5-Liah
Es fiel mir schwer Paul und Ria zu verlassen. Ich wusste, dass sie ihren Freiraum brauchten, aber ich fühlte mich irgendwie ausgeschlossen von ihnen. Vermutlich war das seltsam, sich ausgeschlossen zu fühlen, nur weil sie etwas ohne mich machten, aber ich war ja ausgeschlossen. Ich konnte nicht zu Ria hinein, er schon. Das zu sehen, versetzte mir immer wieder aufs neue einen Stich. Wie konnte er nur so ein Glück haben? Sie war meine Schwester und trotzdem hatten wir uns nie berührt. Nie umarmt. Sie hatte nie gelebt! Ich seufzte und verfluchte das Schicksal, dass Ria so etwas abbekommen hatte. Aber sie würde leben! Das Schicksal würde nichts dagegen tun können! Ich würde Ria retten und sie mitnehmen in die Welt.
Doch ohne einen ordentlichen Plan konnte ich das vergessen. Also würde ich jetzt wohl erst mal einen Plan schmieden müssen, denn ihre Zeit lief ab. Ich konnte nicht länger warten...
Und wartete dann doch...
Ich ging die Flure entlang. Ausnahmsweise einmal gemütlich, denn mein Plan brauchte sowieso vorher ein bisschen Planung im Kopf.
Die silbergrauen Wände waren alt und die Tapete hatte an einigen Stellen Risse. Die Bilder die nur aus Glück noch alle unversehrt waren zeigten Bilder der ganzen Familie Alister. Meine Familie. Und ich würde meine Mutter und meine GroßMutter verlassen. Sie alleine lassen in diesem viel zu großen Haus und einfach fortgehen. Würden Sie mir das jemals verzeihen? Mum bestimmt, aber meine Großmutter? Ihre Launen waren unberechenbar und wenn sie einmal wütend war würde das wohl eine Weile anhalten. Aber sie würde mir mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann verzeihen. Nur würde Ria das wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen...
In Gedanken versunken schlenderte ich weiter. Vorbei an dem Zimmer meiner Mum und vorbei am oberen Saal, mit dem goldenen Fußboden. Ich achtete nicht weiter auf Einzelheiten und hatte den Blick gesenkt. So sah ich immer aus, wenn ich in Gedanken versunken war.
Als vor mir ein paar lederne Damenstiefel aufblitzten, und ich eine Stimme hörte, blickte ich auf. Ungefähr einen Meter vor mir stand in ihrem Samstagsoutfit meine Großmutter. In ihrem Gesichtsausdruck ließ sich keinerlei Gefühlsregung ausmachen, aber das war normal. Sie sah mich mit durchdringendem Blick an und fragte leise: „ Hast du Paul also mal wieder geholt?" Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. „Ja, aber woher...?" setzte ich an, doch die Gräfin unterbrach mich. „Ich höre und sehe alles mein Kind. Das müsste Dir inzwischen doch klar sein. Aber deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte dir etwas zu Rias Krankheitsverlauf sagen. Ihre Gesundheit hat sich in letzter Zeit immer mehr verschlechtert. Wenn das so weitergeht müssen wir sie wieder in ein Krankenhaus schicken."
Ich schaute sie entsetzt an. Das konnte doch nicht wahr sein. Ria schien es doch so gut zu gehen. Sie war fröhlich, hatte keine Schmerzen und war genauso wie sonst. Oder war das nur Fassade? Ging es ihr in Wirklichkeit schlecht und sie tat vor mir so, als ob alles gut wäre? Wieso dachte sie, dass sie mir etwas vormachen müsste? Glaubte sie denn nicht, dass ich es vertragen würde? Oder dachte sie womöglich, dass es mich sowieso nicht interessieren würde? Und sollte ich sie darauf ansprechen? Das alles war so verwirrend. Meine Großmutter legte mir eine Hand auf die Schulter. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen. Eigentlich wollte das ja deine Mutter übernehmen, aber sie ist mal wieder verschwunden." mit diesen Worten verschwand sie elegant um eine Biegung und ließ mich alleine auf dem Flur stehen.
Ich konnte meine Beine nicht mehr bewegen. Mein Kopf befahl mir zwar, mich schleunigst hier wegzubewegen, doch der Befehl schaffte es nicht bis zu meinen Beinen. Ich war gelähmt. Gelähmt vor Angst, Entsetzen und Trauer, die mich zu ertränken drohte. Wieso? Wieso nur? Womit hatte Ria das verdient? Wie konnte das Leben so ungerecht sein?
Meine Wangen fühlten sich seltsam kalt an. Mit einer Hand betastete ich sie und merkte, dass sie nass waren. Ich weinte. Die dicken Tränen rannen heiß über mein Gesicht und tropften auf den Boden. Sie hinterließen dunkle Flecken auf dem roten Teppich als sie aufgesogen wurden. Ich sah den verschwindenden Tränen nach und wünschte mir nichts sehnlicher, als einfach nur ein normales Leben mit Ria zu haben. Denn alle anderen hatten ja auch eins.
Mir fiel die zerbrochene Uhr auf Rias Fußboden ein. Sie hatte sie vermutlich während eines Wutausbruchs zerstört. Ria war eigentlich ein sehr ruhiger und gelassener Mensch, aber manchmal hatte sie Phasen, in denen ihr das kleinste Geräusch zu viel wurde. Dann zerstörte sie den Erzeuger dieses Geräusches. In diesem Fall eben die Uhr, die Mama ihr einmal geschenkt hatte. Vorher hatte ich nichts sagen können. Es war mir falsch vorgekommen, ihren kleinen Ausbruch vor Paul zu erwähnen, also hatte ich es gelassen.
Meine Tränen versiegten langsam aber stetig, doch ich konnte mich noch immer nicht vom Fleck rühren. Da bimmelte plötzlich mein Handy.
Hey Liah,
kannst du mich wieder rauslassen?
Ich erschrak. Wie lange hatte ich hier gestanden? Ich sah auf mein Handy. Es war 18:21 Uhr. Das konnte doch gar nicht sein. „Scheiße", fluchte ich und rannte in Richtung Rias Zimmer davon, während ich verzweifelt versuchte, mir meine Tränen vom Gesicht zu wischen und den Muskelkater in meinen Beinen zu ignorieren. Immerhin konnte ich sie wieder bewegen.
Als ich vor Rias Türe ankam waren meine Tränen längst nicht mehr zu sehen und ich hoffte, dass auch die Rötung meiner Augen schnell abklang.
Ich klopfte und öffnete dann. Auf ein Herein wartete ich nicht, den Paul hatte mir ja geschrieben, dass ich kommen sollte. Drinnen schloss ich dann die Glastüre auf, und verließ das Zimmer, damit Paul rauskommen konnte, ohne dass ich mit Ria sozusagen im selben Raum war.
Ich wartete draußen und als er kam lächelte ich. Er erwiderte mein Lächeln und wir liefen in Richtung Treppenhaus. Als wir schließlich dort waren und die Stufen hinabgingen blieb er plötzlich stehen. Seine Augen suchten meine und er schien meine Gedanken zu erraten.
„Was ist los, Liah?", fragte er besorgt, „Ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt."
Ich lächelte tapfer. Ich konnte ihm jetzt nicht all meine Sorgen erzählen. Das wäre seltsam. Vor allem weil er in meinen Gedanken eine so große Rolle spielte. Oder vielleicht könnte ich es ihm erzählen?
„Alles okay. Es ist nur...
Die Gräfin hat erzählt, dass es Ria schlechter gehen würde, aber Ria sagt mir nichts. Ich habe Angst, dass sie mir vielleicht nicht vertraut oder so." Meine Stimme klang seltsam und hallte im Treppenhaus. Er sah mich lange an und sagte dann: „Wieso sollte sie dir nicht vertrauen? Du bist ihre Schwester. Sie liebt dich! Und deine Großmutter neigt wirklich zu Übertreibungen. Wahrscheinlich wollte sie dir nur Angst machen."
Er hatte bestimmt recht. Er musste recht haben!
In seinem Blick las ich etwas. Ich konnte es nicht deuten. Sollte ich ihn vielleicht danach fragen? Fragen kostete ja nichts.
„Was ist mit dir? Du hast auch etwas."
Sein Blick wurde weich. „Nichts. Es ist nur... du." Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. War es ihm peinlich? Ich verstand gar nichts mehr. Was meinte er damit? Meinte er vielleicht, dass er mich auch mochte? Mein Herz machte einen Sprung und fing an zu hämmern wie ein Presslufthammer. Er sah mir tief in die Augen. Sein Blick war so unglaublich schön. Unbeschreiblich und einfach wunderschön. Sanft zog er meinen Kopf zu sich hin und flüsterte mir ins Ohr: „Liah Johnson, wie kannst du nur so unglaublich sein?"
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, doch es war mir egal.
Seine Augen bohrten sich in meine und ich wünschte mir sehnlichst, dass er die Lücke zwischen unseren Lippen schließen würde.
Dann spürte ich, wie seine Lippen meine berührten und er mich näher an sich zog. Es war das schönste Gefühl der Welt. Ich wollte für immer hier in seinen Armen liegen und bei ihm bleiben.
Seine Hände glitten zu meiner Taille und er hob mich hoch und setzte mich auf ihn. Ich schlang meine Beine um seinen muskulösen Oberkörper und er küsste mich leidenschaftlich. So hatte ich mir meinen ersten Kuss vorgestellt. Da wurden seine Lippen drängender und wanderten meinen Hals hinab und wieder hinauf. An meinem Ohr hielt er inne und flüsterte: „Lass uns in dein Zimmer gehen." Dann küsste er mich weiter und trug mich in Richtung meines Zimmers, wo er mich sanft auf mein Bett legte und sich über mich beugte. Langsam begann mein völlig verwirrtes Gehirn wieder zu arbeiten und mir wurde klar was hier passierte. Ich war drauf und dran mit ihm zu schlafen. Aber wollte ich das wirklich? Ich war erst 16 Jahre alt und eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, in diesem Alter schon mit jemandem zu schlafen. Und so sehr ich Paul auch liebte, das ging mir hier eindeutig zu schnell.
Ich drückte gegen seine Brust und schob ihn von mir weg. Er sah mich fragend an. „Ich kann das nicht.", keuchte ich und setzte mich auf, „Ich bin gerade mal 16 und wenn ich ehrlich bin will ich das noch nicht." Sein Gesichtsausdruck wurde verwirrt, dann enttäuscht. „Okay", sagte er, „wenn du das nicht willst ist das für mich okay, aber sag ruhig Bescheid, wenn du soweit bist." Er lächelte. Das hatte ich nicht von ihm erwartet. Was sollte ich jetzt sagen?
„Ich glaube du musst gehen", sagte ich schließlich. Mir war das alles so peinlich. Doch er nickte nur. „Ich kann das verstehen, Liah. Wirklich." Dann stand er auf und half mir hoch. Zögerlich strich er meine Haare glatt. So, als wüsste er nicht, ob er mich noch berühren durfte. Ich lächelte ihn an, doch es kam mir seltsam vor.
Schweigend gingen wir zum Ausgang und ich öffnete die schwere Holztüre. Als er hinausging drehte er sich noch einmal um und sah mich an. „Tschüss", sagte er verlegen. Ich wollte ihm auch gerade auf Wiedersehen sagen, da fiel mir noch etwas ein. Etwas Peinliches, dass jedoch unbedingt ausgesprochen werden musste.
„Sind wir jetzt zusammen?", fragte ich ihn und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. „Wenn das für dich okay ist, ja.", sagte er und lächelte. Also hatte ich jetzt einen Freund. Mein Erster. Nicht, dass ich nicht schon davor welche hätte haben können, doch ich war immer in Paul verliebt gewesen also hatten mich die andern Jungen nicht wirklich interessiert. „Okay", lächelte ich vorsichtig, „dann tschüss"
Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte, also winkte ich nur noch und schloss die Tür.
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