Kapitel 7: Meine Seele
»Gefallen dir meine Werke?«, erkundigt sich Melody.
Ich lasse meinen Blick noch einmal über die Statuen schweifen. Zu sagen, sie wären schön, wäre zugleich wahr wie gelogen. Sie sind atemberaubend und furchterregend. So wie echte Kunst vermutlich sein muss. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Höchstens auf Bildern alter Meisterwerke, wie der Venus von Milos oder Michelangelos David. Jedes Detail der Skulpturen ist perfekt - und genau das macht sie so grauenhaft. So lebensecht. Als wären sie in einem Moment größter persönlicher Qual oder Freude zu Stein erstarrt.
»Sie sind das Schönste, das ich je gesehen habe«, antworte ich.
Melody lächelt. Obwohl sie dieses Kompliment sicher schon oft gehört hat, wirkt sie ehrlich geschmeichelt.
»Wo hast du das gelernt?«, will ich wissen.
Melodys Lächeln verblasst, sie scheint nachzudenken. »Ich glaube, ich hatte schon immer ein Talent dafür«, antwortet sie schließlich. »Es liegt mir sozusagen im Blut.«
»Das ist toll«, sage ich und verschränke die Hände vor dem Körper, weil ich nicht weiß, was ich sonst damit machen soll. »Ich wünschte, ich hätte so viel Talent.«
»Und wenn du es hättest, was würdest du damit anfangen?«
»Ich ...« Mir wird klar, dass diese Frage gar nicht so leicht zu beantworten ist. Besonders dann nicht, wenn man sich nicht komplett lächerlich machen will. »Ich denke, ich würde gerne Musik machen«, antworte ich zögernd.
»Du würdest also gern auf der Bühne stehen?«
»Oh nein, Gott bewahre«, hauche ich, wohlwissend, dass ich schon innerlich sterbe, wenn ich nur einen Vortrag halten muss.
Melody lacht glockenhell auf.
Ihre Reaktion macht mir Mut und ich ergänze: »Aber ich mag Musik und ich finde es faszinierend, wie Musik die Stimmung beeinflussen kann.« Melody scheint mir interessiert zuzuhören und animiert mich damit zum Weitersprechen. »Jedes Lied erzeugt ein einzigartiges Muster im Gehirn und es scheint sogar möglich zu sein, anhand dieses Musters das jeweilige Musikstück zu rekonstruieren. Ist das nicht verrückt?«
Melody schmunzelt. »Ja. Ja, das ist es wohl.« Sie gleitet von ihrem Hocker, so fließend und elegant, wie ein Seidentuch über nackte Haut. »Du interessierst dich also für Gehirne?«
»Na ja, so würde ich es nicht formulieren«, erwidere ich mit einem ungelenken Schulterzucken. »Aber ich studiere Psychologie, also ...«
Melody bewegt sich langsam auf mich zu. Wegen ihres langen Kleides sieht es aus, als würde sie über dem Boden schweben.
Mir stockt der Atem und ich vergesse, was ich sagen wollte.
Doch kurz bevor Melody bei mir ankommt, wendet sie sich plötzlich ab und steuert den Durchgang zu einem Nebenraum an. Mein Blick klebt an ihrem Rückenausschnitt. Ihre Schulterblätter stehen ein Stück hervor und ich erahne den anmutigen Schwung ihrer Wirbelsäule, genau bis zu dem Punkt, an dem er in die verführerische Wölbung ihres Pos übergeht. Ihr Kleid verhüllt an dieser Stelle gerade das Nötigste und ich kann nicht verhindern, dass meine Fantasie die Lücken vervollständigt.
»Ich finde Menschen auch äußerst faszinierend«, höre ich Melody sagen.
Langsam, auf wackeligen Beinen, folge ich ihr in den angrenzenden Raum hinüber, bei dem es sich um eine seltsame Mischung aus Schlafzimmer und Atelier handelt. Rechts neben der Tür befindet sich ein großes, altmodisches Himmelbett mit einem dunkelblauen Baldachin. Das Bettzeug ist zerwühlt, zwischen den Kissen und auf dem Nachttisch stapeln sich zerfledderte Bücher. Die meisten davon schon älter und ziemlich abgegriffen. Und - das bemerke ich im Vorbeigehen - alle in unterschiedlichen Sprachen. Französisch. Italienisch. Spanisch. Sogar ein Buch mit chinesischen Schriftzeichen auf dem Titel.
»Besonders die Gefühle«, ergänzt Melody, während sie sich der Stirnseite des Raumes nähert. Dort, vor einer breiten Fensterfront, steht eine noch unfertige Skulptur. Kopf und Schultern lassen sich bereits erahnen, der Rest liegt noch in einem schneeweißen Steinklotz verborgen und scheint nur darauf zu warten, freigelegt zu werden. »Gefühle können zart und sanft sein oder stürmisch und alles-zerreißend.« Melody betrachtet das Gesicht ihrer Skulptur. Es handelt sich um einen Mann mittleren Alters mit einem zum Schrei aufgerissenen Mund. »Gefühle sind alles.« Melody schüttelt langsam den Kopf. »Und gleichzeitig nichts. Nur eine-« Ihre Hand schwebt über den Werkzeugen, die auf einem Tisch vor dem Fenster aufgereiht liegen. Martialisch aussehende Sägen, Zangen, Hobel und Messer. »-Illusion.« Sie lässt die Hand sinken, als hätte sie plötzlich die Kraft verlassen, und wendet sich wieder mir zu. »Tut mir leid. Ich bin heute Abend keine amüsante Gesellschaft.« Sie schenkt mir ein trauriges Lächeln. »Vielleicht solltest du besser wieder nach unten zu deinen Freunden gehen.«
Falls Melody mich loswerden will, erreicht sie damit das genaue Gegenteil. Ich kann es kaum ertragen, andere Menschen traurig zu sehen, und würde alles tun, damit es Melody besser geht. Oder um noch etwas mehr Zeit mit ihr zu verbringen.
»Also ... für mich musst du nicht besonders amüsant sein«, sage ich, in der Hoffnung, dass sich Melody durch meine Penetranz nicht bedrängt fühlt. »Ich bin auch einfach still und schaue dir bei der Arbeit zu, falls du nicht reden magst.«
Melodys Lächeln scheint wärmer zu werden. »Nein, ich kann nicht arbeiten, wenn mir jemand dabei zusieht.« Sie muss mir ansehen, wie enttäuscht ich bin, denn sie ergänzt: »Aber wenn du es mir erlaubst, würde ich gerne eine Skizze von dir anfertigen.«
»Eine Skizze?« Als mir klar wird, was Melody damit andeutet, schießt mir das Blut ins Gesicht. »Heißt das, du willst eine Statue von mir machen?«
»Warum nicht?«
Ich habe keine gute Antwort auf diese Frage. Und wenn ich dadurch länger bei Melody bleiben kann, ist mir sowieso alles recht. »Na schön«, sage ich unschlüssig.
Melody spitzt spöttisch die Lippen. »Da klingt aber jemand begeistert.«
»Doch, doch«, beteuere ich rasch und komme mir in meinem komischen, schwarzen Spitzenkleid noch bescheuerter vor, als auf dem Hinweg zum PHOBIA. »Ich freue mich, ich weiß nur nicht, wieso du ausgerechnet von mir eine Statue machen willst.«
Noch während ich das sage, fällt mir wieder ein, dass Melody mich bereits von Anfang an im Blick hatte. Vielleicht war es die ganze Zeit über ihr Plan, mich hierher zu locken.
»Wieso ausgerechnet von dir?« Langsam kommt Melody auf mich zu. Ihre Hüften schwingen sanft hin und her, was nicht nur den Stoff ihres Kleides in Wallung bringt. Dieses Mal biegt sie nicht vorher ab und bleibt schließlich direkt vor mir stehen. Mein Herz pocht laut und fest und ich kriege Nervenflattern. Es ist ewig her, dass ich einer schönen Frau so nahe war.
Melody mustert mich eingehend und legt dabei den Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite. Mein Hals schnürt sich zusammen. Ein Teil von mir erwartet, dass sie es sich anders überlegt und mich wegschickt. Doch schließlich streckt sie die Hand aus und fährt mit den Fingern zärtlich durch meine dünnen, karottenroten Haare. »Ist das deine natürliche Haarfarbe?«
»J-ja ...«, stammele ich.
Melodys Finger wandern zu meinem Gesicht und gleiten über meine Wange bis hinab zum Kinn. Sie fühlen sich kühl an. Und glatt. Ungewöhnlich glatt. »Sommersprossen«, murmelt sie, stupst mich mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und lächelt, als hätte sie eine bedeutsame Entdeckung gemacht.
Zum wiederholten Mal an diesem Tag habe ich keine Ahnung, wie ich reagieren soll. Ich fühle mich, als würde ich ein Spiel spielen, ohne die Regeln zu kennen. Aber vielleicht ist es genau das, was ich wollte. Abenteuer. Aufregung. Ein neues-
Bevor ich den Gedanken zu Ende bringen kann, beugt Melody sich vor und küsst mich auf den Mund. Die Berührung ihrer Lippen ist kühl und kribbelnd und sendet einen elektrischen Schlag durch meinen ganzen Körper. Auf einmal bin ich hellwach. Alle meine Sinneszellen wenden sich Melody zu und scheinen an diesem Erlebnis teilhaben zu wollen. Meine Wahrnehmung schrumpft auf die Stelle zusammen, an der unsere Körper miteinander verschmelzen. Gleichzeitig nehme ich alles überdeutlich wahr. Die Weichheit und den Nachdruck ihrer Lippen. Ihren Duft nach Jasminblüten und Sommerregen. Wie sie mit beiden Händen mein Kinn umfasst und mich noch näher zu sich heranzieht. Ich strecke mich ihr entgegen und wage es doch nicht, sie zu berühren - vielleicht aus Angst, dass sie sich als bloße Einbildung entpuppen könnte - aber ich gebe ihr, was sie will. Was ich selbst will. Wonach ich so lange gehungert habe. So lange, dass ich fast vergessen habe, wie es sich anfühlt.
Wir küssen uns innig. Zunge an Zunge. Wild und ein bisschen unbeholfen, bis wir uns schließlich schweratmend voneinander lösen. Meine Lippen brennen und mein Unterleib kribbelt wie ein Ameisenhügel. Ich bin so berauscht, dass ich kaum klar denken kann. Am liebsten würde ich Melody gleich noch einmal küssen, aber sie weicht vor mir zurück und wackelt mit dem Zeigefinger. »Zuerst ... meine Skizze«, sagt sie und grinst wie ein Kobold von Ohr zu Ohr. Dann bückt sie sich und löst die Riemchen ihrer Highheels. Dabei ergießen sich ihre langen Haare wie ein Sturzbach über ihre Schultern.
Ich beiße mir verschämt auf die Unterlippe. Melody sieht beim Bücken einfach wahnsinnig sexy aus und ich komme nicht umhin, mir vorzustellen, wie ihr Körper unter dem Kleid aussehen muss. Weiß und glatt, wie das Material, aus dem ihre Statuen geformt sind. Ihre runden, schweren Brüste werden von der eingenähten Korsage gerade noch in Form gehalten. Es fällt mir zunehmend schwer zu glauben, dass Melody wirklich existiert. Vielleicht bilde ich sie mir bloß ein.
»Also ...« Melody rafft den Rock ihres Kleides hoch, sodass ihre langen, schlanken Beine sichtbar werden, hockt sich in einen der herumstehenden Sessel und zieht die Beine eng an den Körper. »... warum setzt du dich nicht aufs Bett?«
Mir schwirrt der Kopf, aber ich gehorche. Allerdings muss ich zuvor einige herumliegende Bücher beiseite räumen. »Liest du gerne?«, will ich wissen.
»Ich gehe nicht gerne raus«, antwortet Melody ausweichend, während sie nach einem Skizzenblock und einem Kohlestift angelt.
»Dann haben wir schon was gemeinsam«, sage ich und hätte mich im nächsten Moment am liebsten selbst geohrfeigt. Zum Einen, weil Melody wirklich nicht wissen muss, dass ich ein langweiliger Stubenhocker bin. Zum Anderen, weil es klingt, als würde ich mir bereits eine gemeinsame Zukunft ausmalen. Auf keinen Fall soll Melody denken, dass ich es derart nötig hätte - auch wenn sie das anhand unseres Kusses vielleicht schon erahnt hat. »Allerdings muss ich mehrfach am Tag mit Charly raus«, schiebe ich hinterher, um die Situation irgendwie zu retten.
»Wer ist Charly?«, fragt Melody.
»Mein Hund. Er ist schon alt. Ich hab ihn übernommen, als mein Opa gestorben ist.«
»Ich hatte auch mal ein Haustier«, sagt Melody und tippt sich mit dem hinteren Ende des Kohlestifts an die Lippen.
»Wirklich? Was für eins?«
Melody scheint zu überlegen. »Einen Vogel«, antwortet sie schließlich. »Ein süßer Kerl, aber dann ist er gefressen worden und ich ... konnte es nie über mich bringen, ihn zu ersetzen.«
»Das tut mir leid«, murmele ich. » Aber ja, ich weiß auch nicht, ob ich noch einmal einen anderen Hund haben könnte.« Mit diesen Worten setze mich aufs Bett, stelle meine Handtasche neben mir ab und falte die Hände im Schoß. »So ... was soll ich machen? Soll ich irgendwie-« Mir entweicht ein nervöses Kichern. »-ängstlich gucken?«
Melody lächelt. »Nein. Das ist nicht nötig. Sei einfach so wie du bist.«
Eine Weile schweigen wir, während Melody konzentriert auf dem Skizzenblock herumkritzelt, aber dann halte ich die Stille nicht mehr aus. »Wer sind die Anderen?«
Melody sieht überrascht auf. »Welche Anderen?«
»Die anderen Statuen.«
»Oh das ...« Melody wirft der Skulptur am Fenster einen flüchtigen Blick zu.
»Hast du sie auch hier oben gemalt?«
»Nein ...« Melody schüttelt langsam den Kopf. »Nicht hier oben.« Sie seufzt. »Das ist lange her.«
Ich rutsche auf dem Bett herum. Dann fällt mir wieder ein, dass ich mich vermutlich nicht so viel bewegen sollte, solange ich für Melody Modell sitze, und ich nehme meine ursprünglich Pose wieder ein. »Vorhin ... unten ... da hast du mich gefragt, wie ich deine Seelen finden würde. Was hast du damit gemeint?«
Melody runzelt die Stirn. »Sind Seelen nicht der Teil eines Menschen, der den Tod überdauert?«
»Doch, schon«, erwidere ich mit einem unschlüssigen Schulterzucken.
»Die gesammelten Gedanken und Gefühle eines Menschen«, fährt Melody fort. »Auf Papier gebannt oder in Stein gemeißelt, für die Ewigkeit.« Sie schmunzelt. »Für dich sind es nur Statuen, aber für mich sind es meine Seelen.«
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