Mitternacht
Meine müden Beine trugen mich die letzten Stufen zur U-Bahn Station hinunter. Nicht weil sie konnten, sonden weil sie mussten. Ich hatte eine anstrengende Schicht im Krankenhaus hinter mir und fühlte mich, als könnten meine zitternden Beine mich nicht länger tragen. Mir war, als würde ich gleich mitten auf dem gefliesten Boden zusammenklappen.
Hier unten war es kühl und es roch nach Pisse und Kotze. Ich strich mir das blonde Haar aus der Stirn, welches ich in einem unordentlichen Knoten trug. Es wurde zunehmend dünner und vor einigen Tagen hatte ich die ersten graue Haare entdeckt. Ich war Anfang Dreißig und lebte zusammen mit zwei Katzen in einer kleinen Wohnung in einer echt schlechten Gegend. Meine Katzen, Purzel und Findus, waren Straßenkatzen gewesen. Ich hatte sie aus dem Tierheim und liebte sie sehr. Sie waren für mich wie Kinder, denn eigene Kinder hatte ich nicht.
Ich war nicht verheiratet, hatte keine Geschwister und meine Eltern waren schon lange verstorben. Zusammenfassend kann man sagen, dass ich ziemlich einsam war. Ich hatte nur wenige Freunde, die ich aber nur selten sah, weil ich zu oft arbeiten musste. Als ich nach der Schule Krankenschwester wurde, liebte ich meinen Beruf. Ich liebte es, Menschen zu helfen und beschwerte mich nie über die schlechten Arbeitsbedingungen. Aber jetzt, zehn Jahre später, war ich ausgelaugt und spürte, wie meine Kraft mit jedem Tag sank. Ich arbeitete jeden Tag mindestens zehn Stunden, hatte oft auch Nachtschichten oder am Wochenende Dienst. Die Bezahlung war schlecht und die Patienten und Patientinnen unfreundlicher, als je zuvor. Ich wusste nicht, wie ich das bis zur Rente aushalten sollte. Meine Arbeit, meine Wohnung, meine Einsamkeit, sogar mein Aussehen, all das frustrierte mich und ich wusste, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem ich nicht mehr konnte. An dem ich einfach aufgab. Aber ich hoffte, dass dieser Tag nicht allzu schnell kommen würde, schließlich musste ich doch funktionieren.
Ich sehnte mich nach meinem Bett und meinen Katzen. Müde ließ ich mich auf eine der harten Bänke fallen. Seufzend warf ich erst einen Blick auf meine Uhr und dann auf den Fahrplan. Ich müsste noch mindestens zehn Minuten auf eine U-Bahn warten, die in meine Richtung fuhr. Es war kurz vor zwölf und ich spürte, wie meine Augenlider schwer wurden. Zum Glück hatte ich morgen frei. Ich sah mich um. Außer mir war hier unten nur ein junger Mann. Er war etwa in meinem Alter, vielleicht zwei oder drei Jahre älter. Er war groß und schlank. Sein Haar war lockig, blond und etwas verstrubbelt. Seine Haut war gebräunt.Er trug einen dicken, dunklen Mantel und einen blauen Wollschal.
Wir hatten mittlerweile Mitte November und es war sehr kalt draußen. Manche sprachen schon davon, dass es am ersten Advent Schnee geben würde. Ich glaubte das nicht. Die ganze Stadt verfiel bereits seit Ende Oktober in Weihnachtsstimmung. Ich mochte das Fest nicht. Es erinnerte mich an meine Einsamkeit.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem Mann nehmen. Ich studierte ihn und sein Aussehen, vielleicht weil mir langweilig war und er der einzige andere Mensch. Vielleicht auch, weil er mich interessierte. Ich dachte an früher, als ich als kleines Mädchen in der Öffentlichkeit andere Menschen beobachtet und diese anschließend gezeichnet hatte. Aber das war schon lange her. Ich hatte zu wenig Zeit zum Studieren anderer Menschen und meine Zeichensachen verstaubten bei mir in irgendeinem Regal. In diesem Moment wünschte ich mir, dass ich ihn zeichnen könnte. Ich hing an seinen markanten Wangenknochen, dem überraschend weichen Kinn, den widerspenstigen Locken und den blauen Augen fest. Auf dem Rücken trug er einen Gitarrenkoffer und ich malte mir aus, wie er in einer belebten Einkaufsstraße stand und seine Lieder spielte. Bestimmt konnte er gut singen.
Plötzlich bemerkte er meinen Blick und fing an zu lächeln. Das Blut schoss mir in den Kopf und ich schaute schnell weg. Wohin? Auf die leeren Gleise? Meine Fingernägel? Meine Schuhe? Den Boden?
Schließlich entschied ich mich dafür, meine Fingernägel zu inspizieren und tat so, als würde ich gar nicht merken, dass er langsam auf mich zukam. Scheinbar interessiert warf ich einen kurzen Blick auf meine Uhr und registrierte beinahe gar nicht, dass es Mitternacht war. Seine Schritte waren leicht und federnd, trotzdem konnte ich nur auf sie achten. Mein Gesicht wurde immer heißer, während ich versuchte, auf meine Fingernägel zu starren und ihn zu ignorieren. Das war alles so peinlich. Warum hatte ich ihn nur so anstarren müssen? Es war ja nicht so, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Mann gesehen. Ich war schon mit vielen Männern ausgegangen, nur gehalten hatte nie etwas. Irgendwie hatte ich Schwierigkeiten, mich zu binden. Ich musste überlegen, wann ich das letzte Mal ein Date gehabt hatte. Das musste im September gewesen sein...September war auch schon zwei Monate her. Im Sommer hatte ich das letzte Mal Sex gehabt. Jetzt wo ich so darüber nachdachte, kam es mir schrecklich lange vor. Verdammt, ich würde als alte, frustierte Jungfer mit zwanzig Katzen sterben.
,,Hallo", sagte er und ich war wie verzaubert von seiner Stimme. Obwohl ich es mir still verboten hatte, hob ich nun meinen Kopf und blickte ihm in die blaugrünen Augen. Von nahem war er noch attraktiver. Der leichte Bartansatz, die reine Haut, die so weichen Locken, die ungewöhnlich zarten Lippen und diese verdammt wunderschönen Augen, brachten mich völlig aus der Fassung. Er war nichts gegen die Männer, die ich gedatet hatte. Dieser Mann vor mir sah aus wie ein Engel.
,,Hallo", erwiderte ich etwas überfordert und betrachtete ihn immer noch fasziniert. Wie konnte ein Mensch so unglaublich schön sein?
,,Darf ich mich zu dir setzen?", fragte er und lächelte mich mit seinen strahlend weißen Zähnen und den perfekten Lippen an. Ich nickte nur und konnte gar nichts sagen, aber wie könnte ich ihm das auch abschlagen?
Er setzte sich neben mich und ich roch seinen Geruch. Er roch nach Zimt, Wald, neuen Büchern und Kaffee. Ein Lächeln huschte mir über das Gesich. Vorsichtig legte er seinen Gittarenkoffer vor sich auf den Boden. ,,Wie heißt du?", fragte er mich. Ich nannte ihm meinen Namen.
,,Ein sehr schöner Name", sagte er und fuhr sich durch die blonden Locken. ,,Für eine schöne Frau."
Ich errötete und schaute verlegen zu Boden. Zu lange hatte ich kein Kompliment mehr erhalten. ,,Und wie heißt du?", fragte ich. Meine Stimme klang schüchtern und ich fühlte mich wieder, als wäre ich ein Teenager.
,,Elio", erwiderte er und das schöne Lächeln wurde noch ein wenig strahlender, solange dad möglich war.
,,Das ist auch ein schöner Name", entgegnete ich und spielte mit meinem Haar. ,,Sehr selten."
Er zuckte nur mit seinen Schultern und holte aus seinem kleinen Rucksack einen Thermosbecher hervor. ,,Hast du Durst?", fragte er mich und blickte mir in die Augen.
Ich biss mir auf die Lippen und betrachtete den Thermosbecher skeptisch. Schließlich hatte ich genügend Geschichten von Männern gehört, die ahnungslosen Frauen Drinks gaben, in die sie irgendwelche Sachen hineingemischt hatten und sie dann bewusstlos vergewaltigten. Aber musste ich mir da bei ihm Sorgen machen? Er sah aus wie ein Engel. Würde er sowas wirklich wagen? Andererseits hatte ich mich schon oft genug in anderen Menschen getäuscht.
,,Du brauchst keine Angst zu haben", meinte er sanft und schraubte den Becher des Deckels ab. ,,Da drinnen ist wirklich nur Kaffee. Mit Milch und Zucker." Er hielt mir den Thermosbecher hin. Es war tatsächlich nur Kaffee drin. Ich versuchte irgendwelche anderen Zutaten zu riechen, aber ich war mir sicher, dass man sowas nicht riechen konnte. Also nahm ich ihm den Thermosbecher aus der Hand und trank zögerlich einige Schlücke. Der Kaffee war warm, aber nicht zu heiß. Er fing sofort an, meinen eiskalten Körper von innen zu wärmen. Außerdem schmeckte er unfassbar lecker und nicht so wie die Plörre im Krankenhaus oder bei mir zu Hause.
,,Danke", meinte ich. ,,Der ist wirklich lecker."
,,Keine Ursache", sprach er und fügte nach einer kurzen Pause noch meinen Namen hinzu. Ich fing an zu lächeln und mir wurde ganz warm ums Herz. Aus seinem Munde klang mein Name so verdammt schön und außergewöhnlich, obwohl ich ihn dreißig Jahre lang für langweilig und zu häufig empfunden hatte.
,,Du siehst müde aus", sagte er und betrachtete mich besorgt. ,,Bekommst du nicht genug Schlaf?"
Ich lachte kurz auf und entgegnete bitterer, als eigentlich beabsichtig: ,,Ich bin Krankenschwester, Elio. Natürlich bekomme ich nicht genug Schlaf."
Sofort bereute ich das. Schließlich trug er ja keine Schuld daran, dass mein Beruf so schlechte Arbeitsbedingungen hatte. ,,Tut mir leid", meinte ich leise.
,,Nein", erwiderte er zärtlich und legte mir seine Hand auf den Unterarm. ,,Es muss dir nicht leid tun. Du übst einen sehr wichtigen Beruf aus und dafür bin ich dir sehr dankbar. Ich finde es wirklich sehr traurig, dass du für so harte Arbeit so schlecht bezahlt wirst."
Ich lächelte leicht. Normalerweile tat ich sowas einfach ab. Es war nett, wenn mir jemand das sagte, aber seine Worte würden auch nichts daran ändern. Aber bei ihm schien es ganz anders zu sein. Er war einfach anders. ,,Und du?", fragte ich interessiert. ,,Was arbeitest du?"
,,Nichts", gestand er. ,,Ich mache eigentlich nur Musik und versuche damit über die Runden zu kommen."
,,Spiel mir was vor, ja?", bat ich.
Er lächelte und holte seine Gittare hervor. Neugierig sah ich ihm dabei zu, wie er sie stimmte. Dann begann er ein Lied zu spielen. Es war Perfect von Ed Sheeran, eines meiner Lieblingslieder. Mit leiser Stimme begann er zu singen und und er konnte wunderschön singen. Ohne zu zögern, sang ich leise mit und wippte im Takt der Musik. In diesem Moment war ich unfassbar glücklich. Es gab nur uns beide. Elio spielte noch viele weitere Lieder auf seiner Gitarre und wir sangen, bis wir nicht mehr konnten. Irgendwann bat ich ihn um ein Blatt Papier und einen Stift. Er reichte mir ein Notenblatt und einen alten Kugelschreiber. Ich begann ihn zu zeichnen und während ich sein perfektes Portrait abzeichnete, erzählten wir uns Witze. An diesem Abend hatte ich so viel Spaß, wie lange nicht mehr. Elio war lustig, attraktiv, schlau und unfassbar süß. Er machte mir viele Komplimente und wir redeten auch über ernste Themen.
Irgendwann vergaß ich, warum ich überhaupt hier war. Es ging nur um Elio und mich. Ich bemerkte nicht, dass meine U-Bahn schon längst gekommen war. Um ein Uhr war mein Portrait schließlich fertig. Ich drückte es Elio in die Hand, aber er gab es mir wieder.
,,Behalte es, bis ich wir uns wiedersehen", sagte er lächelnd und drückte mir einen Kuss auf die Wange. In diesem Moment rollte eine U-Bahn ein, die zufälligerweise in meine Richtung fuhr. Er packte seine Gittare wieder weg und stand auf. Dann zog er mich sanft auf die Beine. Feindselig betrachtete ich die U-Bahn, die gleich weiter fahren würde. Ich wollte nicht los. Ich wollte bleiben. Bei ihm.
,,Du musst los", sagte er sanft. ,,Deine Katzen warten doch auf dich. Geh schlafen. Ruh dich aus."
,,Ich bin nicht müde", widersprach ich ihm und sah ihn flehend an. ,,Ich bin wacher als je zuvor. Und das liegt nur an dir, Elio. Komm doch bitte noch mit mir."
Er schüttelte mit dem Kopf und strich mir über mein Haar. ,,Das geht nicht."
,,Warum?", fragte ich den Tränen nahe.
,,Es geht einfach nicht", sagte er zärtlich.
,,Ich mag dich, Elio", erwiderte ich und sah ihm tief in die Augen.
,,Danke, Liebes", meinte er und strich mir über den Rücken. Seine Berührung sorgte dafür, dass sich die feinen Haare auf meinen Armen aufstellten und ich eine Gänsehaut bekam. ,,Ich mag dich auch, sehr sogar. Aber du musst jetzt los, sonst verpasst du noch deine Bahn."
Ich küsste ihn auf die Wange und lief mit gesenktem Kopf zur U-Bahn. Sie war leer. Ich setzte mich auf einen der ungemütlichen Sitze und blickte aus dem beschmierten Fenster. Elio war weg. Ich runzelte die Stirn, aber kurz danach schlief ich ein.
Am nächsten Morgen wurde ich von Purzel und Findus geweckt. Müde ging in die Küche und machte den beiden Futter. Danach zog ich mich schnell an und lief zum Bäcker. Während ich darauf wartete, dass ich dran kam, ging ich meine Bestellung noch einmal im Kopf durch. Ein Brötchen, ein Croissant und einen Becher Kaffee. Ich musste an Elio denken und sah mich in der kleinen Bäckerei um. Natürlich war er nicht hier, aber ich wünschte es mir. Ich wünschte mir, ihn wieder zu sehen, aber ich hatte leider keine Ahnung, wie ich das machen sollte Schließlich hatte ich seinen Nachnamen nicht und kannte auch nicht seine Nummer oder Adresse.
Ich seufzte leise und wartete geduldig darauf, dass die alte Frau vor mir mit ihrer Bestellung fertig war. Eher desinteressiert schaute ich auf den Zeitungsstapel, der ausgelegt worden war. Die meisten Schlagzeilen interessierten mich nicht, aber da war eine, die mich irgendwie in ihren Bann zog.
Prozess des Mörders eines Straßenmusikers beginnt nach einem Jahr
Gestern vor einem Jahr ereinigte sich eine furchtbare Tat an der U-Bahnstation des Elizabethkrankenhauses. Es ist Mitternacht und nur noch wenige Menschen befinden sich auf der Station, als plötzlich ein Streit zwischen zwei jungen Männern ausbricht. Sie beginnen sich zu prügeln und schließlich zieht einer der beiden ein Messer. Zeugen berichten, wie ein junger Mann auf die beiden zustürmt, um dem einen das Messer aus der Hand zu reißen. Aber es geht alles zu schnell und der Bewaffnete ist zu stark. Er schubst den jungen Mann von sich, er stolpert und landet auf den Gleisen. In diesem Moment fährt eine U-Bahn ein. Es ist zu spät, der Fahrer kann nicht mehr bremsen und ein Unschuldiger stirbt. Bei dem jungen Mann handelte es sich um den 33-jährigen, italienischstämmigen Straßenmusiker Elio Franco. Am heutigen Tage beginnt nach 366 Tagen endlich die Gerichtsverhandlung für den Täter. Elio Francos Familie ist aus Locarno am Lago Maggiore angereist, um den Prozess mitzuverfolgen.
Fassungslos starrte ich auf den Zeitungsartikel. Elio war seit über einem Jahr tot. Ich hatte letzte Nacht mit einem Toten gesprochen.
(2295 Wörter)
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