Kapitel 15
Gegenwart
„Wieso solltest du das mich fragen?"
Ich kratzte an meinem Handgelenk. Langsam bildete ich mir ein nicht mehr weit von meinem Knochen entfernt zu sein. Vielleicht sollte ich aufhören... vielleicht.
Sein Kiefer knackte unangenehm, als er seine Zähne zusammenpresste.
„Genau, deswegen." Er nickte zu meiner Verletzung. „Ich hab ehrlich gedacht, dass du damit aufgehört hast."
Ich hörte auf zu kratzen und zog meine Jacke etwas über mein Handgelenk. Aufgehört hatte ich auch für eine Weile. Aber dann wollten Stress und Komplexe wieder zu ihrer Mamá und ich fing wieder an. Mehr als zwei Monate hatte ich nicht durchgehalten. Erst kam der Tick mit meiner Schulter zurück - verstärkt. Das Verlangen mir meine Schulterblätter rauszureißen und um mich zu schlagen, trat ein paar Wochen danach auf. Naja, und was soll ich sagen: Dann kam das mit meinem Handgelenk. Ich hatte es einfach nicht mehr unter Kontrolle.
„Falsch gedacht."
Stille überfiel uns erneut und machte mich beinahe wahnsinnig. Normalerweise kam mir Stille recht gelegen, aber in diesem Moment regte sie mich einfach auf. Weshalb ich auch nicht vorhatte diese Spannung im Stillen auszusitzen. Und aus unserer Gemeinsamen Zeit wusste ich, dass Noah es auch bevorzugte Unterhaltung zu führen, anstatt nichts zu sagen.
„Was hast du mit Hartmann Woodall zu tun?", spielte ich auf die vorherige Andeutung meiner Mutter an. Es war das erste, dass mir einfiel und neugierig war ich auch. Hartmann Woodall war einer der renommiertesten Anwaltskanzleien Amerikas und jeder der dort eine Stelle fand konnte sich mehr als glücklich schätzen. Nur die besten der besten wurden dort aufgenommen und natürlich hatte ich keine Zweifel, dass Noah einer davon war. Er hatte nicht nur ein super Gedächtnis, sondern war er einer dieser Menschen, die die Welt verbessern wollten. Eine der Gründe, weshalb ich mich in ihn verliebt hatte. Und genau deswegen, war ich mir sicher, dass Noah mal ein Spitzenanwalt werden würde.
Noah linste kurz zu mir. „Ich arbeite dort seit zwei Jahren als Anwalt."
Ich runzelte verwirrt meine Stirn. „Warte. Hartmann Woodall ist in New York."
„Willst du für diese Erkenntnis jetzt einen Preis?"
„Sehr witzig. Ich meine damit, dass wir hier in Aberdeen sind und du zu einer... achtundneunzigprozentigen Wahrscheinlichkeit in New York lebst."
Ein kleines Grinsen umspielte seine Gesichtszüge, aber so schnell wie es gekommen war, war es auch wieder verschwunden. „Ich wohne in New York, aber habe in Aberdeen auch eine Wohnung. Falls du das wissen willst."
„War das so unverständlich?"
„Offensichtlich."
„Blödmann," flüsterte ich und verdrehte meine Augen. „Gott."
"Noah. Aber Gott geht auch."
Dieser Spruch hing mir mittlerweile zum Hals raus. Wer auch immer sagt, dass er diesen Spruch nicht von einem Kerl gesagt bekommen hat, lügt. Ich konnte gar nicht sagen wie oft ich diesen Satz zu Ohren bekommen hatte, so oft war es mittlerweile. Einige Male kam es sogar von Noah und jedes Mal bat ich ihn, diesen Satz nie wieder in meiner Nähe zu erwähnen. Trotzdem tat er es jedes Mal um mich aufzuziehen.
„Ich warne dich, Noah." Ich betrachtete sein Seitenprofil. „Über die Jahre hab ich Erfahrungen über den Eierzerschmetterer gesammelt."
Er runzelte seine Stirn und blickte kurz zu mir. Himmel, seine Augen... „Den Eierzerschmetterer?"
Ich nickte. „Oh ja. Glaub mir, wenn ich dir sage: Du willst ihn nicht erleben."
Er grinste, stellte seine geraden, weißen Zähne zur Schau und ich lächelte zurück. Für eine kurze Zeit sahen wir beide uns in die Augen. Seine pechschwarzen Augen trafen auf meine. Ich bildete mir ein, dass sie größer und noch dunkler wurden. Beinahe jede Nacht hatten mich diese Augen im Schlaf verfolgt und mir den Atem geraubt. Sie wieder im echten Leben zu sehen, ließ mein Herz noch schneller schlagen, als nach meinen Träumen. Die Sommersprossen an seiner Wange waren kaum sichtbar, aber sie waren alle noch an ihrem Platz. Seine Wimpern reichten beinahe bis zu seinen Augenbraunen und umspielten seine Augen. Meine Mutter meinte, dass er aussah wie Leonardo DiCaprio in seinen Zwanzigern. Doch meiner Meinung nach waren seine Wangen viel definierter und seine Nase war schmaler. Noah's Haar war kürzer und dunkelbraun. Außerdem hatte er vollere und beinahe rote Lippen und eine kleine Delle über seinem Lippenherz.
Bum. Bum. Bum.
Mein Herz schlug mir beinahe aus der Brust. Mir wurde heiß und wieder kalt und wieder heiß.
Doch eine Hupe riss mich aus meiner Trance. Ruckartig drehte ich mich zur Fensterscheibe und sah nach draußen.
Ich hatte nicht bemerkt, dass Noah an einer Ampel stehen geblieben war.
„Wieso?" flüsterte Noah plötzlich.
Ich runzelte meine Stirn. „Was meinst du?"
„Wieso bist du einfach gegangen?"
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Für kurze Zeit atmete ich nicht mehr.
„Ich... äh...", Meine Stimme zitterte. Ich brachte keinen vollständigen Satz zustande. „Es g-gab mehrere Faktoren."
Noah warf mir einen kurzen Blick zu. Seine Augen flehten stumm nach einer Antwort. All seine Gefühle, die er bis vor ein paar Minuten noch gut bedeckt hatte, kamen nun zum Vorschein. So viele Emotionen auf einmal. Nicht nur in seinen Augen konnte ich sie sehen, nein. Seine Schultern sackten zusammen, seine Mundwinkel hingen und seine Hände umklammerten das Lenkrad, als wäre es der Rettungsring auf hoher See.
„Du bist von einem Tag zum anderen einfach gegangen und hast mich ohne eine Begründung verlassen."
„Ich weis." Und wie ich das wusste.
Er schlug mit seiner Hand aufs Lenkrad, sodass ich beinahe zusammenzuckte, beinahe. „Wieso," sagte er ruhig, unheimlich ruhig. „Wieso bist du einfach verschwunden? Du schuldest mir eine Antwort, Mary."
Ich kratzte mich am Nacken. Diese Situation war mehr als unangenehm und ich wusste keine Antwort. Naja, wissen schon, aber keine meiner Gründe konnte ich offen legen. Schon gar nicht vor Noah. Ich hatte mir geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren. Es war damals alles andere als einfach gewesen, das alles hier hinter mir zu lassen und ich hatte die ganze Geheimniskrämerei nicht durchgezogen gehabt, nur um jetzt mit meinen Fehlern auszupacken.
Eine wichtige Bezugsperson meiner schweren Zeit hatte mir geraten reinen Tisch zu machen, aber ich war einfach noch nicht so weit gewesen. Besser gesagt war ich das immer noch nicht. Sie meinte, dass es mir besser gehen würde, wenn ich meinen Freunden die Wahrheit sagen würde. Ich hatte oft mit dem Gedanken gespielt diesen Rat auch in die Tat umzusetzen. Aber ich wollte nicht, dass sie mich mit anderen Augen sahen - wollte nicht, dass Noah mich mit anderen Augen sah. Dass sie mich verachteten.
Denn genau das würde passieren. Da war ich mir sicher.
„Ich konnte nicht hier bleiben. Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten."
Meine Mutter hat immer gesagt ich sei feige, und sie hatte recht. Ich tischte Noah eine Halbwahrheit auf und die Wahrheit darin, bestand aus peinlicher Feigheit. Ich gab es ungern zu, aber meine Mutter hatte recht - mit allem. Ich war feige. Ich war ein Monster. Ich hatte Noah nicht verdient gehabt und hatte auch weiterhin seine Gutmütigkeit nicht im geringsten verdient.
„Warum hast du nicht mit mir geredet? Oder mit Doktor Sullivan? Oder Edward? Du bist einfach abgehauen und hast niemanden irgendwas gesagt!" Er seufzte. „Zuerst hast du mehr Zeit mit Damon verbracht. Dann haben wir uns kaum noch gesehen und miteinander geredet. Und danach verschwindest du einfach. Wir waren uns sicher, dass du mit ihm durchgebrannt bist."
„Wie bitte?" flüsterte ich. „Denkst du wirklich ich hätte dich mit Damon betrogen?"
Noah fuhr sich durch seine Haare, was er nebenbei bemerkt, gerade noch so machen konnte. „Was hätte ich sonst denken sollen?"
„Woher soll ich das wissen?"
over and out.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro