Kapitel 24: Vernunft
Nach dem Termin beim Arzt bin ich zum wiederholten Male etwas ruhiger. Dr. Nickel hat mich untersucht und mir versichert, dass – wenn meine Beschwerden jetzt verschwunden seien – es unwahrscheinlich sei, dass ich ein ernstes Problem hätte. Dennoch hat er noch einmal Blut abnehmen lassen, um meine Werte zu kontrollieren. Zu den Ursachen hat er mir – abseits der Sache mit der Stammzellenspende – nicht viel sagen können. Ich bin mir aber auch gar nicht sicher, ob das notwendig wäre.
Stammzellen sind im Knochenmark.
Der Mörder hat Andreas Anselm das Knochenmark entfernt.
Das ist eindeutig ein Zufall zu viel. Wenn Leslie nicht so dringende eigene Probleme hätte, könnte sie mir sicher helfen, dieses Rätsel zu lösen. Doch das ist jetzt keine Option. Zum ersten Mal, seit ich denken kann, bin ich ohne die Hilfe meiner Freunde auf mich alleine gestellt und das bedeutet: Ich muss mich zusammenreißen, darf mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen lassen und muss rationale Entscheidungen treffen.
Aus diesem Grund nutze ich die Busfahrt zur Klinik, um meine Gedanken zu sortieren. Was ist passiert?
Alles hat im PHOBIA angefangen. Jedenfalls für mich.
Die Morde haben jedoch schon früher eingesetzt. Vor zwei Wochen, als Melody in Berlin gewesen ist. Rebekka Fromm. Sie ist das erste Opfer, von dem ich weiß. Ein hübsches, blondes Mädchen mit einer Schmetterlingstätowierung.
Das Tattoo verbindet Rebekka mit Melody. Ich bin mir fast sicher, dass die zwei sich begegnet sind und Melody die Tattoo-Idee von ihr hat. Was sonst noch zwischen den beiden gelaufen ist ... wer weiß?
Reiß dich zusammen, Judith, sage ich mir. Keine Zeit für schnöde Eifersüchteleien.
Jedenfalls hatte Melody höchstwahrscheinlich die Gelegenheit, Rebekka zu töten. Melody ist jedoch nicht die Einzige, auf die das zutrifft. Immerhin hat Dimitrij sie nach Berlin begleitet und er sieht, meiner bescheidenen Meinung nach, deutlich mehr wie ein Killer aus als Melody. Macht ihn das automatisch zum Mörder? Nein, natürlich nicht, aber es ist auf jeden Fall ein Umstand, den ich im Hinterkopf behalten sollte. Zumal er gestern so urplötzlich aufgetaucht ist, dass man meinen könnte, er hätte mich verfolgt.
Aber zurück zur Chronik der Ereignisse.
Rebekka Fromm wird in Berlin ermordet. Kurz darauf informiert ein anonymer Anrufer die Polizei über eine Blutlache im PHOBIA. Die Polizei untersucht die Angelegenheit, findet aber keine Leiche und auch sonst keine Hinweise auf ein Verbrechen.
Ein paar Tage später sind Markus, Leslie, Roman und ich im PHOBIA. Ich verbringe die Nacht mit Melody, schlafe unerwartet ein und wache mit Schmerzen am Beckengürtel und anderen, unklaren Symptomen auf. Mein Hausarzt stellt später fest, dass meine Blutwerte auf eine Stammzellenspende hindeuten. Eine Stammzellenspende funktioniert normalerweise auf periphere und minimalinvasive Weise, das heißt: aus dem Blut. Nur in seltenen Fällen kommt tatsächlich eine Knochenmarkspende zum Einsatz, bei der das Knochenmark am Beckenkamm punktiert und entnommen wird. Das geschieht unter Vollnarkose, damit der Spender keine Schmerzen verspürt. Dennoch ist es nicht ungewöhnlich, im Anschluss an den Eingriff ein paar Tage lang Schmerzen an der Entnahmestelle zu empfinden. Auch Müdigkeit und Abgeschlagenheit infolge des Blut- und Flüssigkeitsverlusts werden nicht selten beobachtet.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, Melody hat mir in unserer gemeinsamen Nacht Knochenmark entnommen.
Nur ... warum hätte sie das tun sollen?
Eine Stammzellenspende kommt vor allem zum Einsatz, um Patienten mit Blutkrebs zu heilen. Ist Melody krank? Sie hat auf mich nicht krank gewirkt. Etwas blass, ja, aber nicht so krank, dass es derartige Maßnahmen erfordern würde.
Ich merke, wie ich mich verkrampfe, und zwinge mich dazu, meine hochgezogenen Schultern zu entspannen. Es ist wichtig, dass ich einen klaren Kopf behalte. Ganz egal, wie furchtbar das alles ist und wie betroffen ich persönlich davon bin. Ich muss diese Angelegenheit betrachten, als wäre sie einem anderen Menschen zugestoßen. Markus zum Beispiel.
Hätte es ihn erwischt, wenn er Melody an dem Abend im PHOBIA nachgelaufen wäre?
Das ist eine gute Frage, aber erst einmal muss ich meine Chronologie beenden.
Nach dem Vorfall im PHOBIA werde ich von Andreas Anselm verfolgt. Anselm ist mein Neuro-Dozent, ein freundlicher Mann, der für seine Familie lebt. Doch aus irgendeinem Grund hat sich seine Persönlichkeit verändert. Und das – laut Mael – schon vor einigen Tagen. Möglicherweise seit man das Blut, das sich später als sein Blut herausstellt, im PHOBIA gefunden hat.
Das bedeutet, er muss ebenfalls dort gewesen sein. Allerdings war Melody zu dem Zeitpunkt mit Dimitrij in Berlin. Hat man Anselm etwa auch Knochenmark entnommen? Ist dabei etwas schief gegangen? Stammt daher das Blut? Könnte eine fehlgeschlagene OP seine gereizte Stimmung erklären? Oder war er der Empfänger des Knochenmarks? Ist er möglicherweise krank? Das könnte erklären, wieso er so verändert gewesen ist. Nicht nur psychisch, sondern auch körperlich. Es fällt mir nicht leicht, daran zurückzudenken, aber ich erinnere mich, dass er unausgeschlafen und leichenblass ausgesehen hat.
Vielleicht ist das auch der Grund, aus dem er mich verfolgt hat? Hatte er es auf mein Knochenmark abgesehen? Wollte er mehr davon, wie ein hungriger Vampir?
Bei der Vorstellung kräuseln sich mir die Zehennägel.
Doch wieso auch immer Anselm mich bis in meine Wohnung verfolgt hat, noch am selben Tag wird seine Leiche gefunden. Ich kenne nicht seinen genauen Todeszeitpunkt, aber es war auf jeden Fall bevor ich ihn an meiner Wohnung gesehen habe. Dafür habe ich keine gute Erklärung. Jedenfalls noch nicht. Dasselbe trifft auf die Tentakeln zu, mit denen er sich irgendwie Zugang zu meiner Wohnung verschafft hat. Roman und ich finden später einen seltsamen Stab, der unter meiner Tür festgeklemmt hat, aber ich weiß nicht, ob er in Zusammenhang damit steht.
Ich beschließe, die paranormalen Umstände vorläufig zu ignorieren.
Anselm ist ermordet worden. Der Täter hat ihm das Herz, das Knochenmark und Teile des Gehirns entnommen. Wollte er auf diese Weise seine Spuren verwischen? Spuren einer Erkrankung? Ich muss dringend recherchieren, ob es eine Krankheit gibt, die Herz, Knochen und Gehirn befällt und bei der eine Stammzellenspende hilfreich wäre. Aber selbst wenn es das nicht geben sollte, könnte es sich um eine neuartige, noch unbekannte Erkrankung handeln. Dann würde sich die Frage stellen, ob ich damit infiziert bin, aber daran will ich gar nicht denken.
Nachdem ich auf dem Kommissariat meinen Bericht abgegeben habe, treffe ich Melody, Dimitrij und Alfons. Melody zeigt in dieser Nacht eine deutlich ausgeprägte Wasserphobie und rät mir, eine Wasserpistole und Flohhalsbänder zu kaufen.
Ich weiß aus meinem Studium, dass es Erkrankungen gibt, bei denen eine so genannte Hydrophobie auftritt – zum Beispiel bei der Tollwut, die hauptsächlich das Gehirn und das Rückenmark befällt – aber da geht es, soweit ich weiß, eher um das Trinken von Wasser und weniger darum, im Regen zu stehen.
Könnte es da trotzdem einen Zusammenhang geben? Wenn ja, dann weiß ich nicht, wie der aussehen sollte.
Außerdem hat Melody einen Imago erwähnt. Wortwörtlich hat sie gesagt: Wenn dieser Anselm ein Imago ist, müssen wir das wieder in Ordnung bringen.
Meint sie damit, dass Anselm ein Schauspieler ist, der eine römische Totenmaske trägt? Oder denkt sie, dass sich jemand als Anselm ausgibt? Und was will sie wieder in Ordnung bringen? Wie könnten Flohhalsbänder und Wasserpistolen dabei helfen?
Und apropos Imago ... was hat es mit Melodys Kunstwerken auf sich? Zeigen sie echte Menschen? Echte Menschen, denen sie Knochenmark entnommen hat? Werde ich jetzt auch mein Abbild darunter finden? Das von Anselm? Von Rebekka Fromm?
Ich löse den Blick vom Zettel auf meinem Schoß, um kurz durchzuatmen. Der Bus holpert gerade den Drieberg hinauf. Hier stehen zahlreiche hübsche Jugendstilvillen, die das Bombardement der Alliierten unversehrt überstanden haben.
Außer mir sind nur noch wenige andere Fahrgäste im Bus. Zwei typische Jugendliche mit schicken Sportschuhen und modernen Fußballerfrisuren, die sich in der Vierersitzecke fläzen und auf ihren Handys herumtippen. Eine Frau mit einem Morticia-Addams-Look, die zwei schwere Einkaufstaschen auf ihren Knien balanciert. Ein junger Mann im Anzug, der gedankenverloren aus dem Fenster starrt. Und eine ältere, stark geschminkte Dame mit viel Goldschmuck an Fingern und Ohrläppchen, die auf dem Notsitz Platz genommen hat und mich über ihren krumme Nasenrücken hinweg herablassend mustert. Vielleicht entspreche ich nicht ihrem Bild einer sittsamen jungen Frau. Dabei bin ich eigentlich ganz großmutterfreundlich gekleidet. Ich trage knöchellange Jeans, eine Bluse mit Streublumenmuster und flache Sandalen. Im Gegensatz zu Leslie, die einen sportlichen Stil hat, bin ich eher der mädchenhafte Typ. Wenn ich kann, trage ich weite, wallende Röcke und lange Kleider, aber heute habe ich mir bloß das Erstbeste übergeworfen, das ich in meinem Koffer gefunden habe.
Zurück zum Thema. Nach meinem kurzen Intermezzo mit Melody, bin ich mit Roman, Leslie und Ava zu meiner Wohnung gefahren. Ich weiß nicht, was genau dort passiert ist, aber ich hatte das Gefühl, Anselm wäre in der Nähe gewesen. Und dann ist auch noch Charly verschwunden. Wo könnte er bloß hingelaufen sein? Oder ist ihm etwas zugestoßen? Ich will gar nicht daran denken. Meine Mutter wird mich kreuzigen.
Aber das ist noch nicht alles. Zwei Tage nach dem Vorfall begleite ich Ava zum Spielplatz und finde die Leiche von Kornelius Gisser, Anselms Doktoranden. Er ist genauso zugerichtet worden wie Anselm selbst. Und da war noch etwas. Irgendeine Kreatur ... Vor meinem inneren Auge kann ich sie erneut vor mir sehen. Ihre zahlreichen, spindeldürren Glieder. Wie ein Insekt, das sich aus seiner Puppe befreit. Der Ekel über den Anblick lässt mich aus meiner Konzentration schrecken. Blinzelnd komme ich zu mir.
Die alte Dame mustert mich noch immer. Ich wünschte, sie würde das nicht machen. Aber ich kann mich auch nur schwer darüber beschweren.
Tief durchatmend wende ich mich wieder meinen Notizen zu. Dimitrij hat mich gerettet. Aber mit Sicherheit war er nicht zufällig in der Gegend. Hat er mich beobachtet? Hat Melody ihn damit beauftragt? Oder hat er auf eigene Faust gehandelt? Es heißt ja, der Täter würde häufig zum Tatort zurückkehren. Steckt Dimitrij hinter den Morden an Andreas Anselm, Kornelius Gisser und Rebekka Fromm? Mit Sicherheit hätte er die Gelegenheit dazu gehabt und ich will ihm auch das Können nicht absprechen. Er hat eine Statur wie ein Schwergewichtsboxer und eine Visage wie ein tschetschenischer Mafiosi. Bestimmt hat er schon dem einen oder anderen Kunden eine blutige Nase verpasst.
Aber traue ich ihm zu, dass er meinen Beckenkamm punktiert und Knochenmark entnommen hat? Ich kenne mich damit nicht aus, doch ich denke, dafür braucht es Feingefühl. Und wenn er dahintersteckt, wieso hat er mich dann noch nicht getötet? Auf was wartet er? Hat er mich irgendwie unter Drogen gesetzt oder testet er ein neuartiges Medikament? Ich kann kaum glauben, was ich da denke. Das klingt alles absolut abwegig. Doch anders kann ich mir nicht erklären, was ich gesehen habe.
Und das ist noch nicht alles. Seit dem Abend im PHOBIA verhalten sich alle um mich herum total seltsam. Roman und Leslie streiten immer mehr. Ava hackt mit einer Glasscherbe auf ihrer Puppe herum. Angeblich hat Roman Leslie sogar verprügelt. WAS IST HIER LOS, schreibe ich in Großbuchstaben auf meinen Zettel. Dann begegnet mein Blick dem der älteren Dame.
Etwas stimmt nicht mit ihr, wird mir bewusst.
Ihre Haut ist weich und labberig, wie das bei Menschen in ihrem Alter vermutlich normal ist, aber sie scheint buchstäblich ihr Gesicht zu verlieren. Ihre Züge verzerren sich, als bestünde ihre Haut aus flüssigem Wachs. Dabei bilden sich schwarze, klaffende Krater um ihre Augen und Nasenlöcher. Darunter lassen die Umrisse ihres Schädels erahnen. Ihre Mundwinkel verrutschen, das Kinn tropft ihr bis auf die Brust. Sie sieht aus wie eine groteske Karikatur einer alten Dame. Der Anblick ist so bizarr, dass ich im ersten Moment nicht einmal Furcht empfinde.
Der Schrecken kommt erst mit Verspätung. Plötzlich ist er da, rauscht meine Wirbelsäule hinauf und lässt mich panisch aufspringen. Im selben Moment hält der Bus. Ich werde durch das abrupte Bremsen nach vorne geworfen und muss mich an einen der Haltegriffe festklammern, um nicht zu stürzen. Mit rasendem Herzen zwänge ich mich aus meiner Sitzecke, packe meine Tasche und meinen Koffer und taumele zur Tür.
Ich falle förmlich auf den Gehweg, rappele mich wieder auf und weiche vor der geöffneten Tür zurück. Die alte Frau sieht mir hinterher. Ihr Gesicht scheint wieder normal zu sein, aber auf ihren Lippen liegt ein spöttisches Lächeln, als wüsste sie genau, was ich gesehen habe. Die Federung schnauft, der Bus richtet sich wieder auf, die Türen schließen sich. Ich bleibe schweratmend am Straßenrand zurück und warte, bis der Bus um die nächste Straßenecke verschwunden ist. Mein Herz hämmert wie ein Maschinengewehr. Meine Knie sind weich und ich muss mich an meinem Koffer festhalten, um nicht zusammenzusacken.
Was ist da gerade passiert? Habe ich Halluzinationen? Fühlt es sich so an, wenn man langsam durchdreht?
Mein Zwerchfell zwickt und ein sarkastisches Lachen quält sich durch meine Eingeweide. Wie gut, dass ich gleich in der Klinik bin. Da kann ich mich direkt einweisen lassen.
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