12-Ria
Sofort bereute ich meine Entscheidung, Liah einfach in irgendeinen Zug hineingezogen zu haben, denn jetzt standen wir in irgendeinem Zug. Liah sah mich wütend an doch sie ging nicht wieder hinaus. Ich rechnete fest damit, dass sie mich anschreien würde, doch sie tat es nicht. Das hieß wohl, dass sie so sauer war, dass sie mich gar nicht mehr anschreien konnte. So ein Mist. Irgendwann würde sie explodieren. Aber wenn das nicht jetzt war...
Mein Blick schweifte durch den Zug und blieb an zwei leeren Sitzplätzen weiter hinten im Abteil hängen. Ich packte Liah am Rucksack und zog sie bevor sie protestieren konnte dort hin. Seufzend setzte ich mich ans Fenster und blickte nach draußen. Meine Füße schmerzten, denn sie waren so langen Fußmarsch nicht gewöhnt und der Sitz war nicht im Entferntesten so weich, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zu allem Übel musste ich auch noch feststellen, dass ein versteinerter Kaugummi an der Armlehne klebte, auf die ich gerade meinen Arm legen wollte. Kleine Fusselhärchen waren darauf zu erkennen und ich musste allein schon beim Anblick und der Tatsache, dass ich fast meinen Arm auf dieses widerliche Ding gelegt hatte fast würgen. Liah sah mir belustigt dabei zu, wie ich versuchte, das klebende Ungeheuer mit einem Taschentuch zu entfernen. Ich scheiterte kläglich, denn der Kaugummi hing so fest auf der Lehne, dass man ihn vermutlich nicht mal mit einem Kran hätte abreißen können.
Gerade schlossen sich die Zugtüren, da hastete ein Junge zum Zug und quetschte sich durch die halbgeschlossene Tür. Seine Augen ruhten kurz auf mir, dann ging er zielstrebig auf einen Platz weiter hinten zu. Er lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Das gab mir die Gelegenheit ihn genauestens unter die Lupe zu nehmen.
Seine Haare waren dunkelbraun, fast schwarz und hingen ihm fast in die Augen. Sie sahen nicht ungepflegt aus, nur wild. Seine Arme und sein Oberkörper wirkten muskulös und sein Gesicht war wie gemeißelt. Kräftige Wangenknochen, über die sich glatt seine blasse Haut spannte und eine gerade Nase. Seine Augen, die er immernoch geschlossen hielt waren bewundernswert dicht bewimpert und seine Lippen hatten einen blassrosanen Tain.
Plötzlich öffnete er die Augen und sah mich direkt an. Seine Augen waren so unglaublich schön. Meeresgrün mit kleinen schwarzen Sprenkeln darin.
Da bemerkte ich, dass er mich immernoch ansah. Und ich... ich würde natürlich sofort rot, weil ich ihn so angestarrt hatte.
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, dann sah er weg. Auch ich beeilte mich wegzusehen und versuchte, mich ganz auf die an mir vorbei rasende Natur zu konzentrieren.
Meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Nicht immer zu diesem sonderbaren Jungen, sondern auch zu dem heutigen Tag. Wieso hatten mir all diese Menschen nur solche Angst gemacht? Ich konnte keine Antwort darauf finden, denn ich hatte viele Filme gesehen und wusste, was mich erwarten würde. Außerdem hatte ich in diesem Zug keine Angst. Ich hatte mich in dieser Menge vorhin beobachtet gefühlt. Natürlich nicht von allen, sondern von bestimmten Personen, die ich nicht sehen konnte. Als würden mich Geister verfolgen. Hier jedoch, in diesem Zug war das Gefühl beobachtet zu werden fast gänzlich verschwunden, wenn man mal von diesem Jungen absah, der mich sofort mit seinen Augen gesucht hatte, als er in den Zug stieg. Aber vor ihm hatte ich nicht wirklich Angst. Klar, durch diesen Typ vorher beim Bahnhof war ich etwas verunsichert, doch irgendetwas im dem Blick dieses Jungen sagte mir, dass er nicht so war wie dieser andere Kerl. Sein Blick war ehrlich gewesen. Treu.
***
Liah war mal wieder eingeschlafen und so langsam gab ich es auf, sie immer wieder wecken zu wollen. Wir fuhren nun schon den ganzen Tag und es musste inzwischen ungefähr 21:00 Uhr sein. Ich sollte ihr ihren Schlaf gönnen. Ich selbst jedoch konnte nicht schlafen, denn ich wollte und musste aufpassen, wann wir aussteigen mussten. Nicht, dass wir eine bestimmte Station vereinbart hatten, ich schaute einfach bei jedem Bahnhof aus dem Fenster und entschied dann, ob der Ort schön war oder nicht. Bis jetzt waren mir die Bahnhöfe nicht geheuer gewesen, denn oft saßen dort Typen mit Bierflaschen oder Zigaretten in der Hand und ich hatte keine Lust, nachts an ihnen vorbeizulaufen.
Auch waren nicht mehr viele Leute im Zug. Bis auf den Jungen von der ersten Station war nur noch eine ältere Dame mit ihrem Jack Russell da, die ihren Hund auf dem Schoß hielt und ihm zuflüsterte, dass sie bald da waren und er keine Angst haben musste. Bis jetzt hatte ich der Frau zugehört oder Liah beim Schlafen beobachtet und beides war einfach nur langweilig. Ich begann zu gähnen, doch das durfte ich nicht. Was, wenn der Zug bei der letzten Station die Richtung änderte und zurück fuhr??? Ich musste etwas tun. Etwas, wobei ich wach blieb. Da fiel mir etwas ein, vor dem ich Angst hatte, was ich allerdings sowieso irgendwann hinter mich bringen musste. Nämlich mit einer fremden Person sprechen. Die alte Dame und der Junge kamen für mich beide nicht in Frage, also musste ich wohl in ein anderes Abteil gehen und mir dort jemanden suchen, der vertrauenswürdig aussah. Am besten eine Frau. Männer waren mir zu so später Zeit nicht ganz geheuer, egal wie vertrauenserweckend sie aussahen.
Langsam stand ich auf und versuchte an Liah vorbeizurutschen, ohne sie dabei zu wecken. Ich zwängte mich durch die Lücke zwischen ihrem Rucksack und dem Vordersitz und taumelte durch den Gang. Schwankend und fluchend hielt ich mich an einem Sitz fest und öffnete die Tür, die zum nächsten Abteil führte. Dort roch es irgendwie seltsam, nach Parfum, Staub und irgendetwas säuerlichen, dass ich nicht ganz einordnen konnte. Ich krallte mich an den Sitzen fest und ging so standfest wie möglich den Gang entlang nach vorne. Ich sah immer wieder nach links und rechts, um zu sehen, ob es dort jemanden gab mit dem ich reden konnte ohne ihn zu vergraulen. Da entdeckte ich ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter war und mit Ohrhörern Musik hörte. Sie hatte hellbraune Haare, die fast die gleiche Farbe wie meine hatten und viele Sommersprossen die auf ihrer Nase und unter ihren haselnussbraunen Augen prankten.
Sie sah nett aus, also fasste ich mir ein Herz und sprach sie an.
„Hallo", sagte ich.
Sie sah von ihrem Handy auf, an dem sie wohl nebenher etwas gespielt hatte und nahm einen Stöpsel aus dem Ohr.
„Hallo?", fragte sie etwas zögerlich. Ich konnte sie verstehen. Es wäre mir auch suspekt, wenn mich einfach irgendjemand ansprechen würde und ich fragte mich, ob das Ganze wirklich so eine gute Idee gewesen war. Natürlich war es das nicht, aber das hatte ich ja irgendwie auch gewusst.
„Ähm...", murmelte ich. Ich hatte keine Ahnung was ich sagen sollte. Ich lächelte sie betreten an und überlegte fieberhaft, was ich noch sagen könnte, da fiel mir etwas ein. Ich würde mich einfach vorstellen. Ich wollte ihr ja schließlich keine Angst einjagen.
„Ich bin Ria", sagte ich also und streckte ihr meine Hand entgegen. Das Mädchen starrte sie an und brauchte eine Weile bis sie den Mut fand und sie schüttelte.
„Ich bin Maja", sagte sie nach einer Weile. „Und warum genau sprichst du mit mir?" Ihre Stimme war weder unfreundlich noch genervt. Sie sah mich einfach nur neugierig an und auch ein bisschen verunsichert.
„Ich wollte mich ein bisschen unterhalten. Meine Schwester schläft. Tut mir leid wenn das seltsam klingt. Ich hab eigentlich nicht wirklich Ahnung, wie man ein Gespräch anfängt.", erklärte ich schulterzuckend und sie lächelte schief.
„Ach so. Nicht böse gemeint, aber ich hatte schon ein bisschen Angst, dass du irgendwie jemand böses bist."
Ich kicherte, denn das hätte ich vermutlich auch gedacht.
„Na komm, setz dich. Mir war sowieso langweilig.", schlug sie vor und legte ihr Handy komplett beiseite. „Wie alt bist du?"
Ich setzte mich neben sie. Das lief besser als ich gedacht hätte. Und Maja war wirklich nett.
„16", antwortete ich, „und du?"
„Ich auch." Sie lächelte.
„Warum bist du eigentlich unterwegs. Wer verreist denn freiwillig mit seiner älteren Schwester? Oder ist sie jünger?", fragte sie mich und runzelte dabei ihre Stirn. Ich verkniff mir ein Lachen und antwortete wahrheitsgemäß: „Ich bin älter. Genau 3 Minuten."
Maja nickte wissend. „Also seid Ihr Zwillinge. Mann ich hätte so gerne eine Zwillingsschwester. Seht ihr denn gleich aus?", fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich würde sagen größtenteils schon. Ihre Haare sind dunkelblond und ihr Lächeln ist anders als meins, aber sonst sehen wir wahrscheinlich schon gleich aus. Ich meine, bei sich selbst findet man ja eher die Unterschiede, oder?"
Sie nickte. „Da hast du wohl recht."
Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und erst jetzt bemerkte ich den riesigen Rucksack, der auf ihren Beinen thronte. Ich deutete darauf und fragte:„Gehst du wandern? Der ist echt ziemlich groß. Nicht mal meiner ist so groß."
Sie wich meinem Blick aus und ich sah ihr an, dass ihr das Thema unwohl war, doch sie riss sich zusammen und sah mir in die Augen. „Ich bin von zuhause weggelaufen.", sagte sie schließlich und senkte ihren Blick wieder. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie teilte Liah's und meinen Plan auf gewisse Weise. Vielleicht konnte sie ja mit uns mitkommen. Ich strahlte sie an und sie zog eine Augenbraue nach oben. Vermutlich hielt sie mich jetzt für übergeschnappt. Doch ich erklärte schnell:„Wir auch! Also Liah und ich. Vielleicht können wir uns zusammentun." Ich war ein bisschen überdreht und als ich es merkte versuchte ich mich rasch wieder zu beruhigen um sie nicht doch noch zu vergraulen. In ihrem Blick spiegelte sich ebenfalls Freude, aber auch Verwirrung.
„Ihr also auch??? Das ist ja toll. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass ich alleine versauere.", rief sie aus.
Da musste ich lachen.
„Wir sind schon ein bisschen seltsam. Wir freuen uns hier, dass wir alle weglaufen. Sollen wir direkt einen Club gründen?", fragte ich sie immernoch lachend. Sie schüttelte ihren Kopf aber auch sie lachte.
„Ist doch egal. Jedenfalls sind wir jetzt nicht alleine.", sagte sie und ich freute mich. Wer hätte das gedacht, dass es so toll werden würde.
„Komm", sagte ich, „Ich stell dich meiner Schwester vor."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro