Freiheit
,,María Gloriana Sánchez García!", rief ihre Mutter und hämmerte gegen die Holztür. ,,Ich sage es noch einmal. Komm auf der Stelle nach draußen!"
Die Angesprochene seufzte leise. Ihre Hände klammerten sich noch stärker um die Armlehen. Sie würde nicht nach draußen kommen. Sie würde dieses verdammte Zimmer nie wieder verlassen, für immer auf diesem verdammten Stuhl sitzen. María biss sich auf die Lippen. Sie würde ihrer Mutter auch beim hundertsten Mal nicht antworten. Im Zimmer war es düster. Marias Augen hatten sich jedoch an das spärliche Licht gewöhnt, schließlich saß sie schon länger hier drinnen. So konnte sie die gestreifte Tapete sehen und den Kronleuchter an der Decke. Es gab ein Fenster mit Vorhängen aus Spitze davor. Mitten im Raum stand ein großes Doppelbett. Über der Bettwäsche lag eine blütenreine Decke. Es war noch nie benutzt worden. Noch nie hatte jemand in diesem Bett geschlafen. Neben dem Bett standen zwei Nachtschränke. Darüber hingen zwei kleine Lampen und ein großes Kreuz. Der am Kreuz hängende Jesus starrte hinunter auf das Bett und schien geradezu darauf zu warten, dass sich zwei Menschen in das Bett legten.
María verabscheute diesen Raum mit jeder Faser ihres Körpers. Früher hatte sie ihn geliebt, doch jetzt hasste sie ihn.
,,Maria, kannst du mich hören?", fragte eine weitere Stimme. Es war die ihrer Schwester Elvira. Elvira war vier Jahre älter als María, war bereits verheiratet und hatte zwei Kinder. Sie war gerade mit dem dritten schwanger. Maria antwortete nicht. ,,Maria?", fragte Elvira noch einmal. ,,Bitte antworte mir...nein, Alejandro. Nicht jetzt, Mamá muss jetzt etwas mit Tía María besprechen. Geh zu deiner Schwester und Abuela. Komm, sei brav und lass mich bitte für einen Moment in Ruhe, ja?"
Maria hörte, wie ihr dreijähriger Neffe Alejandro wütend auf den Boden stampfte und aufjaulte. ,,So hat dich deine Mamá aber nicht erzogen, Alejandro!", keifte Marías Mutter. ,,Du bist ja so schlimm wie deine Tante damals. Jetzt komm, chico."
Das Gestampfe und Geheule hörte auf. Sie hat ihn wohl in die Küche genommen, dachte María. Du bist ja so schlimm wie deine Tante damals. María seufzte leise. Ihre Mutter hatte sie noch nie gemocht. Vielleicht hatte sie sie eines Tages, vor vielen Jahren, geliebt aber diese Liebe war über die Jahre verflogen. Seit sie denken konnte, war María nur eine Enttäuschung für ihre Mutter gewesen. Nach zwei Söhnen, die mittlerweile sehr erfolgreich waren und ihrer perfekten und wunderschönen Tochter Elvira ließ Valeria García Rodrigo kein gutes Haar an ihrem jüngsten Kind. Immer wieder hieß es: María, streng dich doch an wie Enrique, María, warum bist du nicht so ordentlich wie deine Schwester?, María, benimm dich wie deine Geschwister oder María, sei gefälligst so freundlich wie Francesco!
Immer wenn etwas im Hause Sánchez García kaputt ging, war María Schuld. María, die immer alles kaputt machte. María, die Lügnerin. María, das schwarze, kleine, dumme Schaf. Sie konnte sich nicht einmal an das letzte Lob ihrer Mutter erinnern. War es das erstaunte, kleine, kühle Lächeln, als sie die beste Note in der Klasse nach Hause gebracht hatte? Du bist ja doch nicht so dumm... aber deine Geschwister sind immer noch besser als du.
,,Bitte María", begann Elvira plötzlich wieder. María hatte fast vergessen, dass ihre Schwester vor der Tür stand. ,,Komm schon", flehte sie, ,,rede mit mir."
Niemals, dachte María. Sie versuchte sich ihre Schwester vorzustellen. Groß und schlank mit reiner, kaffeefarbenen Haut und langen schwarzen Locken. Ihr schöner Körper, der auch nach zwei Schwangerschaften perfekt aussah, in einem hübschen, geblümten Kleid, welches nicht zu viel Haut zeigte und eine Kreuzkette um den Hals. María sah die klugen Augen ihrer Schwester vor sich und erinnerte sich daran, wie ihr ihre Schwester früher immer geholfen hatte. Sie waren ein Herz und eine Seele gewesen, bis sie sich irgendwann voneinander entfernt hatten. Elvira war wie ihre Mutter geworden und hatte ebenfalls angefangen, auf ihrer Schwester herumzuhaken. Ihr letztes, richtiges Gespräch war schon Monate her, wenn nicht sogar schon ein Jahr. María ging ihrer Schwester aus dem Weg und das war ja auch nicht weiter schwer.
Schließlich war Elvira nicht oft im Haus ihrer Eltern. Sie war den ganzen Tag bei sich und kümmerte sich um ihre Kinder. Marías Schwester hatte kein eigenes Leben. Sie war den ganzen Tag nur mit ihren Kindern und abends mit ihrem Ehemann beschäftigt. Der Ehemann, der nur bei der Arbeit war und sich irgendwo herumtrieb. Der Ehemann, der sich um nichts kümmerte und Elvira die ganze Arbeit überließ.
,,Komm schon, María", begann Elvira wieder. ,,Hugo ist doch eine gute Wahl."
,,Hugo ist ein Idiot." Genau das wollte María ihrer Schwester in diesem Augenblick entgegen schleudern. Es war schließlich die Wahrheit. Hugo López Villanueva kam aus dem selben kleinen Dorf, aus dem auch María und ihre Familie kamen. Er war etwas älter als María und laut ihrer Mutter der perfekte Schwiegersohn. Hugo war schließlich Katholik, gebildet, freundlich und er würde eines Tages den Hof seines Vaters erben.
,,Seine Familie ist doch so wohlhabend. Stell dir doch mal vor, María. Du könntest so schöne Kleider tragen. Er würde dir so viel Schmuck schenken, wie du willst. Es würde immer das Beste zu Essen geben. Sie haben so viele Angestellte, du müsstest dich um rein gar nichts kümmern. Und wenn du einmal Kinder hast, werden sie im Wohlstand aufwachsen. Sie hätten schöne Kleidung, immer genug zu essen und gute Bildung. Willst du das nicht für deine Kinder?"
Dann hatte er halt viel Geld. Ich werde ihn aber auch nicht lieben, wenn er mir teure Geschenke macht. Und wer hat überhaupt gesagt, dass ich sowie du Kinder haben möchte, dachte María verbittert. Sie war siebzehn, gerade erst mit der Schule fertig und sie konnte sich tausend andere Dinge vorstellen, die schöner waren als die Rolle der aufopfernden Ehefrau und Mutter. Zu Elvira passte diese Rolle wunderbar. Sie war schon immer ein Mensch, der viel Liebe zu geben hatte, vielleicht zu viel. María war da anders. Ihr fiel das Lieben schwer. Noch nie hatte sie einen anderen Menschen wirklich geliebt, oder?
Doch, da war jemand gewesen. Aber dieser jemand war nun in einer anderen Welt. Eine Welt, in die María auch oft eintauchen wollte, nur damit sie dieser hektischen, unfairen, kalten, grausamen Welt entkommen und diese eine, besondere Person wiedersehen konnte. Aber das war nicht so einfach. Nichts in Marías Leben war einfach. Immer musste sie um alles kämpfen und dann verlor sie trotzdem. Genauso wie sie gegen ihre Verlobung mit Hugo angekämpft hatte und ihre Mutter sie trotzdessen einfach so an seine Familie übergeben hatte. María fühlte sich von ihrer Mutter verraten, im Stich gelassen. Sie hatte sie einfach Hugo und seiner Familie überlassen. Es fühlte sich an, als wäre María von ihr verkauft worden. Wie ein verdammtes Stück Fleisch.
María seufzte leise. Ihr Blick glitt wieder in dem Raum umher. Dieses Zimmer war als ihr gemeinsames Schlafzimmer gedacht, zusammen mit Hugo. Hugo wollte in der Nähe des Hofes seiner Eltern ein Haus für sie beide errichten und bis dieses fertig war, durfte er im Haus seiner Ehefrau leben. Das hatte ihm Marías Mutter angeboten. María war ganz erstaunt gewesen. So viel Gastfreundlichkeit kannte sie doch sonst nicht von ihrer Mutter. Hugo hatte sofort mit einem breiten Lächeln zugestimmt und María begehrend angestarrt, so als könnte er es kaum erwarten, mit ihr in diesem Zimmer zu schlafen. Mit ihr zu schlafen. María war bei diesem Gedanken schlecht geworden. Sie konnte Hugo nicht ausstehen und in ihr zog sich alles bei dem Gedanken zusammen, mit ihm schlafen zu müssen. Lieber würde sie sterben.
,,María?", fragte Elvira leise, ,,bist du noch da?"
Wo soll ich bitte sein?, fragte María sich genervt. Konnte ihre Schwester nicht einfach gehen?
,,Du verpasst noch deine eigene Hochzeit. Alle warten schon auf dich. Wir müssen doch gleich zur Kirche. Hugo ist sicher enttäuscht, wenn er hört, dass du ihn nicht heiraten willst. Er freut sich doch schon so auf dich."
María schüttelte ungläubig den Kopf. Natürlich beachtete niemand ihre Gefühle. So weit kam es ja noch. Sie war doch allen egal. Noch nie hatte sich irgendjemand aus ihrer Familie darum geschert, wie es ihr ging oder was sie fühlte und dachte. Zumindest niemand, der noch am Leben war. Hugo würde also enttäuscht sein, na und?
Kurz fragte María sich, ob ihre Mutter nicht Recht hatte mit all den Anschuldigungen. War sie wirklich eine herzlose, unchristliche Egoistin, die sich keinen Centimo um andere kümmerte?
Nein, entschied María schließlich. Ein Leben lang war ihr eingeredet worden, nicht gut genug zu sein. Von ihrer Mutter, von ihren Brüdern, indirekt von ihrer Schwester. Damit würde jetzt Schluss sein. Sie war genug und hatte jeden Grund, sich nicht um Hugo zu kümmern. Er interessierte sich schließlich auch nicht für sie. Niemand interessierte sich je für María.
,,Möchtest du Hugo nicht heiraten, weil...weil du keine...Jungfrau mehr bist?", fragte Elvira plötzlich mit gedämpfter Stimme und María war sich ziemlich sicher, dass ihre Schwester gerade mit rosa Wangen vor der Tür des Schlafzimmers stand. María seufzte leise.
,,Es ist okay, María. Ich verstehe das. Bitte, du brauchst keine Angst haben. Man merkt es gar nicht, auch wenn man es schon einmal getan hat...verstehst du? Es blutet eigentlich nicht. Hugo wird es nicht auffallen. Sowas kann ihm gar nicht auffallen. Man sieht es nicht, weißt du?...Vertrau mir, María. Ich weiß es."
Überrascht hörte María ihrer Schwester zu. Elvira hatte vor ihrer Hochzeit schon mit einem anderen Mann geschlafen? Die kreuzbrave und religiöse Elvira, die ihrer Schwester schon vor der Pubertät gepredigt hatte, dass Selbstbefriedigung schlecht sei und dass man als Frau mit keinem anderen als dem eigenen Ehemann intim werden sollte? Das Mädchen überlegte kurz. Ihr fiel niemand ein, mit dem ihre Schwester es getan haben könnte. Vor ihrem jetzigen Ehemann hatte Elvira keinen Freund gehabt, jedenfalls hatte María von keinem gewusst. Ihre fromme Schwester hatte sich wahrscheinlich größte Mühe gegeben, ihr Geheimnis geheim zu halten. Und jetzt hatte sie es María einfach so verraten.
María, die bekannt dafür war, wie berechnend sie war. Früher hatte sie die Geheimnisse ihrer Verwandten gegen sie verwendet und trotzdem hatte es ihr nichts als noch mehr Ärger gebracht. Es war ein verdammter Teufelskreis, aus dem María seit ihrer Geburt nicht mehr herauskam. In diesem Moment fühlte sich María furchtbar. Ihre Schwester hatte ihr gerade ihr Herz geöffnet und ihr etwas erzählt, was vorher bestimmt keine weitere Menschenseele gehört hatte. Und was tat sie? Tröstete sie ihre Schwester, versuchte sie irgendwie zu helfen oder handelte endlich?
Nein, natürlich nicht. Sie versteckte sich, feige wie sie war, in diesem Zimmer und tat nichts. Nichts, verdammt. Sie war feige.
Nein, widersprach María sich. Ich bin alles andere als feige. Ich bin wild, unberechenbar, frei, mutig, selbstbewusst, aktiv, stur,...Ich könnte handeln, aber ich tue es nicht. Ich werde abwarten, die Zeit vergehen lassen und dann wird mir schon eine gescheite Lösung einfallen. Immer wieder sagte sie sich diese Verse auf. María würde eine Lösung finden, sie müsste eine finden. Schließlich konnte sie nicht für immer in diesem Zimmer hocken.
María seufzte wieder leise und strich sich eine dunkle Locke hinter das Ohr. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im gegenüberliegenden Spiegel, der dort an der Wand hing. María trug ein weiß-rosanes Hochzeitskleid und einen Blumenkranz aus weißen und rosafarbenen Blumen auf dem Kopf. Sie hatte ihr Spiegelbild nie schön gefunden. Immer hatte sie irgendetwas gestört, ob es nun ihre Haare waren, ihre Nasen, ihre Augen oder doch dieser kleine, aber hartnäckige Pickel. Sie hatte sich nie schön gefunden. Wahrscheinlich lag es daran, dass ihre Mutter sie fast täglich daran erinnert hatte, dass sie im Gegensatz zu Elvira nur ein kleines hässliches Entlein war.
Im Spiegel fiel ihr auch wieder Jesus am Kreuz auf und beinahe willkürlich musste sie wieder daran denken, was ihre Schwester ihr gebeichtet hatte. Religion hatte in Marías Leben immer eine große Rolle gespielt. Ihre Familie war streng katholisch und María war jeden Sonntag in der Kirche des kleinen Ortes. Jeden zweiten Sonntag schleppte ihre Mutter die ganze Familie zur Beichte. Besonders ihre beiden Töchter hatte Valeria García Rodrigo sehr fromm erzogen und Mariá wusste, dass diese streng religiöse Erziehung den beiden mehr Schlechtes als Gutes gebracht hatte. Sehr früh hatte ihre Mutter den beiden gepredigt, wie wichtig es war, dass man seine Sexualität nur mit dem Ehemann auslebte. Geschlechtsverkehr vor der Ehe galt für sie als absolute Sünde.
Marías Blick hing an dem Kreuz. Sie glaubte, dass es irgendetwas wie einen Gott gab aber sie glaubte auch, dass dieser Gott jeden gleich liebte, egal ob man bis zur Ehe gewartet hatte oder man besonders religiös war. Auch ihre Mutter sagte das ständig und trotzdem schimpfte sie wenige Augenblicke über Homosexuelle. Ihrer Meinung nach war Homosexualität nicht natürlich und nicht von Gott gewollt. María fand das Schwachsinn. Sie konnte Menschen nicht leiden, die ihre abstrusen Meinungen mit ihrer Religion rechtfertigten.
Auf einmal klopfte es wieder an der Tür. Das Klopfen wurde immer lauter, immer fordernder, bis es irgendwann ein Hämmern wurde. Jemand hämmerte mit seinen Fäusten an die Tür.
,,Zum Teufel mit dir, María! Komm da sofort raus!", brüllte ihr ältester Bruder Enrique. Seine Stimme lallte schon gewaltig. Wahrscheinlich hatte er schon wieder zu viel getrunken. Enrique war das absolute Vorzeigekind ihrer Mutter. Er war Anwalt, war verheiratet, hatte Kinder und ein schönes Haus. Mittlerweile versuchte er mit zu viel Alkohol, Kettenrauchen und ständigem Glückspiel zu verarbeiten, dass seine Kanzlei nicht besonders gut lief. Enrique wurde schnell aggressiv und jeder wusste, dass er seine Frau und seine Kinder schlug. Jedoch tat niemand etwas dagegen.
Wieder klopfte Enrique. Das sieht ihm ähnlich, dachte María mit verbitterter Miene. Ihr Bruder war schrecklich ungeduldig. Es war, als wären seine Nerven immer bis aufs Äußerste gespannt und könnten jeden Moment mit einem lauten Knall und einem plötzlichen emotionalen Gefühlsausbruch zerreißen. Enrique war unberechenbar, sogar unberechenbarer als María und das mochte schon etwas heißen. Er war eine tickende Zeitbombe aber anders als bei Mariá hatte ihre Mutter vollstes Verständnis für das aufbrausende, wilde Temperament ihres Sohnes. Er sei schließlich ein vielbeschäftigter und gestresster, aber trotzdem natürlich außerordentlich erfolgreicher Mann und irgendwo müsste er all die gestauten Gefühle ja ablassen.
Ein weiteres Poltern und noch mehr Gebrüll. María fragte sich, wie ihr Bruder überhaupt noch sinnvolle Wörter und einem anständigen Satz aneinanderreihen konnte. Er wirkte furchtbar betrunken.
,,Weißt du eigentlich, wie viel wir für diese gottverdammte Hochzeit ausgegeben haben? Weißt du kleine, undankbare Hure eigentlich, was ich für dich getan habe, damit du diesen Hugo heiraten kannst, hm? Ich habe mich vor dieser geizigen Familie entwürdigt, sie förmlich angebettelt, dem gesamten Clan bis zu meinem Ende meine Dienste als Anwalt vor die Füße gelegt, ihnen das beste Essen und den besten Wein gebracht. Und für was all meine selbstlosen und aufopfernden Mühen?! Für nichts, du verdammte, kleine Mistgöre! Siebzehn Jahre lang haben sich alle in diesem Haus um dich gekümmert, obwohl wir selbst nicht viel hatten und jetzt hast du die Chance, dich dafür zu bedanken, deiner Familie einen guten Ruf und eine bessere finanzielle Lage zu verschaffen. Die Chance, dieser Familie endlich Ehre zu machen, anstatt dich auf unsere Kosten durchfüttern zu lassen und nichts als nur Chaos anzurichten. Aber was tut die ach so feine María? Schließt sich im Schlafzimmer ein, weil sie sich zu fein ist, um zu heiraten!
Ich sag dir mal eines. Aus dir kann nichts werden, wenn du nicht heiratest. Du kannst nichts, du bist nichts wert. Ich glaube, du würdest sogar eine schlechte Ehefrau und Mutter abgeben. Schäm dich. Verflucht sollst du sein, du kleine Missgeburt. Ich weiß nicht, was Mamá und Papá falsch gemacht haben, dass Gott sie mit so einer Höllenausgeburt wie dir bestraft hat. Sie hätten dich abtreiben sollen. Das wusste ich schon am Tag deiner Geburt, María! Ich habe keine zweite Schwester mehr!"
Seine Stimmlage steigerte sich bei dieser Rede in unermessliche Höhen und María hatte das Gefühl, das Fenster wackelte von der Gewaltigkeit der gebrüllten Worte. Vor der Tür stand Enrique wahrscheinlich mit einem Kopf von der Farbe einer Tomate oder Pflaume. María schloss die Augen und ließ die Worte über sich ergehen. Sie hatte schon schlimmere Reden von Enrique gehört. Ehrlich gesagt hörte sie ihrem Bruder gar nicht mehr richtig zu. Wenn er sie beschimpfte, verletzte sie das auch gar nicht mehr. Das hatte es früher mal, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Doch das war schon lange her, sehr lange. Enrique war ihr egal und so war es ihr auch vollkommen egal, dass er sie gerade aus der Familie verbannt hatte. Sie hatte eh immer das Gefühl gehabt, in die falsche Familie hineingeboren worden zu sein.
,,Verreck doch darin, du miese Verräterin!", brüllte Enrique noch einmal in einer ungehörigen Lautstärke und dieses Mal zitterte die Fensterscheibe des Schlafzimmers tatsächlich. Dem Brüllen folgte ein letztes aggressives Poltern. Enrique rammte seine Faust in das Holz und jaulte dann auf. Mit einem befriedigten Lächeln hörte María,wie ihr Bruder vor Schmerz fluchte und heulte. Er klang dabei wie ein kleines Kind. Dann verschwanden seine Schritte endlich.
María fühlte sich plötzlich furchtbar müde und ausgelaugt. Mit einem seltsam dumpfen Gefühl stand sie auf und schlich, ohne irgendetwas zu fühlen, auf das Bett zu. Kurz betrachtete María mit leerem Blick die blütenweißen, reinen Laken. Dann spürte sie, dass sie heute noch nichts gegessen und getrunken hatte und auf einmal fiel ihr auch die Hitze in dem Zimmer auf. Das Mädchen spürte, wie ihr schwindelig wurde. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie kippte noch im letzten Moment auf das Bett.
Im Traum begegnete María wieder ihrem Vater Pablo. Sie träumte von einem Ereignis, welches tatsächlich passiert war. Es war die schönste Erinnerung an ihren Vater. Zwar waren all ihre Erinnerungen an ihren Vater schön, aber diese hier war die wunderschönste, reinste und vollkommenste Erinnerung von allen. Der Traum fühlte sich ungeheuerlich echt an aber trotzdem wusste María, dass es sich um einen Traum handelte und nicht um die Wirklichkeit.
Die Erinnerung fand an Heiligabend 1955, also vor zwei Jahren, statt. María hatte viele schlechte Erinnerungen an diesen Tag. Ihre Mutter hatte sie den ganzen Tag durchs Haus gescheucht und ihr keine freie Minute gelassen, doch dann hatte ihr Vater sie in sein Arbeitszimmer gerufen. Marías Vater Pablo war Schriftsteller. Ihre Mutter hatte ihn noch während des Studiums geheiratet und wahrscheinlich geglaubt, dass er eines Tages viel Geld haben würde und berühmt sein würde. Doch dazu kam es nie. Obwohl María fand, dass ihr Vater ein großartiger Autor war, verkauften sich nur wenige von seinen Romanen. Um Geld für seine Familie zu verdienen, schrieb er für faule Studenten aus reichen Familien Aufsätze und für Zeitungen aus der Umgebung Artikel über Literatur. Er nahm jede Art von Arbeit an, denn er war sehr geschickt, obwohl sein Herz immer nur für die Schriftstellerei brannte. Nach seinem Tod kam heraus, dass Pablo so viel Geld gespart hatte, dass all seine Kinder studieren konnten.
María kam also an diesem Tag in das Zimmer ihres Vaters. Er stand rauchend am Fenster, ein Buch in der Hand. Immer wenn er zu Hause war, saß ihr Vater an seiner Schreibmaschine und schrieb oder er las. Selten machte er eine Pause zum Essen, nicht einmal schlafen tat er genug. Rauchen und Teetrinken machte er nebenbei. Es war so, als wäre Pablo nur fürs Arbeiten, Lesen und Schreiben auf dieser Welt. María fand das sehr bewundernswert. Man konnte nun denken, dass ihr Vater deshalb kein Familienmensch war und sich nicht um seine Kinder kümmerte. Aber das war alles andere als wahr. Für seine Kinder, die er von ganzem Herzen liebte, stand die Tür des Arbeitszimmers immer offen. Pablo war ein schüchterner und introvertierter Mann, der Büchern Menschen vorzog. Mit seinen Kindern kam er immer gut klar, mit seiner Frau eher weniger. María wusste nicht, warum ihre Eltern geheiratet hatten. Vielleicht wussten sie es selber nicht mehr, jedenfalls liebten sie sich nicht und verbrachten so wenig Zeit wie möglich miteinander. Marías Vater schlief und aß auch in seinem Arbeitszimmer. Wenn man etwas von Pablo wollte, dann musste man zu seinem Arbeitszimmer. So war das einfach.
Sie musste lächeln, als sie ihren Vater sah. María liebte ihn von ganzem Herzen und er war der einzige Mensch in dieser Familie, den sie leiden konnte-abgesehen von ihrem Bruder Francesco. Ihr Vater lächelte ebenfalls. ,,Da bist du ja, meine Kleine", sagte er. Seine Stimme war so voller Wärme und Liebe, dass María ganz warm um ihr Herz wurde. All die Jahre, in denen ihre Mutter sie nicht geliebt hatte, wurden durch wenige sanfte Worte ihres Vaters ausgeglichen. Wenn ihre Mutter sie zum Weinen gebracht hatte, musste ihr Vater sie bloß in den Arm nehmen und ihre Seele war wie geheilt. Dann strahlte María wieder. Im Traum war das ganze Arbeitszimmer in goldenes Sonnenlicht getaucht und ihr Vater ebenfalls. Er sah aus, als besäße er einen Heiligenschein. Doch tatsächlich war an diesem Tag gar kein Sonnenschein. María kam es nur so, weil sie all ihre Erinnerungen an ihren Vater mit Liebe und Wärme verband.
,,Ja, Papá ?", fragte sie lächelnd und betrachtete ihren Vater neugierig. Pablo war ein hagerer, großer Mann mit dunklen Augen, kaffeebrauner Haut und einer Nickelbrille. Er war immer glattrasiert und seine früher einmal schwarzen Locken waren nun grau, fast weiß, aber immer noch voll. Er trug einen Schlafanzug. Obwohl er erst Anfang fünfzig war, sah er alt und krank aus. Tatsächlich litt ihr Vater seit einigen Wochen an einer hartnäckigen Grippe.
,,Du solltest eigentlich im Bett sein", tadelte María ihn, aber anders als ihre Mutter in einem liebevollen und fürsorglichen Ton.
,,Du hast ja recht, meine Kleine", meinte Pablo und lief langsam auf die ungemütlich aussehende Couch zu. Mit einem Stöhnen setzte er sich hin und María legte ihm eine Wolldecke über die Beine. Sie brachte ihrem Vater seinen Aschenbecher und seine Tasse Tee. Dann setzte sie sich zu ihm auf das Fußende der Couch.
,,Hast du deiner Mutter geholfen?"
María nickte nur betrübt und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Überall waren Bücherregale. Mitten im Zimmer stand ein alter Sekretär mit einer Schreibmaschine. An dem einzig freien Platz an der Wand hing das Jesuskreuz, unter dem eines Tages ein Bett stehen sollte.
,,Gut", erwiderte Pablo und hustete heftig. ,,Du bist ein sehr gutes Mädchen, María."
María lächelte leicht und half ihrem Vater beim Trinken, denn seine Hände zitterten.
,,Ich hoffe, du hast schöne Weihnachten", sagte ihr Vater schließlich. ,,Ich werde dieses Jahr nicht rauskommen, auch wenn nachher die Verwandten kommen. Schließlich möchte ich niemanden anstecken."
María nickte und versuchte ihre Enttäuschung darüber zu verbergen. Heiligabend und der sechste Januar, an dem es die eigentliche Bescherung gab, waren die einzigen Tage, an denen ihr Vater mit der gesamten Familie an einem Tisch saß. Eine Weile schwiegen sie beide. Ihr Vater, der immer heftiger hustete, trank drei Tassen Tee und rauchte dann eine weitere Zigarette. Irgendwann sagte er: ,,Ich werde nicht mehr lange leben, María. Ich werde bald sterben...das spüre ich schon."
,,Was?", fragte María fassungslos. Sie spürte, wie sie einen Kloß im Hals bekam und ihr Tränen in die Augen stiegen.
,,Diese Krankheit frisst mich auf. Ich habe keine Kraft mehr, mein Kind. Vielleicht ist das auch gut so."
,,Sag sowas nicht", flüsterte María, während sich die erste Träne aus ihrem Augenwinkel löste. ,,Ich will nicht, dass du gehst. Du musst bleiben, Papá. Für mich!"
,,Es tut mir leid, mein liebes Kind", sagte Pablo leise. Er nahm sie in den Arm, strich ihr über das Haar und küsste sie auf die Stirn. María weinte voller Trauer und es zerbrach ihm das Herz, sie so zu sehen. ,,Ich werde euch allen etwas vererben", meinte er schließlich. María liefen immer noch salzige Tränen über das Gesicht. ,,Und dir, meiner Kleinen, möchte ich jetzt schon etwas schenken."
,,Was denn?", fragte María mit heiserer Stimme.
Ihr Vater griff in die Tasche seines Schlafanzuges und holte eine zarte, goldene Kette hervor. An ihr war ein kleiner goldener Mond zu sehen. ,,Sie gehörte meiner Mutter. Nun sollst du sie haben."
,,Danke", hauchte María und betrachtete die Kette bewundernd. Sie war wunderschön. María kannte ihre Großmutter Luna nur von Fotografien, aber sie war eine wunderschöne Frau gewesen und ihr Vater sagte immer wieder, wie ähnlich sich María und Luna waren. Ihr Vater legte ihr die Kette an und sagte lächelnd: ,,Frohe Weihnachten, María."
,,Frohe Weihnachten", erwiderte María leise und umarmte ihren Vater lange. Er starb noch in der selben Nacht.
María wurde von einem Klopfen am Fenster geweckt. Verschlafen rieb sie sich die Augen, streckte sich und überprüfte, ob die Kette ihrer Großmutter noch immer an ihrem Hals hing. Dann ging sie zum Fenster und sah überrascht, dass ihr Bruder Francesco davor stand. Francesco war älter als Elvira aber jünger als Enrique. Er war schlank, zierlich, lieb und sehr hübsch. Außerdem immer freundlich, aber auch schüchtern. Er war Pablo von den Geschwistern am ähnlichsten und schon immer Marías Lieblingsbruder gewesen. Francesco lebte in Valencia als Komponist. Er hatte María als Einzige anvertraut, dass er schwul war und einen Geliebten in der Stadt hatte.
María öffnete das Fenster und fragte verwundert: ,,Was machst du denn hier?"
Francesco lächelte leicht und erwiderte: ,,Ich bin hier, um dich abzuholen. Komm mit mir nach Valencia."
María musste selbstverständlich nicht lange überlegen. Ihr Bruder gab ihr unauffälligere Kleidung und das Hochzeitskleid legte sie auf dem Bett ab. Als Hugo und seine Familie auftauchten, um María zu holen, war diese schon längst mit Franceso auf dem Weg in die Stadt.
Als sie in dem stickigen Bus nach Valencia saß, fühlte María sich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig frei. Sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte.
(4240 Wörter)
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