Meine Schwester
Sie konnte doch nicht ewig so weitermachen, oder? Ich wollte mit ihr darüber sprechen aber ich wollte sie auch nicht verletzen. Manchmal fragte ich mich, ob Mama und Papa gar nichts merkten. Merkten sie nicht, dass Clara krank war? Fiel ihnen nicht auf, dass meine Schwester immer dünner wurde? War ich die Einzige, die es mitbekam? Mama und Papa waren so wenig da, dass sie gar nicht merkten, wie ihre älteste Tochter das Essen immer mehr verweigerte. Aber wenn sie nicht damit aufhörte... ich wollte meine Schwester nicht verlieren.
„Iss doch bitte was, Clara", bettelte ich. „Ich hab schon gegessen", ich glaubte ihr nicht. „Nein, hast du nicht.", ich hatte Tränen in den Augen, als mir rausrutschte, was mir schon lange im Kopf lag: „Ich will dich nicht verlieren." „Ich kann nicht, Lu, ich kann nicht", gab sie zurück. „Aber warum nicht?" Die Tränen haben sich unbemerkt aus meinen Augen befreit; ich weinte. Es kam alles raus, was bisher tief verborgen war. Alle Sorgen, all der Kummer, alles spiegelte sich in den Tränen wieder, die nun unaufhaltsam liefen. Clara kam zu mir und legte ihre dünnen Arme um mich. Ich spürte kaum, wie meine Schwester mich hochhob und zum Sofa trug. Erst als meine Haare fast durchnässt waren, merkte ich, dass auch Clara weinte. Wir redeten nicht; es war nicht nötig. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren. „Es tut mir Leid", flüsterte sie in mein Ohr. Der Satz hallte in meinem Kopf, wieder und wieder.
Der Regen prasselte. Vom Himmel prasselte der Regen auf die schwarzen Regenschirme. Unter den Schirmen prasselte der Regen über die Gesichter. Papa hatte sein Handy in der Hand; er tippte irgendetwas darauf rum. Überall waren Gräber und Leute, es war schwarz und grau, alles war voll und leer. Ich bekam alles mit aber irgendwie auch nichts. Es tut mir Leid wieder und wieder Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid es tut mir leid estutmirleid estutmirleidestutmirleid
Mama hielt mir eine Blume hin. Eine weiße Rose. „Wenn du willst, kannst du sie ins Grab werfen, als Abschiedsgeschenk." Es tut mir Leid. Meine Hand griff nach der Rose. Es tut mir Leid. Durch den Regen in meinen Augen konnte ich nur verschwommen sehen. „Ich vermisse dich", flüsterte mein Mund, während meine Hand von der Rose losließ. Es tut mir Leid. Ein Dorn hatte meine Hand aufgestochen, doch ich spürte keinen Schmerz. Es tut mir Leid. Ich beobachtete den verschwommenen Blutstropfen auf meiner Hand. Es tut mir Leid. Als ich meine Hand drehte, fiel der Tropfen auf den Boden, wo auch schon die gefallenen Regentropfen von über und unter den Schirmen und meine tote Schwester waren. Es tut mir Leid.
[Wenn dir die Geschichte gefallen hat, schau gerne auch bei der Fortsetzung "sie verstehen" vorbei. ]
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