Wilde Gedanken
Ich wundere mich nicht, als ich mitten in der Nacht aufwache. Ich habe schon vor langer Zeit damit aufgehört, mich darüber zu wundern. Aus Resignation? Frust? Wer weiß das schon...
Wie immer setzte ich mich auf und massiere mir die Schläfen. Heute Nacht ist Vollmond, die blasse, mit Kratern durchsetzte Kugel steht am Himmel und strahlt sanftes Licht aus. Eigentlich strahlt der Mond dieses Licht nicht aus, er reflektiert es nur von der Sonne, die im Moment die andere Seite der Erde beleuchtet. Dort gehen die Menschen ihrem Alltag nach. Gehen arbeiten, zur Schule, oder haben frei. Schon seltsam, worüber man nachdenkt, wenn man den Gedanken an etwas Anderes unbedingt vermeiden will...
Langsam schlage ich die Decke zur Seite und erhebe mich aus dem Bett. Auf nackten Sohlen tapse ich zum Fenster und sehe hinaus.
Diese Großstadt schläft nie. Auch jetzt noch sehe ich Autos auf den Straßen fahren, kleine Lichtkegel vor sich herschiebend. Die Bürogebäude sind erleuchtet, an den Hochhäusern flackern munter die Werbetafeln und Straßenlaternen vertreiben die Dunkelheit mit ihrem warmen Schein. Ich wende meinen Blick zum Himmel, obwohl ich weiß, dass ich keine Sterne sehen werde. Die haben bei der enormen Lichtverschmutzung keine Chance.
Auf der Hütte war das anders. Die Nacht war klar, weder Lichtverschmutzung, noch eine einzelne Wolke versperrten die Sicht auf den Nachthimmel. Noch nie in meinem Leben hatte ich so unglaublich viele Sterne gesehen. Zu viele, um sie alle zu zählen, bedeckten sie das Firmament, als ob jemand Glitzer auf dunklem Samt verteilt hätte. Atemberaubend schön. Wir redeten stundenlang, über die unwichtigsten Dinge. Aber ich war trotzdem glücklich.
Aber das war schließlich davor. Jetzt ist danach und alles ist anders. Seit gut einem Monat geht das nun schon so, dass ich nachts aufwache. Jede Nacht, immer um die gleiche Uhrzeit. Immer wieder muss ich an den Moment denken, der alles verändert hat. Ein einzelner Streit nur, und doch hat er alles zerstört, Glück und Zufriedenheit in Wut und Schmerz verwandelt hat. Jedes Mal frage ich mich, ob ich es hätte verhindern können.
Unweigerlich denke ich zurück an den Abend, an dem alles zu Bruch ging. Nichts Ernstes viel vor, eine Kleinigkeit nur, doch wir hatten wohl beide einen schlechten Tag. Steigerten uns immer mehr hinein in den Streit, sagten Dinge, die nie wieder zurückgenommen werden konnten. Machten einander Vorwürfe, die wohl schon länger an uns nagten. Warfen uns Wörter an den Kopf, von denen wir nicht wussten, dass wir fähig waren, sie aufeinander zu beziehen. Bis einer von uns genug hatte und ging. Seitdem haben wir nicht mehr miteinander geredet.
Wenn ich etwas Anderes gesagt hätte?
Wenn ich anders reagiert hätte?
Wäre das alles dann nicht passiert?
Die vielen Was-wäre-wenn's machen mich verrückt.
Ich seufze und laufe zurück zum Bett. Ich weiß, dass meine Gedanken noch lange nicht stillstehen werden. Das tun sie nie. Sie drehen sich in meinem Kopf weiter, wie in einem Karussell. Finden keine Ruhe. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich habe schon zu viele verschiedene Schlafmittel ausprobiert.
Ich will die Sache klären. Ich denke, uns auszusprechen, würde möglicherweise uns beiden guttun. Aber ich kann nicht. Als ich endlich den Mut gefunden hatte, anzurufen, stellte ich fest, dass ich blockiert wurde. Ich hatte es insgeheim schon erwartet.
Und vielleicht ist es auch besser, wenn wir beide getrennte Wege gehen. Sicher bin ich längst vergessen. Ich sollte aufhören, mir darüber Gedanken zu machen. Ich sollte mein Leben leben, frei von diesen Zweifeln. Seltsam, wie ein einfacher Streit ein ganzes Leben verändern kann.
Ich ziehe mir die Decke bis zum Kinn und schließe die Augen.
Morgen verschwinde ich hier. Mein Zeug ist bis auf kleine Ausnahmen gepackt, der Umzugswagen ist gebucht. Morgen werde ich endlich alles hinter mir lassen. Morgen...
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