Kapitel 31: Morgengrauen
Melody und ich verbringen die Nacht zusammengekuschelt auf dem Sofa und erzählen uns Geschichten aus der älteren und jüngeren Vergangenheit. Natürlich sind Melodys Geschichten für mich sehr viel interessanter als meine Geschichten für sie, aber sie lässt sich nichts anmerken und stellt mir viele Fragen zu meiner Familie und meinen Freunden. Ich weiß nicht, wieso sie denkt, dass ich etwas Besonderes wäre, aber ich weiß, dass ich mir in ihrer Nähe so vorkomme. Das ist ein schönes Gefühl. Und wenigstens für eine Nacht kann ich im Austausch dafür darüber hinwegsehen, dass Melody eine Mörderin ist.
Gegen halb sieben Uhr am nächsten Morgen klopft es an meine Haustür. Es ist Dimitrij. Anscheinend haben Alfons und er die ganze Nacht vor dem Haus Wache gehalten.
»Hey«, sagt er, als ich die Tür öffne.
»Hey«, erwidere ich.
Wir sehen uns an. Dimitrijs Stirnwülste sind dick wie Weißwürste. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er mir etwas sagen will, aber er bleibt stumm.
»Gute Nacht gehabt?«, frage ich.
Dimitrijs Mundwinkel zucken. Entweder lacht er innerlich oder er denkt darüber nach, mir eine zu scheuern.
Melody kommt aus dem Wohnzimmer und tritt hinter mich. »Irgendetwas Neues?«, fragt sie besorgt.
Dadurch wird mir bewusst, dass es jetzt ernst wird. Wir hatten unsere gemeinsame Zeit, unsere Gelegenheit zum Abschied oder dazu, reinen Tisch zu machen.
Die Nacht ist vorbei und wir müssen handeln.
»Wie man's nimmt«, erwidert Dimitrij, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Er hat sich nich' gezeigt, aber ich denke, es sind noch Andere in der Gegend.«
»Noch Andere?«, haucht Melody. »Aber das ist doch noch nie vorgekommen.«
Dimitrij zuckt mit den Schultern. »Verzweifelte Zeiten, verzweifelte Maßnahmen oder so ...«
Ich mache einen Schritt zurück und lehne mich gegen die geöffnete Tür, um zwischen Dimitrij und Melody hin und her sehen zu können. »Was heißt das?«
Melody wirkt, als wäre sie zu schockiert, um meine Frage beantworten zu können. Mit einem Arm umschlingt sie ihre Mitte, mit der anderen Hand berührt sie ihr Schlüsselbein.
»Hast du sie gefragt?«, erkundigt sich Dimitrij.
Melody verzieht das Gesicht.
Dimitrijs Weißwürste bekommen einen Knick und ziehen sich zwischen seinen Augenbrauen zusammen. »Ich verstehe, dass dir das nich' gefällt, aber wir können so nich' weitermachen. Nich' mehr lange und Alfie vergisst seinen eigenen Namen.«
»Ich weiß«, sagt Melody entschieden. »Aber nein.«
Dimitrijs Weißwürste sinken an den Enden herab und er gibt ein genervtes Ächzen von sich.
»Was ist denn los?«, will ich wissen.
»Nichts«, erwidert Melody rasch, fasst mich an den Schultern und dreht mich zu sich herum, sodass ich sie ansehen muss. »Hör mir jetzt gut zu, Judith.«
Ich wappne mich für das, was jetzt kommen mag.
»Ich weiß nicht, ob du dir darüber bewusst bist, wie groß die Gefahr ist, in der du schwebst«, sagt Melody ernst. »Er könnte buchstäblich überall sein. Jeder Mensch, der dir begegnet.«
Ein kalter Schauer kriecht mir den Nacken hinauf. »Du meinst, weil er fremde Gesichter wie Masken trägt?«
Melody nickt. »Ja, so kann man es ausdrücken.« Ihr Griff um meine Schultern verstärkt sich und ihre Fingernägel krallen sich in meine Haut. »Du darfst niemandem vertrauen, der nicht erwiesenermaßen ein Mensch ist.«
»Und wie finde ich das heraus?«
»Du kannst ihm 'ne Dusche verpassen«, schlägt Dimitrij vor. »Aber dann nimm besser die Beine in die Hand.«
»Das Wasser kann sie also nur verletzen und nicht töten?«
»Es enthüllt ihre wahre Gestalt und macht sie stinksauer.«
Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Sache ist, die ich ausprobieren will.
»Deine einzige Chance, ihm zu entkommen, ist es, das Land zu verlassen und für eine Weile unterzutauchen«, sagt Melody. »Doch zunächst einmal sollten wir uns nichts anmerken lassen. Der genaue Zeitpunkt unserer Flucht muss unerwartet kommen.«
Dimitrij nickt. »Wenn er erfährt, was wir vorhaben, könnte ihn das zum Handeln zwingen.«
»Das heißt?«
»Du machst heute Morgen alles wie immer«, antwortet Melody. »Aber wenn es heute Nachmittag zu regnen anfängt, fährst du zum Flughafen und steigst in den Flieger.«
»Aber-«
Etwas berührt mich an der Schulter.
Es ist Dimitrij, der mir einen gefalteten Ausdruck hinhält. Ich nehme das Papier und klappe es auseinander. Es entpuppt sich als ein Flugticket für heute Nachmittag. Nach London.
Der Magen sackt mir in die Kniekehlen.
»Aber ... woher wusstest du ...?«
»Nimm diesen Flug«, sagt Melody an Dimitrijs Stelle und ohne auf meine Fragen einzugehen. »Ich beschwöre dich.«
»J-ja, mache ich«, stammele ich, auch wenn ich noch nicht wirklich weiß, wie ich das anstellen soll. Es gibt noch so viel zu erledigen. Was soll ich meinen Eltern sagen? Meinem Bruder? Leslie und Roman? Wird meine Flucht mich nicht verdächtig aussehen lassen? Aber das sind alles Probleme, mit denen ich mich beschäftigen kann, wenn ich Anselm entkommen bin.
»Und was machen wir bis dahin?«, fragt Dimitrij.
»Du begleitest Judith«, sagt Melody. »Unbemerkt natürlich. Und du behältst sie im Auge, bis sie sicher im Flieger sitzt. Alfons und ich bereiten derweil unsere eigene Flucht vor.«
Dimitrij gibt ein abschätziges Geräusch von sich. Offenbar hat er keine Lust, für mich den Babysitter zu spielen.
»Wohin wollt ihr reisen?«, frage ich.
Melody lächelt verkniffen. »Das kann ich dir nicht verraten. Aber es wird weit weg von Deutschland oder England sein.«
»Wenigstens etwas«, brummt Dimitrij. »Ich bin's echt leid, den Rausschmeißer zu spielen.«
»Das PHOBIA war eine gute Idee«, widerspricht Melody. »Und ich werde es vermissen. Es war ... ein Traum.«
»Es war'n Gefängnis«, entgegnet Dimitrij. »Und das weißt du.«
Melody wirkt verletzt, aber dann hat sie sich schnell wieder im Griff. »Es tut mir leid, dass ich dir das alles aufbürde, Judith.«
Ich winke reflexartig ab, auch wenn es natürlich eine große, vielleicht sogar lebensverändernde Last ist und ich Melody dafür verfluchen sollte. Doch wenn ich nach London fliege und dadurch überleben sollte, wenn danach alles wie früher ist, dann habe ich – im Gegensatz zu Andreas Anselm, Konstantin Gisser und Rebekka Fromm – keinen echten Grund, mich zu beschweren.
»Dann los«, brummt Dimitrij. »Pack dein Zeug.«
»Wenn ich mich ganz normal verhalten soll, muss ich heute Morgen zur Klinik«, wende ich ein und überlege, ob ich mein Praktikum offiziell kündigen oder mich einfach aus dem Staub machen soll. Für meine Zukunft wäre es wahrscheinlich besser, den Verantwortlichen eine Vorwarnung zu geben; andererseits glaube ich nicht, dass sie überhaupt bemerken würden, wenn ich morgen nicht mehr auf Station erscheinen würde.
Melody und Dimitrij tauschen Blicke.
»Im Krankenhaus wäre sie unter Menschen«, sagt Melody. »Da kann er sie nicht so einfach isolieren.«
»Er tötet schnell«, erwidert Dimitrij. »Ich denk', es wär' besser, wenn sie sich von anderen Menschen fernhalten würd'.«
Melody zupft an ihrem Kragen herum. »Aber wenn er den Verdacht bekommt, dass wir sie zum Fliehen überredet haben, wird ihn das zum Handeln zwingen. Ihre Chancen sind größer, wenn sie ihn überrumpelt und sich im Regen davonmacht.«
»Mag sein.« Dimitrij zuckt mit den breiten Schultern. »Aber er ist nich' hier. Also wie soll er davon erfahren?«
»Hast du nicht gesagt, es wären noch Andere in der Nähe?«
Mein Handy klingelt. Widerwillig kehre ich in meine Wohnung zurück, um danach zu suchen. Ich finde es auf der Couch. Vermutlich ist es mir gestern aus der Gesäßtasche gerutscht.
Der Anrufer ist Leslie.
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, einen Anruf von Leslie zu ignorieren. Nicht einmal, als sie mich während meiner Neuro-Klausur angerufen hat, um mir alles Gute zu wünschen, aber dabei die Zeit vergessen hatte. Heute ist das erste Mal, dass ich lieber so tun würde, als hätte ich mein Handy nicht gehört. Schon allein, um nicht entscheiden zu müssen, ob ich ihr alles erzählen oder sie anlügen soll. Normalerweise teile ich alles in meinem Leben mit Roman und Leslie und ich bin mir sicher, dass sie es sofort bemerken würden, wenn ich versuchen würde, etwas vor ihnen zu verheimlichen. Besonders Leslie liest in mir, als wäre ich ein offenes Buch – in Großschrift und mit Vorlesefunktion.
»Judiiii!«, dringt es aus meinem Handy.
»Ava? Bist du's?«, frage ich.
»Judii!«, wiederholt Ava. »Mama hat gesagt, ich soll fragen, ob du uns heute besuchen kommst!«
Ich beiße mir auf die Zunge. »Vielleicht«, antworte ich ausweichend. Das ist nicht gelogen. Vielleicht kann ich einen kurzen Zwischenstopp bei Leslie und Ava dazwischenschieben, bevor ich mich nach Großbritannien verdrücke.
»Bitte, komm uns besuchen«, jammert Ava. »Bitte, bitte. Ich muss dir zeigen, was ich gemalt hab'.«
Es raschelt am anderen Ende der Leitung und dann habe ich Leslie an der Strippe. »Naaaa?«, flötet sie in den Höhrer. Ihr gespannter Tonfall lässt mich glauben, dass ich irgendetwas vergessen habe. Rasch versichere ich mich, dass derzeit kein Geburtstag oder Jahrestag ansteht.
»Ist alles in Ordnung bei euch?«, frage ich anschließend.
»Ach, wir kommen schon zurecht«, erwidert Leslie fröhlich. Nach einer kurzen Pause ergänzt sie: »Na ja ... um ganz ehrlich zu sein, bin ich ein wenig angespannt.«
»Weshalb? Hast du mit Roman gesprochen?«
Leslie seufzt. »Ja ... er hat Urlaub genommen und will später vorbeikommen.«
»Willst du das auch?«
»Ich weiß es nicht.« Leslie klingt ernst. »Irgendwie schon und irgendwie nicht.«
»Vielleicht solltet ihr euch besser an einem öffentlichen Ort treffen. In einem Café oder so.«
»Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, du könntest vorbeikommen«, sagt Leslie zögerlich. »Ava vermisst dich und wenn du da bist, wird Roman sicher nicht ... du weißt schon.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Unter normalen Umständen hätte ich Leslie diese Angelegenheit niemals alleine durchstehen lassen. Und Roman auch nicht. Ich hätte meinen Freunden beigestanden und ihnen geholfen, die ganze Sache zu klären. Wie auch immer. Doch jetzt sieht es so aus, als müsste ich sie an diesem kritischen Punkt ihrer Beziehung im Stich lassen.
»Ich ... ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, stammele ich. »Psychologisch gesehen wäre es vielleicht besser, wenn ihr das unter vier Augen klären würdet. Also ... ich meine, an einem öffentlichen Ort, aber eben zu zweit. Ohne mich.«
Leslie seufzt langgezogen. »Meinst du wirklich?«
Die ehrliche Antwort wäre Nein gewesen, aber ich habe keine große Wahl. Wenn ich in Driebeck bleibe, werde ich über kurz oder lang auch Leslie, Roman und Ava in Gefahr bringen. Es ist für uns alle besser, wenn ich die Stadt so schnell wie möglich verlasse. Und vielleicht bekomme ich irgendwann die Gelegenheit, ihnen die Wahrheit zu erzählen. Über Melody, Anselm und die Mordserie der vergangenen Tage.
»Ja, ich denke schon.«
»Kannst du dann auf Ava aufpassen?«
»Ich ... ich weiß noch nicht.«
»Du weißt noch nicht?«
»Gerade habe ich eine Menge zu tun.« Ich bemerke die konsternierten Blicke von Melody und Dimitrij, die mich aus dem Flur beobachten. »Ich ... ich muss jetzt in die Klinik«, stottere ich. »Tut mir leid, Leslie. Ich melde mich später nochmal.«
Ich beende den Anruf und atme tief durch. Es fühlt sich schrecklich an, Leslie zu belügen. Aber was habe ich für eine Wahl?
»Alles klar?«, fragt Dimitrij misstrauisch.
»Alles gut«, erwidere ich mit einem erzwungenen Lächeln und stecke mir das Handy wieder in die Gesäßtasche. »Das war nur Leslie, eine Freundin von mir. Sie hat gerade ein paar Beziehungsprobleme.«
»Ist sie das Mädchen von den Fotos?«, erkundigt sich Melody.
Ich nicke. »Ja, genau. Die Freundin von Roman.«
»Beziehungsprobleme«, brummt Dimitrij. »Seit wann hat sie denn diese Beziehungsprobleme?«
»Ich weiß nicht«, antworte ich mit einem unschlüssigen Schulterzucken und kehre in den Flur zurück. »Noch nicht lange, glaub ich.«
Es ist mir peinlich, dass ich diese Frage nicht so genau beantworten kann. Mir ist natürlich klar, dass solche Probleme nicht plötzlich auftreten. Mit Sicherheit hat das Ganze eine Vorgeschichte. Ich begreife nicht, wie ich so blind sein konnte. Wieso habe ich nicht gesehen, dass es in der Beziehung meiner besten Freunde kriselt? Ich hätte doch etwas bemerken müssen. Oder bin ich nicht nur eine miese Psychologiestudentin, sondern auch noch eine beschissene Freundin?
Dimitrijs Stirnwülste ziehen sich erneut zusammen, bis er fast aussieht, wie eines dieser Aliens aus Star Wars. Oder war es Star Trek? Was Science-Fiction angeht, bin ich absolut hilflos. »Noch nicht lange«, wiederholt er und wirft Melody einen Ich-hab's-dir-ja-gesagt-Blick zu.
Melody fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Haben sich deine Freunde in letzter Zeit sonst irgendwie seltsam verhalten?«
»Nun ... angeblich hat Roman Leslie geschlagen. Und möglicherweise auch Ava. Aber er behauptet-«
»Sie geschlagen«, wiederholt Dimitrij, als wäre er ein Papagei, und wirft Melody erneut einen bedeutungsschweren Blick zu.
Ich merke wie mir die Hitze vom Bauch in den Kopf steigt. »Wenn du damit andeuten willst, dass er einer von ihnen sein könnte ... nein!«, sage ich scharf. »Ganz sicher nicht.«
»Wieso nicht?«, erwidert Dimitrij und verschränkt herausfordernd die Arme vor der Brust.
»Darum!«, fauche ich, was natürlich kein Argument und noch dazu reichlich kindisch ist. Aber ich ertrage nicht einmal den Gedanken, dass Roman nicht er selbst sein könnte.
»Du kannst diese Möglichkeit nich' ignorieren«, sagt Dimitrij tadelnd. »Die Augen zuzumachen und so zu tun, als wär' alles okay, ist vielleicht bequem, aber es ist auch ein sicherer Weg, um gekillt, filetiert und assimiliert zu werden.«
Gekillt, filetiert und assimiliert, hallt es durch meinen Kopf. Instinktiv mache ich genau das, was Dimitrij mir vorgeworfen hat. Ich schließe die Augen und drücke diese drei Wörter von mir weg. Weit weg. Bis ich sie nicht mehr hören, sehen oder spüren kann. Was auch immer damit gemeint ist, ich will es nicht wissen. Und ich will auch nicht darüber nachdenken müssen.
»Sei nicht so gemein zu ihr, Dimitrij«, höre ich Melody sagen. »Nicht jeder kann so leben wie wir.«
Dimitrij schnaubt abfällig. »Ich warte unten am Wagen.«
Seine schweren, stampfenden Schritte entfernen sich.
»Es tut mir leid«, sagt Melody. »Ich hoffe, deinen Freunden geht es gut.«
Langsam schlage ich die Augen wieder auf. »Es geht ihnen gut«, sage ich so überzeugt, als hätte ich noch nie von Imagines gehört und wüsste nichts von irgendwelchen Morden.
Ewig werde ich diesen Zustand nicht aufrechterhalten können, aber einen Nervenzusammenbruch kann ich mir auch nicht leisten. Also ist es meine einzige Chance.
Ich bin nicht wie Leslie, die allen schlimmen Dingen die Stirn bietet. Ich kann nicht in einer Welt voller Dunkelheit und Schmerz leben, ohne den Verstand zu verlieren. Ich bin kein Drachenritter, sondern ein Einhornstreichler – wie Leslie mal bemerkt hat, als Roman mich zum gemeinsamen Game-of-Thrones-Gucken überreden wollte. Ich brauche das Versprechen eines Happy Ends, um über den Tag zu kommen.
»Ja, ganz bestimmt«, pflichtet Melody mir bei. Ihre ungleichen Augen glänzen wie Aquamarin und Bernstein. »Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Judith.«
Meine Brust schnürt sich fest zusammen. Es gibt eine Menge Dinge, die ich Melody gerne noch sagen würde. Sie hat eine Aufregung in mein Leben gebracht, auf die ich gut verzichten gekonnt hätte. Dennoch war nicht alles daran schlecht. Genau genommen, habe ich schon sehr lange nicht mehr so intensiv gefühlt, wie in den vergangenen Tagen. So intensive Furcht und so intensive Freude. Ich habe mich von einer anderen Seite kennengelernt und für eine kurze Zeit war ich mutiger, als ich je gedacht hätte. Melody hat Recht. Ich könnte so nicht leben, aber für einen kurzen Moment war es aufregend und faszinierend.
»Ich werde dich vermissen, Melody«, sage ich leise.
Melody lächelt. »Ich dich auch, Judith.«
»Hier ...« Ich nehme die Muschel von der Anrichte und gebe sie Melody. »Nimm sie mit. Damit du mich nicht vergisst.«
Melodys Mundwinkel zucken und eine Welle des Schmerzes scheint über ihre Miene zu wandern. »Wirklich?«
»Es ist ein Geschenk. Oder eine Gabe, wenn du das bevorzugst.«
Melody senkt den Blick und dreht die Muschel in den Händen. »Danke ... Aber ich werde dich sowieso nie vergessen. Du bist ein Teil von mir, weißt du noch?«
»Äh ... ja«, antworte ich, auch wenn ich die Sache mit dem Knochenmark gerne weiterhin verdrängt hätte.
Melodys Lächeln kehrt zurück und bekommt etwas Spitzbübisches, dann wird es erneut von einer Woge der Trauer hinweggewaschen. »Ich hasse Abschiede«, nuschelt Melody. »Das ist etwas, an das ich mich nie gewöhnen werde.«
»Geht mir auch so«, murmele ich, während sich Tränen in meinen Augenwinkeln sammeln. Auch nach allem, was ich über Melody weiß, kann ich nicht so tun, als wäre sie mir egal. Sie ist ein Monster, ein wundervolles Monster, mit dem süßesten Lächeln im ganzen Monsterreich.
»Dann ...« Melody tritt zur Tür hinaus und hebt die Hand zum Abschied. »Mach's gut, mein Herz.«
»Du auch«, sage ich und erwidere ihre Geste.
Irgendwie hatte ich gedacht, dass wir uns noch einmal umarmen würden, aber Melody scheint den Abschied schnell hinter sich bringen zu wollen.
Ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn sie wirklich so alt ist, wie sie gesagt hat, dann muss sie mehr Für-immer-Abschiede durchgemacht haben, als ich mir auch nur vorstellen kann.
Melody sieht mich noch einmal an, als wollte sie sich mein Gesicht einprägen, dann wendet sie sich ab und huscht den Flur hinunter. Das Letzte, das ich von ihr sehe, ist das Wehen ihres eierschalengelben Kleides, als es durch die Tür zum Treppenhaus entschwindet. Ihr Abgang hinterlässt ein bleischweres Gefühl in meinem Magen und eine Kälte, die mich von allen Seiten zu ummanteln scheint. Eilig schließe ich die Tür und laufe zum Balkon. Von dort kann ich den vorderen Teil des Lieferwagens sehen. Doch von Melody, Dimitrij und Alfons fehlt jede Spur.
Nur wenige Sekunden später setzt sich der Wagen in Bewegung und rumpelt die Mozartstraße hinunter. Ich sehe ihm nach, bis er um eine Biegung verschwindet. Ich fühle mich leer und einsam. Ohne Melody. Ohne Charly. Ohne meine Freunde.
Langsam hebe ich den Blick.
Der Himmel über Driebeck hat eine hellrosa Farbe.
Die Engel backen, sagt meine Mutter immer dazu, und ich hoffe inständig, dass sie etwas Gutes aus dem Ofen holen werden. Vielleicht ist es naiv, aber ich glaube noch immer daran, dass für mich und meine Freunde alles gut ausgehen wird.
Und das, obwohl ich in diesem Moment bereits den ersten kalten Hauch eines aufziehenden Gewitters spüren kann. Raschelnd fährt er durch die Bäume und Hecken in den angrenzenden Gärten und verursacht mir eine Gänsehaut am ganzen Körper.
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