Kapitel 1: Am Ende
Gequält rolle ich mich auf dem Sofa herum. Dabei klemme ich meine karottenroten Haare ein und werfe aus Versehen Charlys Lieblingskissen auf den Boden. Unruhig suche ich mir eine neue Position und ignoriere die vorwurfsvollen Blicke meines kleinen, schon leicht ergrauten Straßenkötermischlings.
Ich bin am Ende, sowas von am Ende, hallt es durch meinen Kopf. Es ist nicht schön, das einzusehen. Aber besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, nicht wahr?
Bei dem Gedanken kullern mir erneut die Tränen über die Wangen. Auf keinen Fall werde ich morgen wieder in die Klinik gehen. Ich werde mein Praktikum abbrechen. Und damit mein Studium schmeißen. Es ist vorbei. Ich kann und will nicht mehr.
Charly ist nicht der sensibelste Köter auf dem Planeten, aber auch er scheint inzwischen begriffen zu haben, dass mit seinem Frauchen etwas nicht stimmt. Jedenfalls klettert er auf die Couch und kitzelt mich mit seiner feuchten Nase am Nacken. Ich quietsche und versuche, ihn abzuschütteln, doch er lässt nicht locker. Schwanzwedelnd streckt er sich nach meinem Gesicht. Dabei schnauft und keucht er wie ein Asthmatiker nach einem Treppensprint.
Ich will mich gerade aufsetzen, um ihn abzuwehren, da klingelt es an der Tür. Sofort werde ich uninteressant. Charly gibt erst ein Röcheln, dann ein heiseres Gebell von sich und hastet in den Flur, so schwungvoll, dass ich hören kann, wie er über die Fliesen schlittert und gegen die Heizung knallt.
Stöhnend rappele ich mich auf und folge ihm. Jedoch viel langsamer und deutlich weniger enthusiastisch. Während ich in den Flur schlurfe, rücke ich meinen langen Plisseerock zurecht, der bei der Ergotherapie ein paar unschöne Acrylfarbe-Flecken abgekriegt hat. Auf Höhe der Garderobe werfe ich einen kurzen Blick in den Spiegel und erschrecke, als ich mein verheultes Gesicht sehe. Meine Augen sind verquollen, meine Wangen gerötet, meine Lippen aufgedunsen.
Ich streiche mir ein paar feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht und wische mir mit dem Ärmel über die Augen, um die gröbsten Tränenspuren zu beseitigen. Gerade als ich denke, dass ich es wohl schaffen werde, ein paar Minuten nicht zu weinen, sprudelt mir schon wieder das Wasser aus den Augen.
Gleichzeitig kann ich hören, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wird. Die Tür öffnet sich und zwei besorgte Gesichter spähen über die Türschwelle. Roman und Leslie.
Roman Kovács ist schon seit der Grundschule mein bester Freund. Wir sind sogar mal kurz zusammen gewesen. Damals dachte ich noch, dass ich auf Jungs stehen würde. Er ist groß, dunkelhaarig und wirklich hübsch. Seit der Schulzeit hat er außerdem an Muskelmasse zugelegt, was ihn nur noch attraktiver macht. Jedenfalls wenn man darauf steht. Leslie Jensen ist seine Freundin. Sie ist zwar nicht mein Typ, aber echt cool und ebenfalls sehr gutaussehend. Die beiden geben ein wirklich tolles Paar ab. Seit drei Jahren haben sie außerdem eine gemeinsame Tochter, die kleine Ava. Ein absolut zuckersüßer Sonnenschein.
»Judith?«, fragt Roman vorsichtig. Er kann nicht gut mit weinenden Frauen umgehen. Da wird der angehende Bundespolizist wieder zum hilflosen Vorschüler, dem der Apfelsaft im Rucksack ausgelaufen ist und der sich nicht anders zu helfen weiß, als nach seiner Mama zu rufen.
Zum Glück ist Leslie wesentlich resoluter. Sie schiebt ihren Freund über die Schwelle und schließt die Tür hinter sich. Dann breitet sie die Arme aus und zieht mich in eine feste Umarmung. Der Duft von Kokosnuss-Duschgel und Chlor steigt mir in die Nase. Als begeisterte Schwimmerin und disziplinierte Frühaufsteherin verbringt Leslie jeden Morgen vor Sonnenaufgang im Schwimmbad. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, woher sie die Kraft dazu nimmt. Mit Studium, Kind und einem Partner, der nur an den Wochenenden zu Hause sein kann, wäre ich vermutlich heillos überfordert.
»Was ist denn passiert, Bambilein?«
Beim Klang meines albernen Kosenamens muss ich die Augen zusammenkneifen, um die Tränen zurückzuhalten. Wie ein kleines Kind vergrabe ich das Kinn an Leslies Schulter. »Ich hab was wirklich Dummes gemacht«, bricht es schluchzend aus mir heraus. Ich komme mir total dämlich vor und wenn ich nicht gewusst hätte, dass Roman und Leslie jederzeit bedingungslos zu mir halten würden, wäre ich wohl vor Scham im Erdboden versunken.
Leslie fasst meine Oberarme und drückt mich von sich weg. Stirnrunzelnd betrachtet sie mein Gesicht, als wolle sie sich ein genaueres Bild von meinem desolaten Zustand machen. Ihre mahagonirot gefärbten Haare sind zu einem lässigen Seitenscheitel frisiert und fallen ihr in sanften Wellen über die Schultern. Wie immer trägt sie eine ausgewaschene Jeans, ein weites T-Shirt und weiße Sneakers. Ich glaube, ich habe sie erst zwei oder drei Mal in einem Rock oder einem Kleid gesehen. »Lass uns erst einmal reingehen«, schlägt sie vor. »Dann trinken wir was, essen Süßigkeiten und du erzählst uns alles, okay?«
Ich presse die Lippen zusammen und nicke zustimmend. Meine Mundwinkel zucken. Am liebsten würde ich vor Rührung und Dankbarkeit gleich wieder losflennen.
Verschwommen kann ich sehen, wie Roman den aufgeregt zappelnden Charly begrüßt und ihn liebevoll am Hintern krault. Direkt über der Schwanzwurzel. Dort, wo er es am liebsten hat.
Derweil hat sich Leslie schon an mir vorbeigeschlängelt und ist in der Küche meines kleinen Zwei-Zimmer-Appartements verschwunden. »Du hast doch noch Bier da, oder?«
Leslie trinkt natürlich Bier. Weil sie cool ist. Wer das nicht glaubt, sollte sich ansehen, wie sie ihren Namen rülpst, rückwärts einparkt und Marmeladengläser ohne Hilfe öffnet. Manchmal wünsche ich mir, mehr wie Leslie zu sein. Und natürlich käme Leslie auch nie auf die Idee, ihr Jurastudium abzubrechen.
Beim Vorbeigehen klopft mir Roman auf die Schulter. »Das wird schon wieder«, sagt er mit einem aufmunternden Lächeln.
Ich folge ihm ins Wohnzimmer und erkundige mich mit brüchiger Stimme nach Ava.
»Krümelchen geht es blendend. Sie verbringt ein paar Tage bei ihrer anderen Oma auf dem Bauernhof. Eine der Katzen dort hat Junge bekommen und jetzt gibt es kein anderes Thema mehr.« Roman gibt einen resignierten Seufzer von sich. Vermutlich weiß er, dass es sehr schwer werden wird, Argumente gegen die Adoption eines kleinen Kätzchens zu finden.
Während seine Freundin meine Küche auf den Kopf stellt, sieht Roman sich um, als sähe er meine Wohnung zum ersten Mal. Dabei sind er und Leslie schon seit Beginn der Semesterferien Dauergäste in meinem Domizil. Es gibt auch nicht besonders viel zu sehen. Dunkler Laminatboden, ein Ecksofa mit abgenutztem Samtbezug, ein Bücherregal mit Romanen und Fachliteratur, eine Glasvitrine mit meiner Videospielsammlung, ein bereits etwas älterer Flachbildfernseher und meine zwei Spielekonsolen. An der rückwärtigen Wand befindet sich die Tür zum Balkon, durch die das Licht der Abenddämmerung hereinfällt.
»Es tut mir leid, dass ich euch den Abend vermiese«, sage ich. Keine Ahnung, warum. Eigentlich weiß ich, dass sich Freunde in schweren Zeiten beistehen und dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, aber manchmal gewinnen meine Selbstzweifel die Oberhand und dann fühle ich mich nicht nur wie das fünfte Rad am Wagen, sondern auch noch wie das Schlagloch, das den ganzen Karren zu Fall bringt.
Roman zieht eine Grimasse. Eine Ader an seiner Stirn tritt hervor, wie immer, wenn er aufgewühlt ist. »Sag sowas nicht«, meint er. »Du hältst uns eh nur von der neuen Staffel The Walking Dead und leidenschaftlichem Sex vor laufender Glotze ab.« Er zuckt mit den Schultern. »Halb so wild.«
»Wer hat was von leidenschaftlichem Sex gesagt?« Leslie schleppt eine Packung Straciatellaeis, zwei Flaschen Bier und eine Dose Cola zum Sofatisch. Charly trippelt hinter ihr her und hofft, dass etwas für ihn abfällt. »Im Gegensatz zu dir interessiert es mich wirklich, wie es bei den Zombies weitergeht. Außerdem hab ich meine Tage und du weißt ja, dass ich es nicht mag, wenn wir-« Sie bricht ab und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, doch ich bin es schon gewohnt, dass die beiden ihr Sexleben vor mir ausbreiten.
Roman lässt sich ächzend aufs Sofa fallen. »Also gut, Schwester. Dann lass mal hören.«
Ich krame ein Leckerchen aus meiner Rocktasche und werfe es Charly hin, damit er unser Eis in Ruhe lässt.
Anschließend klettere ich über Roman hinweg in die Ecke des Sofas, ziehe die Beine an den Körper und erzähle von meinem verheerenden Tag beim Psychiatrie-Praktikum.
Es ist seltsam. Schon mit 17 Jahren habe ich die Entscheidung getroffen, Psychologie zu studieren. Ich wollte mein Leben damit verbringen, anderen Menschen zu helfen. Doch inzwischen zweifle ich an der Richtigkeit dieser Entscheidung. An meinem festen Willen, Menschen zu helfen, hat sich nichts geändert, aber ich weiß nicht mehr, ob das der richtige Weg für mich ist.
In den letzten zwei Semestern sind meine Bedenken diesbezüglich immer größer geworden und jetzt im Praktikum schaffe ich es kaum, mich morgens zum Aufstehen zu motivieren. Ich habe richtiggehend Angst davor, die Klinik zu betreten. Das liegt zum einen am rauen Umgangston, den ich einfach nicht gewöhnt bin, zum anderen an den Patienten. Es ist vielleicht nicht besonders nett, das zu sagen, aber ich kann mit psychisch Kranken offenbar nicht umgehen.
Heute war es besonders schlimm. Ich habe einer Frau auf Benzodiazepinentzug gesagt, dass ihr Sohn tot sei. Etwas später hat sie versucht, sich umzubringen - und jetzt fühle ich mich schuldig. So extrem schuldig. Wie konnte ich ihr so etwas Gemeines sagen? Die Antwort darauf ist eigentlich ganz simpel, wenn auch wenig schmeichelhaft: Ich war gestresst und genervt.
Der Vorfall hat sich kurz nach dem Mittagessen ereignet. Gleich mehrere Patienten haben den Glaskasten des Schwesternzimmers belagert. Einer hat lautstark auf sein Recht auf Ausgang beharrt und mir gedroht, mich anzuzeigen, wenn ich ihn nicht rausließe. Der andere wollte unbedingt in eine Belastungserprobung, obwohl er gerade erst aufgenommen worden war. Eine junge Frau hat sich die Haare ausgerissen, eine andere lautstark mit ihrer verstorbenen Mutter diskutiert. Ein sehr höflicher Schizophrener wollte wissen, ob er seinen Penis mitnehmen müsse, wenn er zum kognitiven Training gehe. Die ganze Situation hat mich vollkommen überfordert.
Und dann ist die besagte Patientin aufgetaucht und hat mich zum dreihundertsten Mal an diesem Tag gefragt, ob ihr Sohn noch lebe und ich habe es nicht geschafft, zum dreihundertsten Mal freundlich zu bejahen, sondern sie angeblafft, dass ich es nicht wisse und er auch tot sein könne und dass es keine Rolle spiele und sie endlich aufhören solle, mich zu fragen.
Ich habe sofort gewusst, dass es ein Fehler gewesen ist. Ich konnte es in ihren Augen lesen, die normalerweise leer und abwesend sind, wie zwei tote Glasmurmeln. Beim Anblick des Schmerzes darin habe ich erkannt, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Und so war es dann auch.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro