9-Liah
Heute war es soweit. Der Tag des Ausbruchs war gekommen und meine Beine zitterten bei dem Gedanken, alles zurückzulassen. Ja, es war meine Idee gewesen, abzuhauen, aber jetzt, da es so kurz bevorstand bekam ich doch ein wenig Angst. Angst vor der Welt mir all den bösen und selbstverliebten Menschen und Angst vor dem Tod, der Ria verfolgte und sie irgendwann erhaschen würde. Ein kalter Schauer lief meinen Rücken hinunter, als ich an all die Dinge dachte, die uns hätten töten oder verletzten können. Trotz dieser kleinen frühmorgendlichen Angstattacke richtete ich mich im Bett auf und tastete mit der Hand über meine verwuschelten Haare. Sie waren fettig, das spürte ich ganz genau, auch wenn immer alle sagten, sie seien es nicht. Ich musste duschen! Wer wusste schon, wie lange ich keine Dusche mehr zu Gesicht bekommen würde. Mit zittrigen Händen drückte ich mich hoch und schlug die Decke zur Seite.
Ich begann zu frieren als die kühle Luft auf meine nackten Beine traf und musste gegen den Drang ankämpfen, mich einfach zurück unter die warme Decke zu legen. Doch heute würde ich fliehen und ich konnte mir diesen Plan nicht wegen der Lufttemperatur versauen lassen und wegen meiner mangelnden Selbstkontrolle was Aufstehen betraf. Also hievte ich mich mühsam hoch und torkelte verschlafen ins Bad, das direkt an mein Zimmer anschloss. Dort zog ich mir meinen eigentlich viel zu kitschigen Einhorn-Pyjama aus und schlüpfte unter die Dusche. Als das warme Wasser über mein Gesicht lief wurde ich endlich etwas klarer im Kopf und meine Gedanken wanderten wieder zum heutigen Ausbruch. Ich hatte das unweigerliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, doch mir viel beim besten Willen nicht mehr ein, was es war.
Ungelenk bückte ich mich und griff nach dem Shampoo, das an der Seite der Dusche auf dem Boden stand. Der Boden war rutschiger, als ich es gedacht hätte und ich verlor mein Gleichgewicht. Mit letzter Kraft griff ich nach dem Wasserhahn um nicht in meiner eigenen Dusche zu verrecken und zog mich nach oben.
Oh Gott. So blöd musste man erstmal sein, in seiner eigenen Dusche auszurutschen. Und vermutlich hätte ich mir dann noch den Kopf angestoßen und wäre ertrunken.
Das wäre wohl der beste Beweis für meine Tollpatschigkeit. Aber zum Glück hatte ich mich noch retten können.
Das Shampoo, welches ich immer noch in der Hand hielt, war aufgegangen und der Inhalt ergoss sich gerade in den Abfluss. Ich fluchte leise vor mich hin, während ich versuchte, vom Boden der Dusche noch einen letzten Rest für meine Haare zu ergattern.
Ich schäumte meine Haare ein und wusch sie dann aus.
Obwohl niemand mir zugesehen hatte, war mir die Röte ins Gesicht geschossen und ließ sich nur schwer wieder aus meinem Gesicht vertreiben. Als ich fertig mit meiner äußerst peinlichen Duschaktion war, wickelte ich mir ein Handtuch um und verließ bibbernd das Bad. Dann ging ich zu meinem Schrank um mir dort wettertaugliche Kleidung für die Flucht auszusuchen. Dort angekommen bemerkte ich, was ich die ganze Zeit vergessen hatte. Ich hatte meinen Rucksack noch nicht gepackt und ohne ihn war ich aufgeschmissen. Panik ergriff mich und ich sammelte hastig das Nötigste zusammen, während ich versuchte, mich dabei anzuziehen. Das sah bestimmt furchtbar komisch aus und so fühlte ich mich auch. Als ich endlich alles in meinen Rucksack gezwängt hatte, viel mir auf, dass ich mein Kuscheltier vergessen hatte. Ich war mir sicher, dass Ria ihren Bären dabei haben würde, also stopfte ich ihn auch noch in den Rucksack. Dann trat ich ein Stück zurück um mein Packwerk zu betrachten, doch lange konnte ich meine eindeutig bewundernswerte Stopfkraft nicht bewundern, denn mir viel der Plan wieder ein, den ich die ganze Zeit vergas. Es war fast 11 Uhr und ich hatte noch keine Ahnung, wie wir uns in den verzweigten Straßen unserer riesigen Stadt zurechtfinden würden. Geschweige denn in anderen Städten...
So eine Scheiße war das. Sollte ich mir jetzt etwa jede Karte ausdrucken? Denn ja, wir würden ein Handy haben, aber man würde es orten können und wahrscheinlich hätten wir auch keinen Zugang zu einer Steckdose.
Es war so weit. Meine Laune war offiziell im Keller. So ein Kack! Ich griff mir mein Handy, das ich wohl nicht mehr oft benutzen würde können und suchte mir im Internet eine Karte von dieser Stadt. Ich speicherte sie in meinem Handy und schrieb dann Ria eine Nachricht.
🌑Irgendwelche speziellen Reiseziele?
Ich setzte mich wieder aufs Bett, denn wie ich Ria kannte, war ihr Handy nicht weit weg und sie würde bald antworten.
Und wirklich, eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
🌕Hmmmm... weiß nicht. Natürlich habe ich Reiseziele, aber ich vermute, sie liegen nicht im Rahmen der Möglichkeiten.🤔
🌑Ist doch egal, sag einfach. Wir kriegen das hin, egal, was es ist.😉
🌕New York, London, Paris. Vielleicht auch einfach mal ein kleines Dorf hier in Deutschland.
Viel Deutsches hab ich ja noch nicht gesehen, Grandma übertreibt ja mit ihrer englischen Herkunft. Oh... und ans Meer.
🌑Mal sehen, was sich machen lässt...😂❤️ Aber kannst du überhaupt Französisch? Ich meine, Englisch können wir ja, aber meine Französischkentnisse sind nicht die besten. 😬
🌕Natürlich kann ich Französisch! Ich bin seit 16 Jahren im selben Raum, da wird man irgendwann verzweifelt und lernt Fremdsprachen😂
🌑Na gut😂 Alles gepackt? Ich glaube ich gehe dann mal gleich los und hole uns was zu essen aus der Küche. Hoffentlich hat Henriette noch nicht angefangen zu kochen...🤔😦
🌕Na dann. Viel Glück ❤️ Wir sehen uns ja später.☺️😉😂❤️
Ria ging offline und ich suchte mir die Karten der Städte, in die sie wollte. Wie wir dort hinkamen war zwar eher schwierig, aber das würden wir schon irgendwie auf die Reihe bekommen. Irgendein deutsches Dorf würde bestimmt auch nicht schwer werden. Von Köln war es hoffentlich nicht allzu weit bis zu irgendeinem Dorf. Und dort würde Grandma uns auch sicher nicht vermuten.
Ich drückte auf Drucken und ging zum Drucker im dritten Stock, um dort die Karten abzuholen. Der Drucker quietschte vor sich hin und spuckte -viel zu langsam für meinen Geschmack- die Blätter aus. Ich betrachtete sie kurz und hoffte, dass wir und niemals in so einer Stadt verlaufen würden. Und was das Meer betraf hoffte ich, dass Ria schnell schwimmen lernte, obwohl ich vermutete, dass sie an keiner englischen Küste Lust haben würde, ins eiskalte Wasser zu springen.
Ich faltete die Karten sorgfältig zusammen und brachte sie zurück zu meinem Zimmer, wo ich sie in eins der Seitenfächer des Rucksacks steckte. Dann machte ich mich auf, um zur Küche zu gehen. Das würde keine leichte Mission werden, denn Henriette schloss die Türe immer sorgfältig ab, bevor sie ging und wenn die Küchentür tatsächlich offen war hieß das, dass Henriette schon wieder da war und wir ohne Essen aufbrechen mussten.
Ich erreichte das Treppenhaus und sprang die alten Steinstufen leichtfüßig hinab. Währenddessen stimmte ich ein kleines Lied an, denn man müsste es doch nutzen, dass es so schön hallte. Da erinnerte ich mich an die Szene, die genau hier, in diesem Treppenhaus vor nichtmal einer Woche passiert war. Schlagartig verstummte mein Gesang und ich beeilte mich, diesen Ort zu verlassen, der mich so schuldig anstarrte und mir all das vorwarf, was ich Ria nicht erzählt hatte.
Als ich endlich im richtigen Stockwerk angekommen war und Richtung Küche schlich, begannen meine Hände mal wieder zu zittern. Vorsichtig drückte ich die schwere Eisenklinke nach unten und betete, dass sie unverschlossen, aber trotzdem leer war. Doch die Tür rührte sich nicht. Egal wie fest ich zog. Die blieb verschlossen. Aber ein Teil von mir hatte damit ja schon gerechnet und wusste, das Henriette den Schlüssel hier irgendwo versteckt haben musste. Also begann ich die Umgebung genauestens in Augenschein zu nehmen.
Links von der Tür, ungefähr 2 Meter entfernt stand eine kleine hölzerne Statue auf einer Erhebung. Hinter ihr hätte man perfekt einen Schlüssel verstecken können. Ich ging darauf zu, bückte mich und versuchte, hinter die Erhöhung zu spähen. Dort waren ungefähr 2 Finger breit Platz doch es war zu dunkel, als das ich etwas dort hätte sehen können. Langsam und ein bisschen ängstlich steckte ich meine Finger hinter die Erhöhung und versuchte, den Schlüssel, den ich dort vermutete zu erhaschen. Alles in mir sträubte sich dagegen, meine Hand einfach irgendwo hinzustrecken, doch ich tat es trotzdem. Meine Fingerspitzen ertasteten etwas, doch es war zu weich um ein Schlüssel zu sein. Und es bewegte sich!
Mit einem Aufschrei riss ich meine Hand zurück und schüttelte sie wie von Sinnen. Die kleine Spinne, die ich wohl gerade aus ihrem Schläfchen geweckt hatte krabbelte flink über den Mamorboden davon, doch ich konnte trotzdem nicht aufhören, meine Hand zu schütteln. Ich hatte furchtbare Angst vor Spinnen. Vor allem vor Kleinen, weil man bei Ihnen nie wusste, wo sie waren. In den Haaren, auf der Kleidung,... ich schüttelte mich und versuchte, mein Zittern und Herzrasen unter Kontrolle zu bekommen, während ich meine Hand an meiner Jeans abwischte.
Nur mit Mühe konnte ich mich an meine Mission erinnern, doch dieser Gedanke half mir, mich wieder zu konzentrieren. Ich atmete tief durch und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich sah mich um und ging schließlich wieder zur Tür, um dort die Leiste darüber abzutasten. Dort oben würden bestimmt keine Spinnen sein. Das redete ich mir zumindest ein. In Wirklichkeit hatte ich nur noch mehr Angst, meine Hand irgendwo hinzustrecken, doch es musste sein.
Ich atmete tief ein, stellte mich auf die Zehenspitzen und fuhr blitzschnell einmal über die Leiste. Klirrend fiel der Schlüssel zu Boden und ich verfluchte mich, dass ich auf dieses Versteck nicht zuerst gekommen war.
Lächelnd hob ich den Schlüssel auf und steckte ihn in das Schlüsselloch. Als ich ihn herumdrehte klickte es und ich öffnete zufrieden die Tür.
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