6-Ria
Paul's Besuch hatte mir eindeutig gutgetan. Meine Sinne waren wieder alle beisammen und ich hatte mir bei Henriette einen Staubsauger bestellt um die Scherben zu beseitigen, die immer noch auf meinem Teppich herumlagen.
Ich seufzte tief. Ich hatte diesen verdammten Bewegungsdrang, aber hier im Zimmer konnte ich wohl kaum herumrennen. Mein Körper war ohnehin nicht an Anstrengungen gewöhnt, also würde ich wohl schon nach einer Minute schlappmachen. Langsam streckte ich mich und setzte mich wieder im Bett auf. Meine Augen brannten höllisch. Ich wusste nicht genau warum, aber vermutlich kam es vom vielen Lesen. Dabei vergas ich immer zu blinzeln. Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, dies heute vergessen zu haben, aber es konnte durchaus möglich sein.
Schluss jetzt! Ich musste mich konzentrieren und meine Augen würden sich schon erholen. Ich musste zum Wesentlichen zurückkehren. Meinem Ausbruch. Denn ich konnte hier nicht länger bleiben. In diesem stickigen Glasgefängnis, das mich von allem abtrennte, was man wohl das Leben nannte. Ich hatte die Sehnsucht in Liah's Augen gesehen, als sie Paul die Tür aufschloss und ich sah diese Sehnsucht jedes Mal, wenn ich in den Spiegel blickte. Ich musste hier weg. Weit weg. Ich wollte diesem Haus entkommen und die Welt sehen. Und Liah würde mir alles zeigen. Ich könnte am Strand einen Sonnenuntergang beobachten und nachts am Himmel Sternschnuppen suchen. Das war bestimmt wunderbar. Ich sah den Nachthimmel ja fast nie, da die Lichter der Stadt so hell waren. Ob Liah draußen wohl ein anderer Mensch war? Wenn sie unter dem Einfluss ihrer Freunde stand musste da doch irgendwie ein Coolness-Instinkt erwachen. So war das zumindest in den Filmen immer. Würde Liah dann in komischer Jugendsprache sprechen und Lieder von Capital Bra singen?
Ich bekam eine Gänsehaut. Deutscher Rap war so ziemlich die schlimmste Musikart, die es gab und die Vorstellung, dass meine Schwester dazu sang und tanzte war wohl die beste Basis für einen Albtraum.
Meine Augen, die sich inzwischen wieder beruhigt hatten suchten mein Zimmer nach irgendeiner Art Ausbruchswerkzeug ab. Ich konnte ja einfach die Glasscheibe kaputthauen. Mit irgendeinem schweren, harten Gegenstand, der nicht kaputt ging, wenn man ihn gegen eine Scheibe schmiss.
Da entdeckte ich genau das, wonach ich suchte. Den Stuhl, der vor meinem Schreibtisch stand. Es war ein schöner Stuhl, blassblau mit mattgelben Tupfen. Ich konnte ihn zwar eh nicht mitnehmen, dennoch hoffte ich, dass er es überleben würde. Er war einfach zu schön, um ihn kaputtzumachen.
Langsam stand ich auf und tapste zu meinem Schreibtisch und dem Stuhl, hob den Stuhl über meinen Kopf und wollte ihn gerade über meinen Kopf werfen, als meine Zimmertüre sich öffnete und Liah hineinkam. Erstaunt sah sie mich an. Ich ließ den Stuhl langsam sinken und schaute sie erschrocken an. Würde sie mich verpetzen? Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte. Dann würde ich bestimmt in Zukunft nicht mehr durch Glas sondern durch eine Sprechanlage mit anderen Leuten sprechen und das Glas würde durch Metall ausgetauscht werden. Ob das wirklich passieren konnte?
Liah's Gesichtsausdruck gab mir wie so oft keine Antwort auf meine Fragen und ich fühlte mich von ihrem stummen Blick durchbohrt. Es war unangenehm, denn normalerweise konnte man Liah gar nicht vom Reden abhalten. Ich starrte zurück um sie aus der Fassung zu bringen und der Stille zwischen uns ein Ende zu bereiten, doch sie sagte weiterhin nichts. Nur kniff sie ihre Augen leicht zusammen und zog eine Augenbraue fragend nach oben. Also war es jetzt wohl Zeit, das Schweigen meinerseits zu brechen und den ersten Schritt zu machen.
Langsam trat ich zwei Schritte zurück, setzte den Stuhl wieder auf dem Boden ab und öffnete den Mund. Ich kam mir vor wie ein Fisch. Ich hatte zwar den Mund offen, doch kein Laut verließ meine Lippen. Da seufzte Liah hörbar und schloss endlich die Tür, die bis dahin immernoch offen gestanden hatte. Sie faltete ihre Hände und ließ sich auf dem Boden nieder. Ihr Blick suchte meinen und sie brach endlich das Schweigen.
„Du willst also ausbrechen.", sagte sie nachdenklich. Aus irgendeinem Grund hatte ich mehr Emotionen erwartet. Vielleicht Wut oder Trauer, doch nichts davon war in ihrer Stimme zu hören. Das machte mir irgendwie Angst. Ich hatte sie noch nie so erlebt. Sie war doch sonst so überdreht.
„Du hast keine Ahnung wo du hier rauskommst und willst abhauen?", fragte sie wieder. Nun hörte ich leise Belustigung und sofort atmete ich erleichtert aus. Es war zwar nicht die Reaktion, die ich erwartet hätte, aber immerhin etwas. „Ja?", antwortete ich vorsichtig.
Sie began zu lachen. Schallend hallte es durch das Glas und ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg und ich wütend wurde. Sie lachte mich wirklich aus! Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!
Sie sah mir meine Wut wohl an, denn sie verstummte augenblicklich und atmete tief ein um sich zu kontrollieren. „Sorry", murmelte sie und unterdrückte ein letztes Kichern.
Das half jetzt auch nichts mehr. Wenn ich einmal schlechte Laune hatte dauerte es eine Weile, bis ich wieder fröhlich war.
„Ich brauch ne Minute.", murmelte ich und entschloss, mich in mein Bett zu legen. Sollte sie doch warten!
Und tatsächlich, sie wartete geduldig, bis ich mich beruhigt hatte und mich wieder vor die Scheibe setzte.
„Na gut. Also weiter. Du willst ausbrechen. Aber wieso hast du mich nicht um Hilfe gebeten?"
Ihre Stimme klang vorwurfsvoll aber immernoch ein bisschen belustigt.
„Ich dachte, dass du es mir sowieso verbieten würdest, weil ich Leute anstecken oder mich selbst in Gefahr bringen könnte.", antwortete ich und bemerkte im gleichen Moment, was da gerade für ein Mist aus meinem Mund gekommen war. Liah würde mir nichts verbieten. Sie war nicht gerade die Vernünftigere von uns beiden. Also warum hatte ich sie nicht eingeweiht? Obwohl man von einweihen ja nicht sprechen konnte, da es ja nicht geplant gewesen war.
„Okay, es war ne spontane Idee. Ich wollte einfach weg, verstehst du?"
Ihr Blick würde weicher. Sie nickte.
„Wäre trotzdem besser, wenn du mir sagen würdest, dass du ausbrichst, denn dann können wir das durchplanen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich eh schon lange vor, mit dir auszubrechen und um die Welt zu reisen."
Mein Atem stockte. Ich konnte es nicht fassen und war überglücklich. Sie verstand mich! Mit ihr konnte ich alles durchplanen und sie würde mich unterstützen. Innerlich stieß ich einen Freudenschrei aus. Endlich konnte ich die Welt sehen. Mit Liah.
Ihre Augen sahen mich erwartungsvoll an und ich begriff, dass ich ja noch antworten musste.
„Ja! Das machen wir. Dann kann ich endlich die Welt sehen."
Meine Euphorie war grenzenlos. Wäre ich nicht so unsportlich, wäre ich jetzt durch mein Zimmer getanzt. Meine Poren sprühten vor Glück und ich hatte das Gefühl, gleich abzuheben.
Liah blieb ruhig und wartete geduldig, bis ich meine Glücksgefühle wieder unter Kontrolle hatte. Noch so etwas, was ich von ihr nicht kannte. Geduld. Denn das hatte sie noch nie gehabt. Aber vielleicht wurde sie einfach erwachsen und generell etwas ruhiger. Oder die Situation war ernst und ihr war der Plan wichtig. Wahrscheinlich war beides ein bisschen der Fall.
„Okay. Wenn du dich jetzt wieder beruhigt hast kann ich dir das Wichtigste erklären. Ich habe ja schon seit Längerem eine Flucht geplant, also bin ich über das Wichtigste informiert." Die Wörter verließen gezielt ihren Mund, ohne das sie sich dabei versprach. Innerlich bewunderte ich sie für ihre Sprechweise, denn irgendetwas musste sie wohl anders machen. Ich versprach mich nämlich öfter mal, wenn ich versuchte, viele Informationen auf einmal mit der Person mir gegenüber zu teilen.
Ich nickte nur zustimmend und ließ Liah fortfahren.
„Mum ist ja grade in der Schweiz. Du weißt ja, bis nächsten Samstag, also noch genau eine Woche. Innerhalb dieser Zeit müssen wir abhauen, denn dann müssen wir nur noch an Grandma, Henriette und dem Butler vorbei. Das mit dem Butler erledigt sich von selbst, da er nächste Woche von Montag bis Donnerstag frei hat. Bleiben noch Grandma und Henriette. Das müsste zu schaffen sein."
Ich war erstaunt, wie durchdacht ihr Plan war. Und es ging immernoch weiter. Liah schien mit ihrem Plan kein Ende zu finden.
„Wenn wir dann zwischen Montag und Donnerstag abhauen ist es wichtig, dass wir die Zeit nach dem Mittagessen nutzen, weil da die Wahrscheinlichkeit, dass wir jemanden auf unserem Weg antreffen am geringsten ist. Was wichtig ist, ist, dass du unbedingt das Nötigste mitnimmst. Du warst noch nie da draußen, also vermute ich, du weißt nicht, was zu ,das Wichtigste' zählt, oder?" redete sie weiter. All die Informationen in mich aufzunehmen erforderte erhebliche Konzentration. Es war einfach so viel auf einmal.
Stumm nickte ich und Liah erklärte sofort weiter:„Dazu zählt zum Beispiel Geld. Viel Geld. Wir kehren ja schließlich eine Weile nicht mehr nach Hause zurück und müssen uns alles selbst kaufen. Du hast doch Geld, oder?"
„Natürlich habe ich Geld! Ich habe vermutlich sogar mehr als du. Ich kann das Taschengeld von Grandma ja nicht einfach sofort ausgeben.", entrüstete ich mich. Und ich hatte ja auch recht! Ich hatte mindestens 1.000 Euro in bar, weil meine ach so schlaue Grandma der Meinung gewesen war, dass es das beste wäre, mir das Geld auszuzahlen.
„Ist ja gut! Jedenfalls brauchst du ein bisschen Klamotten, dein Handy, ein Ladekabel, das Geld, etwas zu essen und zu trinken und eventuell deine Medikamente. Aber vielleicht kann gewöhnliches Zeug wie zum Beispiel Zahnbürste oder Haarkamm auch nicht schaden. Oh... und Deo.", erklärte sie mir. Ich seufzte wie schon so oft heute und wechselte meine Sitzposition. Das hatte ich mir alles irgendwie schon gedacht. Ich war zwar noch nie verreist, aber ich wusste trotzdem was man so ungefähr brauchte. Und es nervte mich aus irgendeinem Grund sehr, dass Liah mich in dieser Sache für dumm hielt. Doch weiter darüber nachdenken konnte ich jetzt zum Glück nicht, denn Liah fuhr sich mit einer Hand durch ihre dünnen aber buschigen Haare und murmelte:„Das müsste erstmal an Informationen reichen. Wenn noch was Wichtiges ist, sag ich dir Bescheid. Wir treffen uns am besten morgen nochmal hier um Einzelheiten zu besprechen."
Mit diesen Worten verließ Liah das Zimmer und schloss leise aber bestimmt die Tür. Mein Gehirn aber ratterte. Sie wollte mit mir noch Einzelheiten besprechen? Das hieß... dass das noch gar nicht die Einzelheiten waren??? Ich sollte mir wohl Zettel schreiben, denn alles konnte ich mit nicht behalten. Doch das durfte ich nicht, denn unsere Fluchtpläne mussten ja geheim bleiben.
Müde sank ich in mein Kissen und dank kurz darauf in einen unruhigen aber traumlosen Schlaf.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro