Kapitel 2: Am Anfang
»Und dann, später bei der Backgruppe, hat sie sich eines der Messer genommen und-«
Ich breche ab und lege den Kopf an Romans Schulter. Eigentlich bin ich nicht besonders kuschelbedürftig, aber bei Roman und Leslie ist es was anderes. Wir sind beinahe eine Familie. Als Kind habe ich so oft bei Roman übernachtet, dass seine Eltern einen Platz am Tisch und ein Fach im Badezimmerschrank für mich reserviert hatten.
Leslie sackt gegen mich, sodass wir beide an Roman lehnen, der uns stirnrunzelnd mustert, als würde er sich fragen, womit er das verdient hat. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er es genießt, der Hahn im Korb zu sein.
»Wieso habt ihr überhaupt Messer?«, murmelt Leslie. »Sollten die in der Klapse nicht verboten sein?«
»Wir sind kein Gefängnis«, antworte ich. »Und auch keine geschlossene Station. Außerdem-« Ich fahre mir mit der Zunge über die geschwollenen Lippen. »-war die Patientin derzeit nicht selbstmordgefährdet. Hat jedenfalls Dr. Lorentz gesagt.« Ich schnappe nach Luft. Der Schmerz windet sich wie eine Fessel um meinen Brustkorb. »Es ist alles meine Schuld.«
»Wieso? Sie lebt ja noch«, meint Leslie mit der geballten Empathie einer angehenden Staatsanwältin.
»Ja«, erwidere ich. »Die Küchenmesser sind zum Glück ziemlich stumpf. Aber das hat ihre Therapie sicher um Monate zurückgeworfen. Und ob sie den Entzug durchhalten wird ...« Ich zucke hilflos mit den Schultern.
Fünf Semester Psychologie haben mich auf diese Situation nicht vorbereitet. Klar, es heißt: Bei Patientenkontakt keine Ohrringe, keine Ketten, keine privaten Informationen. Aber wie man mit seinen Gefühlen umgehen soll, das kommt wahrscheinlich erst im Masterstudium dran. Nun ja, dann werde ich wohl nicht mehr dort sein.
»Du solltest solche Entscheidungen nicht über's Knie brechen«, sagt Roman.
Ich nicke, während mir langsam die Lider zufallen. Nach dem ganzen Geheule fühle ich mich matt und ausgelaugt. Meine Augen brennen und mein Kopf scheint zwei Zentner zu wiegen. Durch das halb geöffnete Fenster kann ich das Zirpen der Insekten vernehmen, das Rauschen des Verkehrs, das Lachen von Kindern. Wahrscheinlich die Zwillinge, die im Haus nebenan wohnen. Ihre Eltern haben ihnen ein Planschbecken zum Geburtstag geschenkt und jetzt können die beiden nicht genug davon bekommen. Wenn ich aus dem Fenster blicken würde, könnte ich sie vermutlich mit Taucherbrillen auf dem Kopf und knallorangefarbenen Schwimmflügeln an den Armen durch den Garten hüpfen sehen.
»Schlaf erst mal eine Nacht drüber«, fährt Roman fort. »Fehler macht schließlich jeder mal.« Er seufzt langgezogen. »Am Anfang meiner Ausbildung hab ich auch gedacht, dass ich es nicht packen würde.«
»Wieso?«, will ich wissen. Es ist mir neu, dass Super-Roman Fehler zugibt.
Neben mir fängt Leslie an zu kichern.
Roman stöhnt und reibt sich die Nasenwurzel. »Sechs Uhr 50 Dienstbeginn, kannst du dir das vorstellen?«
Leslie bricht in höhnisches Gelächter aus. »Blödsinn. Erzähl ihr doch einfach, wie du dich blamiert hast.«
Ich schlage die Augen wieder auf. Ein Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. Ich weiß nicht, ob ich schon bereit dafür bin. Ein Teil von mir will traurig sein und sich in Selbstmitleid suhlen. Vielleicht weil ich Angst habe. Nicht vor der Klinik. Sondern davor, eine Entscheidung zu treffen. Oder einzusehen, dass ich längst eine Entscheidung getroffen habe.
»Na fein.« Roman fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann beugt er sich vor und greift nach seinem Bier.
Charly hat sich unter dem Sofatisch zusammengerollt und hebt den Kopf. Als er erkennt, dass die Bewegung nicht ihm gilt, lässt er die graue Schnauze wieder auf seine Pfoten sinken.
»Also, beim Training stellen sie manchmal bestimmte Szenarien nach. Kontrollen oder Festnahmen zum Beispiel. Und einmal, da haben sie eine simulierte Grenzkontrolle durchgeführt. Als ich an der Reihe bin, dreht der Typ auf einmal völlig durch, schreit, pöbelt rum und beschimpft uns. Dann fährt er plötzlich herum und will abhauen.« Roman nippt an seinem Bier. »Ich kriege ihn nicht mehr zu fassen, also mache ich, was wohl jeder an meiner Stelle gemacht hätte.«
Leslie kringelt sich vor Lachen. »Du hast ihn getackelt wie Lawrence Taylor den legendären Joe Theismann.«
Leider kenne ich mich mit American Football nicht aus, aber ich kann mir vorstellen, dass es den armen Joe ganz schön erwischt haben muss.
»Ich musste ihn ja aufhalten«, verteidigt sich Roman.
»Aber war das nicht nur eine Übung?«, wende ich ein.
Roman weicht meinem Blick aus und nuschelt: »Ja, schon. Hat sich eben ziemlich echt angefühlt.« Er nimmt einen Schluck von seinem Bier und betrachtet meine bunte Tiffany-Deckenlampe, den einzigen Einrichtungsgegenstand, der nicht von IKEA ist.
Leslie setzt sich auf und angelt nach dem Eis. »Aber Roman hat recht. Du solltest dich deswegen nicht so fertig machen.«
»Es ist ja nicht nur das«, murre ich. »Ich hab schon seit einer Weile keine Lust mehr auf das Studium. Statistik, Biologie, EDV ...« Ich zucke mit den Schultern. »Das ist alles nichts für mich.«
»Du hast es doch schon fast geschafft.«
»Ja, aber ich weiß nicht mehr, ob ich das wirklich will. Also, Therapeutin sein.« Ich kann meine Verzweiflung kaum verbergen. Meine Stimme klingt ganz kratzig. »Ihr habt ja keine Ahnung, wie anstrengend es mit den Patienten ist. Ich meine nicht die Arbeit auf der Station, sondern einfach-« Ich suche nach den richtigen Worten, denn ich will nicht wie ein Arschloch klingen. »Zuzusehen, wie schlecht es diesen Menschen geht. Wie sie sich gehen lassen. Und es ist-« Wieder kämpfe ich mit meiner anerzogenen Höflichkeit. »Einfach ekelhaft.«
Die ausdruckslosen Gesichter meiner Freunde nötigen mich zu einer Erklärung. »Neulich war ich auf der Geschlossenen und da war ein Mann, der hat seine eigene Scheiße gegessen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es da gestunken hat. Ich hätte mich beinahe übergeben.« Schon bei der Erinnerung daran verkrampfe ich mich. »Und überall ist diese Hoffnungslosigkeit. Nicht nur bei den Patienten, sondern auch bei den Pflegern und den Ärzten ...«
Ich verstumme und ringe mit meinen Gefühlen. Plötzlich komme ich mir wie eine Versagerin vor. Wie jemand, der einfach aufgibt, in einer Welt, in der es immer nur darum zu gehen scheint, dass man wenigstens gekämpft hat. Als könnte allein der Wille zum Kampf jede Niederlage rechtfertigen.
»Ich will einfach nicht auch so werden«, sage ich mit einem tiefen, gluckernden Seufzer.
»Ach, Bambilein, das wirst du nicht«, beruhigt mich Leslie und hält mir den Löffel mit dem Eis hin. »Niemand könnte dir dein Mitgefühl austreiben.«
»Und Leslie muss es wissen. Sie probiert es immerhin schon seit Jahren«, bemerkt Roman.
Seine Freundin schnappt sich eines der Sofakissen und schleudert es nach ihm. Er blockt es mit dem Ellenbogen ab, sodass es hinter die Couch fällt.
Sofort springt Charly auf und wedelt mit dem Stummelschwanz, als hätten wir ihn zum Spielen aufgefordert.
»Du Blödmann«, grollt Leslie. »Möge ein Blitz dein Klo treffen!«
»Mein Klo ist dein Klo, Schätzchen«, erwidert Roman, stellt sein Bier an einem sicheren Ort ab und angelt nach dem Sofakissen.
Leslie wirft sich über die Couch, um das zweite Kissen zu erreichen. Charly spürt, dass eine Schlacht unmittelbar bevorsteht und springt aufgeregt kläffend um das Sofa herum.
Ich nutze die Gelegenheit und mache mich über das Eis her, auch wenn ich eigentlich keinen Hunger habe.
»Möge der Duschvorhang an deinem Rücken kleben bleiben«, ächzt Leslie und schleudert ihr Kissen nach Roman.
Er fängt es geschickt mit der Hand, sodass er jetzt zwei Kissen hat. Doch gerade als er zum Konter ansetzt, ertönt Gangsta's Paradise von Coolio. Der Klingelton gehört zu Markus, einem ehemaligen Klassenkameraden und Romans bestem Kumpel.
Leslie gibt einen missbilligenden Laut von sich. Sie mag Markus nicht. Ich muss zugeben, dass ich ihre Abneigung nachvollziehen kann. Markus ist ein gewöhnungsbedürftiger Kerl, laut und ein bisschen prollig. Zu Schulzeiten hat er immer die Mädchen geärgert, hat ihnen die Haare angekokelt oder ihnen tote Insekten ins Mäppchen gelegt. Heute ist er Polizist und sorgt in Driebeck für Recht und Ordnung.
»Sorry«, entschuldigt sich Roman, legt die Kissen weg und zückt sein Handy aus der Gesäßtasche. Kaum hat er den Anruf angenommen, dringt rhythmisch stampfender Lärm aus dem Lautsprecher. Roman verzieht das Gesicht, steht auf und geht auf den Balkon hinaus. Charly sieht ihm traurig nach. Er hatte sich wohl schon auf eine Kissenschlacht gefreut.
»Ich würde mir das wirklich gut überlegen«, meint Leslie unvermittelt. Als sie meine bedrückte Miene bemerkt, ergänzt sie: »In einem Semester hast du deinen Bachelor. Selbst wenn du dann nicht in diesem Bereich arbeiten willst, ist das besser als gar nichts.«
Sie hat recht. Aber ich will nicht vernünftig sein. Mein ganzes Leben bin ich immer vernünftig gewesen. Und jetzt will ich etwas Neues. Ich will das Ungewisse, das Abenteuer, das Kribbeln in der Magengrube. Ein Leben, in dem ich nicht bis ans Ende meiner Tage in einer Praxis hocke und mir die Probleme anderer Leute anhöre. Natürlich will ich Menschen helfen, aber nicht auf diese Weise.
»Wie auch immer«, seufze ich und stelle den Eisbecher zurück auf den Tisch. »Morgen gehe ich jedenfalls nicht in die Klinik.«
»Hey.« Roman drückt die Balkontür auf und streckt den Kopf herein. Er hat noch immer das Handy am Ohr. »Markus fragt, ob wir Lust haben, auszugehen.«
Leslie zieht eine Schnute.
Normalerweise bin ich diejenige, die lieber daheim bleibt und Mario Kart spielt, aber heute ist der erste Tag meines neuen Lebens und ich will ihn nicht genauso verbringen, wie die meisten Tage meines alten Lebens. »Warum nicht?«
Roman zieht überrascht die Augenbrauen hoch. Er und Leslie tauschen Blicke.
Um meiner spontanen Reaktion Nachdruck zu verleihen, rutsche ich von der Couch und streiche mir die verklebten Haare aus dem Gesicht. »Ich zieh mich nur um, dann können wir los.«
»Wohin sollen wir denn gehen?«, fragt Leslie.
Roman gibt die Frage an Markus weiter. Im Hintergrund sind Sirenen zu hören. Kein Wunder, denn ich wohne nicht weit vom Krankenhaus entfernt. »Ähm«, macht Roman. »Markus will nachher ins PHOBIA.«
Der Name lässt nicht gerade an eine gemütliche, kleine Kneipe denken, aber ich will mich nicht beschweren. Roman und Leslie sollen merken, dass es mir ernst ist. Die alte Judith, deren einziges Ziel es war, andere Menschen glücklich zu machen, ist Geschichte. Na ja, nicht ganz, aber ich will in Zukunft etwas mehr an mich selbst denken und mich nicht mehr so viel darum kümmern, was andere Menschen von mir halten. Gut, vielleicht werde ich auf diese Weise nicht die neue Mutter Theresa, aber das kann ich verschmerzen.
Während ich ins Schlafzimmer hinübergehe, um mir was Passendes zum Anziehen zu suchen, spielt ein Lächeln um meine Mundwinkel. Ja, ich bin am Ende. Aber gleichzeitig auch am Anfang.
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