäftigt damit, mir die schlimmsten Szenarien auszumalen was passieren könnte, sobald meine Eltern die Tür aufmachten.
Ich schloss meine Augen und knabberte an meinen frisch manikürten Fingernägeln. Schon lange war ich nicht mehr so nervös gewesen. Eine Frage ließ mich nicht los. Warum? Warum wollten meine Eltern mich bei ihnen haben? Sie hassten mich. Das hatten sie mir deutlichst zu verstehen gegeben.
Wenn du jetzt gehst, wollen wir dich hier nicht wieder sehen, hatten sie gesagt. Und bis jetzt hatte ich mich daran gehalten. Deren Meinung hatte sich offensichtlich auch nicht geändert, sonst hätten sie mich ja wohl angerufen.
Ich trank mit einem Schluck den Energie Drink aus und stopfte die leere Dose in meine Tasche.
Wenn du jetzt gehst, wollen wir dich hier nicht wieder sehen.
Die Stimme meiner Mutter hallte in meinem Ohren. Gänsehaut prickelte auf meiner Haut und ich musste kurz erschaudern. Die Erinnerungen von vor drei Jahren spielten sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.
Meine Augen brannten, so als wäre ich mit offenen Augen durch Salzwasser geschwommen. Schmerzende Schluchzer verließen meinen Hals, während ich allerlei Erinnerungen in einen Plastiksack schmiss. Ich riss Bilder von meinen Wänden direkt in die Tüte und Fotoalben gleich hinterher.
Noch nie hatte ich mich so schuldig gefühlt wie in diesem Moment, aber es war die einzig richtige Entscheidung. Ich hatte lange genug darüber nachgedacht, mir meinen Kopf zerbrochen. Und mit wurde klar, dass alles besser war, als hier zu bleiben. Sowohl für das Wohl der andern, wie auch für meins. Aberdeen tat mir nicht gut und ich tat meiner Umhebung nicht gut.
Ich nahm den Müllsack und meinen Koffer und schlich die Treppe runter. Hoffentlich hörten Mom und Dad durch den lauten Fernseher nichts. Ich wollte so unauffällig wie möglich verschwinden.
Obwohl ich es unterdrückte, liefen Tränen über meine Wange und landeten auf meinem Schal.
Vorsichtig schlüpfte ich in meine Schuhe und klemmte meine dicke Winterjacke untern Arm. Trotz meiner Achtsamkeit ging die Tür des Wohnzimmers auf und beider meiner Eltern steckten den Kopf zur Tür raus.
„Was denkst du wohin du um diese Uhrzeit gehst, auch noch mit Sack und Pack?"
Ich ließ mein Gepäck los und stellte es an die Seite des Flures. „Ausziehen. Ich werde ausziehen."
Die Augen meines Vaters wurden zu großen, runden Tennisbällen und die Augenbrauen meiner Mutter zogen sich wütend zusammen.
„Das kannst du dir abschminken. Solange das College noch nicht angefangen hat bleibst du hier. Ende der Diskussion."
„Nein, Mom. Ich werde ausziehen und, das ist das Ende der Diskussion. Ich bin volljährig und nicht mehr verpflichtet auf euch zu hören."
Seit Jahren hatte ich davon geträumt, diese Worte zu sagen und es fühlte sich besser an, als ich mir vorgestellt hatte. Ich fühlte eine gewissen Genugtuung, die durch meinen Körper strömte.
„Wärst du nur wie dein Bruder, Mary. Er liebt seine Familie und würde sie niemals verlassen."
Ich verdrehte meine Augen und schnaufte verächtlich, auch wenn ich innerlich große Schmerzen erlitt. Ständig diese Vergleiche zu Edward. Ich war nunmal nicht perfekt und folgte wie ein Schoßhündchen. Weder war ich eine strikte Einserschülerin gewesen, noch ein Vorbildteenager. Doch ich hatte auch Talente.
„Schade nur, dass ich nicht Edward bin."
Vor Wut sprudelnd nahm ich mein Zeug und meine Jacke und ging mit geradem Rücken zur Tür.
„Wenn du jetzt gehst, wollen wir dich hier nie wieder sehen."
Ich hielt inne und schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, wusste ich was zu tun war. „Dann würde ich sagen, auf nimmer wieder sehen."
Genervt kramte ich in meiner Tasche und bekam dabei komische Blicke von Jacob zugeworfen. So vollgepackt war meine Handtasche doch gar nicht. Endlich bekam ich die Schachtel zu packen.
„Kannst du bitte das Fenster runter fahren?"
„Klar," sagte er. „Willst du mir auch den Grund verraten?"
Ich öffnete die Schachtel und holte eine Zigarette raus. „Weil ich eine Rauchen will."
Noch immer angespannt, aufgrund der Erinnerungen, steckte ich die Zigarette in meinen Mund und zündete sie an. In dem Moment öffnete sich das Fenster und der Qualm entwich nach draußen. Als ich am Mundstück zog spürte ich das altbekannte Kratzen in meinem Hals und nach ein, zwei Zügen schmeckte ich diese Würze in meinem Mund. Ich hatte schon lange nicht mehr geraucht. Ich hatte es nicht nötig. Doch nun spürte ich den Stress und die Nervosität. Dann ging es nicht anders. Auf andere Wege hätte ich mich nicht beruhigen können und wäre explodiert.
Wir fuhren an einem Straßenschild vorbei und ich ließ die beinahe abgebrannte Zigarette aus dem Fenster fallen. Aberdeen.
„Wohin soll ich fahren? Zu dir nachhause oder muss ich wo anders hin?"
„Zum Aberdeen Memorial Hospital. Einfach vorne links und dann den Schildern nach."
Ich sprühte mir mein Lieblingsparfüm auf und genoss den süßlichen Geruch. Auch wenn die Anspannung durch das Nikotin nicht mehr so präsent war wie vorher, war sie trotzdem noch da. Ein paar lächerliche Minuten später konnte ich das große minimalistische Krankenhaus sehen und merkte die Übelkeit, welche in mir Aufstieg. Mir wurde kochendheiß und am liebsten würde ich sofort aussteigen und zurück nach New York sprinten. Doch stattdessen sah ich das Monstrum an Gebäude vor mir an, ohne mich zu regen. Immer noch konnte ich es nicht glauben nach all den Jahren wieder hier zu sein. Das Gefühl nach Heimat war nicht mehr dasselbe, dass es einst war. Es war verschwunden. Ich fühlte nichts als Nervosität und Gänsehaut. Erst als Jacob anhielt, nahm ich meinen Tasche auf meinen Schoß und stieg aus. Jacob öffnete den Kofferraum für mich und stellte meinen Koffer vor mich.
Er lächelte mich an. „Falls was ist, dann kannst du mich jeder Zeit anrufen. Mach ich dich nicht verrückt."
„Danke." Ich umarmte ihn und nahm all meine Kraft zusammen es ein paar Sekunden länger durchzuhalten. Schritt für Schritt.
Als Jacob an mir vorbei fuhr, wanken wir uns zu. Doch dann drehte ich mich schwerfällig zum Eingang des Krankenhauses und stand einfach da. Den Koffer hielt ich mit meiner linken Hand und mit der anderen mein Telefon. Nun war es soweit und es gab kein zurück mehr. Womöglich war mein Verhalten Kindisch sogar etwas komisch, doch mein Verschwinden aus dieser Stadt hatte einen Grund. Und dieser Boden fühlte sich an wie verdorben, so als dürfte ich den verpesteten Boden nicht mehr betreten. Damals war ich gegangen ohne ein Wort zu sagen, selbst ohne mich von meinen eigenen Bruder zu verabschieden. Jetzt war ich hier und würde ihn wieder sehen.
Erst zögernd. Dann etwas schneller machte mich auf dem Weg zu Edward.
over and out.
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