
𝐀𝐭𝐥𝐚𝐬
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𝐩𝐞𝐭𝐫𝐢𝐜𝐡𝐨𝐫 [n.] – the smell of earth after rain.
ATLAS MOORFIELD
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Kaum einer erkannte den Sohn der wohlhabenden Moorfields, deren Blutlinie über Generationen in die Vergangenheit führte, als er nach zwei Jahren in seinem Heimatsort auftauchte. Niemand wusste, wo er sich zur Zeit seiner Abwesenheit aufhielt und wieso er nun kurz vor dem neuen Schuljahr zurück in das geerbte Anwesen seiner Mutter kehrte. Doch jeder konnte mit Sicherheit eines sagen: Atlas ist nicht mehr der, der er einmal war. Jenes Lächeln, das früher seine Lippen zierte, so süss wie Honig und stets seine Augen erreichte, dass diese wie Universen leuchteten, war nicht weiter von Existenz. In dem Moorfield, der inzwischen zu einem jungen Mann herangewachsen ist, befand sich zwar noch dieselbe Ruhe, die er bereits als Kind in sich hatte und ihm schon immer ein erwachseneres Verhalten schenkte, doch gleichzeitig schien diese Ruhe etwas hinzugewonnen zu haben. Etwas Gefährliches und Unberechenbares, das sich perfekt mit der erschaudernden Kälte, die Atlas neuerdings ausstrahlte, zusammenfügte.
– Im Morgengrauen, wenn der Nebel über der ruhigen Wasseroberfläche schwebte und die Feuchtigkeit in der Luft hing, setzte sich Atlas gerne an das Ufer des kleinen, abgelegenen Sees, um den heranbrechenden Tag zu begrüssen. Es war eine Art Ritual bei ihm, das damals in der Primarschule entstand und seither Tag für Tag zu seinem Morgen gehörte. Bevor Morgens überhaupt das Leben in die Stadt zurückkehrte, war Atlas bereits auf den Beinen und durchquerte einsam die kurze Strecke durch den kleinen Wald nahe seines Zuhauses, um an besagten See zu gelangen. Die Einsamkeit machte dabei einen Grossteil seiner Kindheit und auch jeder darauffolgenden Zeit aus. Aufgrund ihrer unzähligen Geschäfte hatten seine Eltern kaum Zeit für den jungen Moorfield, geschweige davon Zeit ihn zu lieben. So lange er denken konnte, wurde Atlas von einer Nanny nach der anderen aufgezogen, die alle nur gerade so lange blieben, dass er sich noch vage an ihre Gesichter erinnern konnte, die dazugehörigen Namen ihm aber nicht mehr einfallen wollten. Jede Nanny kündigte schlussendlich mit demselben Grund. Das Baby war zu leise, es schrie und weinte nicht wie es jedes Normale tat, später spielte das Kind nie mit den anderen, sondern kauerte sich lieber hinter einen Baum und wartete dort, bis es wieder nach Hause konnte, oder aber es lief davon, mitten in den dunklen Wald hinein. Atlas war ihnen unheimlich. Er sprach nur selten und im Verlauf der Jahre, in denen ihm schon so manche Leute begegneten, müssten diese zugeben, dass bei ihrer Begegnung auch nicht nur ein Wort Atlas' Lippen verlassen hatte. Vor diesen zwei Jahren, in denen er dann einfach spurlos verschwand, fiel sein Schweigen auch gar nicht auf – seine lächelnde Ausstrahlung genügte, dass sich die Menschen verstanden fühlten. Es kam vor, dass sobald jemand einen Zuhörer brauchte, Atlas pausenlos zugetextet wurde und wenn diese Person wieder in ihr eigentliches Leben zurückkehrte, in dem es keinen Platz für Atlas gab, fiel dieser gar nicht auf, wie gravierend ungleich der Gesprächsanteil in ihrer Begegnung eigentlich aufgeteilt gewesen war. Doch mit seiner Rückkehr schien sich um Atlas herum irgendwie alles gedreht zu haben. Betrat er nun einen Raum, wurde er sofort bemerkt, genauso auch seine harten Gesichtszüge, die aus Marmor gemeisselt sein könnten und die eisigen Augen, mit denen er sorgfältig seine Umgebung analysierte. War das Lächeln früher ein selbstverständlicher Teil, der einem von ihm gegeben wurde, so wurde nun das ehemalige Leben in dem Moorfield vermisst. Dafür erlaubte er es seiner Stimme viel mehr zu Wort zu kommen, wobei sich jedoch darüber streiten liess, wie sehr das seinen Mitmenschen gefiel. Denn nicht nur äusserte Atlas gerne unterkühlt seine Abneigung, die er für andere hegte, sondern auch die Schärfe, die dabei wie die Klinge eines Messers mitschwang, er bemühte sich gar nicht mehr um Freundlichkeit oder Charme. Es schien eher so, als hätte er den in ihm geschlummerten Zynismus endlich zum Leben erweckt. Und dieser tobte sich mit einer Unverschämtheit aus.
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