Der Sommergast (Teil 1)
Obwohl es schon so lange her ist, weiß ich noch ganz genau, wann ich ihn zum ersten Mal traf.
Es war ein warmer, unglaublich warmer Sommertag, untypisch für unsere eigentlich milden Sommer. Jedenfalls war es so warm, dass ich es fast nicht aushielt. Meine Freunde und meine Familie gingen alle an den Strand unseres Ortes und genossen das kalte, erfrischende Nass der Ostsee und den leichten, aber frischen Wind, der ihnen die verschwitzten Haare für wenige, wunderbare Sekunden aus dem Gesicht strich.
Ich hingegen saß auf dem Dorfplatz und schwitzte mich beinahe zu Tode. Die Luft flimmerte und niemand war zu sehen. Über die ganze Dorfstraße, die sich von Norden bis Süden unseres kleinen Ortes zog, fuhr kein einziges Auto. Alle waren am Strand, genossen den Sommer, das Meer. Nur ich musste hier sitzen, ganz allein und auf diesen doofen Gast warten. Schönen Dank auch, dachte ich mir gefrustet.
Mein Vater arbeitete als Fischer und ich hatte drei jüngere Geschwister. Um etwas Geld nebenher zu verdienen, vermieteten wir im Sommer unsere Mansarde an junge Familien, Touristen, Studenten. Wir hatten schon viele Leute zu Gast gehabt, die uns die unterschiedlichsten Geschichten zu erzählen hatten. Ich mochte die Sommergäste wirklich. Sie waren interessant, freundlich und durch ihr Geld bekam ich am Ende des Sommers neue Kleidung und Bücher. So konnte ich immer einen guten Eindruck in der Schule machen. Ich war siebzehn, schlank, hellblond, mit blasser Haut, einigen Sommersprossen und grünen Augen. Nach dem Sommer würde ich in die zwölfte Klasse kommen. Ich ging auf ein Gymnasium in der Stadt.
In der Schule war ich beliebt und recht gut. Ich hatte eine Clique von ungefähr fünf Jungen, in der ich der Stillste war. Allerdings wussten meine Freunde, dass ich für alles zu haben war, wenn sie mal wieder irgendwo hinwollten. Drei von ihnen hatte eine Freundin. Einer von ihnen, Karl, war sogar schon mit seiner Freundin Anna verlobt. Mein bester Freund Michael lebte als Einziger wie ich hier und nicht in der Stadt. Immer wenn wir irgendwo feierten, hatte er ein neues Mädchen an seiner Seite.
Ich interessierte mich nicht für Mädchen, um ehrlich zu sein.
Ich wedelte mir mit einer Zeitung, die ich immer wieder unkonzentriert überflog, damit es so aussah, als hätte ich etwas zu tun, Luft zu. Dann holte ich aus der Brusttasche meines kurzärmligen Hemdes mein Zigarettenetui hervor. Der weiße Leinenstoff klebte nass an meiner Brust und ich hatte das Gefühl, gleich umzukippen. Ich öffnete das Etui, nahm eine Zigarette heraus und holte noch ein Feuerzeug hervor. Dann zündete ich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Gedankenverloren schloss ich die Augen, rauchte weiter und fächelte mir auch mit der Zeitung weiter Luft zu. Ich wäre wahrscheinlich im Sitzen eingedöst, wenn nicht plötzlich ein Bus gekommen wäre.
Schnell schlug ich meine Augen wieder auf, musterte den Bus. Es saßen nur wenige Menschen darin. Nur ein paar alte Frauen, die wahrscheinlich in der Stadt Einkäufe erledigt hatten und ein junger Mann. Er fand sofort meine Aufmerksamkeit. Der junge Mann saß am Fenster und war in ein Buch vertieft. In diesem Moment wusste ich es irgendwie. Mir wurde klar, dass ich ihn den ganzen Sommer nicht aus den Augen lassen würde. Ich stellte mir schon vor, wie wir zusammen schwimmen gingen, wie wir in unserer Küche saßen und das Essen meiner Mutter genossen, wie er in unserem Garten saß, wie er auf dem schmalen Bett in der Mansarde lag und sich an den Dachbalken fast den Kopf stieß. Wie kann man von einer Person fasziniert sein, die man nicht einmal kannte?
Vielleicht war er nicht einmal unser Sommergast, trotzdem zog er mich schon voll in seinen Bann. Der Bus hielt. Die alten Damen blieben auf ihren Plätzen, wahrscheinlich kamen sie aus dem Nachbardorf. Er war der Einzige, der hier ausstieg. Ich betrachtete ihn und verlor mich darin. Er war groß und schlank. Sein Haar war kastanienfarben, seine Haut gebräunt und seine Augen so blau wie das Meer vor unserer Haustür. Als er mich sah, lächelte er.
,,Servus", sagte er, kam auf mich zu und ergriff meine Hand. Seine war weich und kräftig zugleich. Mir wurde heiß und kalt, als er meine Hand schüttelte und mir dabei lächelnd in die Augen sah. ,,Sie sind bestimmt Frau Behrend, nicht wahr?", fragte er mit einem verschmitzten Lächeln.
,,Nein", entgegnete ich nervös lächelnd und spürte, wie meine Hand nass vor Schweiß wurde. Ihn schien es nicht zu stören. ,,Ich bin Paul, ihr Sohn. Meine Mutter konnte leider nicht."
,,Ach", meinte er und das Lächeln wurde eine Spur breiter. ,,Ich bin Frederik, aber du kannst mich auch gerne Fred nennen."
Er hielt meine Hand noch immer und wir blickten uns in die Augen. Blau traf Grün und es war ein wundervoller, mit Worten gar nicht zu beschreibender Moment, den ich für immer in Erinnerung behalten sollte. Dann wurde dieser Moment einfach zerstört, wie eine Seifenblase, die auf dem Boden zerplatzte. Der Bus setzte sich wieder in Bewegung und durch die Geräusche kehrte in unsere Körper das Leben zurück. Sofort lösten sich unsere Hände wieder voneinander und er räusperte sich. Ich schaute verlegen zu Boden.
Stille.
Schließlich fragte ich: ,,Wollen wir etwas trinken gehen?"
Meine Kehle war schon ganz trocken.
,,Klar", erwidert Fred und lächelte wieder. Ich liebte sein Lächeln.
,,Gibt es hier ein Gasthaus, Paul?"
Ich zögerte kurz. Wie er meinen Namen aussprach, bezauberte mich. Fred zog mich in seinen Bann, dabei kannte ich ihn erst seit ungefähr drei Minuten. Dass er so eine Wirkung auf mich hatte, faszinierte mich und machte mir gleichzeitig auch Angst. Er würde die nächsten drei Wochen bei uns leben. Würde ich das aushalten?
,,Paul?", fragte er nach und legte mir sanft die Hand auf die Schulter. ,,Ist alles gut bei dir?"
,,Was?", fragte ich verwirrt und fuhr mir müde durch mein verschwitztes Gesicht. ,,Ja, alles gut. Ich sollte nur wirklich etwas trinken. Wir können zum Dorfkrug, falls du möchtest."
,,Klingt gut", erwiderte Fred und nahm seinen Koffer, den er zuvor auf dem Kopfsteinpflaster abgestellt hatte, wieder in die Hand. Es war ein alter, großer Lederkoffer, der schon völlig abgeranzt war. Ich bemerkte, dass er völlig mit Aufklebern zugeklebt war. Die Aufkleber stammten aus vielen verschiedenen Städten und zeigten mir, dass er schon viel von der Welt gesehen hatte und gerne reiste. Wir schwiegen, während wir die Straße hinunterliefen, um zum Dorfkrug zu kommen. Die Hitze lag gnadenlos über unserem Dorf. Ich betrachtete ihn verträumt und bekam plötzlich das Bedürfnis mit ihm zu reden. Über alles zu sprechen, was uns gerade auf der Seele lag. Ich wollte alles von ihm wissen, jede Kleinigkeit.
Schließlich kamen wir an. Er hielt mir die Tür auf und sofort schlug mir der altbekannte Geruch von Zigarettenqualm, Bier und dem blumigen Parfum der Wirtin Luise entgegen. Es war nicht viel los, um ehrlich zu sein, war gar nichts los. Nur Luise, eine etwa dreißigjährige, hübsche Frau mit blonden Locken und rehbraunen Augen stand am Tresen und polierte Gläser. Sie lächelte, als sie mich mit Fred sah.
,,Na, wen hast du denn da mitgeschleppt?", fragte Luise belustigt. Sie war eine gute Freundin meiner Mutter und für mich wie eine große Schwester oder eine Tante.
,,Guten Tag", erwiderte Fred freundlich. Er ging auf sie zu und schüttelte Luise mit einem strahlenden Lächeln die Hand. ,,Ich bin Frederik Rosenstein und komme aus der Nähe von München. Über den Sommer wohne ich bei Pauls Familie."
Dass er Luise im Gegensatz zu mir nicht seinen Spitznamen angeboten hatte, rief in mir ein Gefühl von Besonderheit hervor.
,,Das kennen wir ja schon, nicht wahr?", fragte Luise lachend und zwinkerte mir zu. ,,Willkommen Frederik. Komm doch auch mal her, Paulchen."
Ich lächelte und setzte mich mit Fred an den Tresen. Wir bestellten beide Bier und genossen das kühle Getränk. Ich fühlte mich gleich viel besser. Trotzdem konnte ich nicht bestreiten, dass ich mich in seiner Gegenwart irgendwie nervös, fast unbehaglich fühlte. Was hatte er für eine Wirkung auf mich?
Luise ließ uns keine freie Minute, vorallem Fred nicht. Sie löcherte ihn mit ihren Fragen und quetschte ihn aus wie eine Zitrone, deren Saft man über ein Fischfilet träufelte. Ich erfuhr also, ohne selbst viele Fragen zu stellen, eine Menge über Fred. Das kam mir sehr gelegen, denn ich wusste, dass ich mich überwinden müsste, ihm Fragen zu stellen. Andererseits würde es mich umbringen, wenn ich nichts, aber auch rein gar nichts, über ihn wissen würde.
Fred erzählte von seinen Eltern, dem Familienbetrieb, einer Emaillefabrik, die sein jüngerer Bruder übernehmen würde und von dem bayerischen Dorf, aus dem er stammte. Dann berichtete er uns von seinem Studium an einer Kunstakademie in München, welches er vor etwa einem Jahr abgeschlossen hatte. Seitdem reiste er durch Europa. ,,Um meine Muße zu finden", nannte er das. Außerdem war er auf der Suche nach einer Galerie, die seine Werke ausstellen wollte.
,,Dieser Ort war mal eine Künstlerkolonie, weißt du das?", fragte ich plötzlich. Sein Blick ruhte auf mir. Dann lächelte er und erwiderte: ,,Das ist mir bewusst, Paulchen. Deshalb bin ich hier."
Nach einem weiteren Bier verließen wir das Wirtshaus und schlenderten gemütlich die Hafenstraße herunter. Fred war ganz verzaubert vom blauglitzernden Meer. Er verriet mir, dass er noch nie an der Ostsee gewesen war. Das erstaunte mich, schließlich hatte ich gedacht, er hätte bereits die halbe Welt gesehen. Wir plauderten während des Weges nach Hause etwas, über sein Studium, seine Reisen, die Schule, die Ferien und meine Pläne für die Zukunft. Ich könnte ihm stundenlang zuhören. Wenn Fred mir allerdings eine Frage stellte, wurden meine Handflächen schwitzig, meine Wangen heiß und ich stammelte ein, zwei völlig belanglose und nicht sinnvolle Sätze hervor. Froh, dass ich danach nichts mehr sagen musste und einfach seiner Stimme lauschen konnte. Er hatte eine tolle Stimme, weich und rau zugleich. Wie seine Hände es gewesen waren...Sie erinnerte mich an Zartbitterschokolade.
Nach einer knappen Viertelstunde kamen wir schließlich an unserem Haus an. Es lag direkt gegenüber des Hafens und sah recht klein von außen aus, von innen jedoch war es recht geräumig und gemütlich. ,,Ein sehr hübsches Haus", meinte Fred lächelnd und fuhr sich durch sein kastanienfarbenes Haar. Mit seinen meerblauen, wunderschönen Augen betrachtete er unser Haus, musterte es so, als würde er etwas von Architektur verstehen. Und vielleicht tat er das ja auch, wer weiß?
Ich sah zu, wie er unser Haus aus roten Backsteinen, die Sprossenfenster mit den blauen Rahmen und den Vorgarten musterte, in dem allerlei Pflanzen und Blumen wuchsen. Die leichte Seeluft umspielte mein Haar, ließ mein Hemd flattern. Es roch nach Flieder aus dem Garten und frischem Fisch vom Hafen. Ich ging mit ihm hinein. Im Haus war es angenehm kühl und wie ich es erwartet hatte, war niemand zuhause. Fred lief mir hinterher und sah sich interessiert um. Ich führte ihn zur Mansarde. Es war ein kleiner Raum unter dem Dach, gerade so hoch, dass ich darin stehen konnte. Er, der etwas größer war, musste den Kopf leicht einziehen.
,,Ich weiß", sagte ich verlegen. ,,Es ist nicht sonderlich groß. Wenn du willst, können wir die Zimmer tauschen."
Wenn kleine Familien zu dritt oder zu viert zu uns gekommen waren, musste ich über den Sommer in die Mansarde ziehen. Dafür wurde ich zwar auch etwas beteiligt, aber ich fand es trotzdem nicht sonderlich gut, dass Fremde in meinem Zimmer lebten. Aber bei ihm war es mir völlig recht. Ich stellte mir vor, wie er in meinem Bett schlafen würde.
,,Nein, nein", erwiderte Fred mit einem Lächeln. ,,Die meiste Zeit sitze und liege ich sowieso."
Ich nickte und fragte, ob ich ihm noch bei irgendetwas helfen konnte.
Er verneinte und ich verließ leicht enttäuscht die Mansarde. Dafür hasste ich mich. Was hatte ich erwartet? Dass er gleich mit mir schlafen würde? Ich war so verdammt naiv...
Etwa eine Stunde später wollte ich unbedingt zum Strand und schwimmen. Mir war so warm und ich brauchte unbedingt eine Abkühlung. Vielleicht würde ich am Strand auch einige Freunde von mir treffen. Doch irgendwie hatte ich wenig Lust alleine zu gehen. Also lief ich zu Fred in die Mansarde und klopfte an der Tür seines neuen Heimes. Er rief mich erst nach dem dritten Klopfen herein. Fred lag auf dem Bauch im Bett, hatte einen Bleistift gezückt und zeichnete auf einem Zeichenbrett. Er sah nicht einmal auf, als ich hereinkam und fragte: ,,Willst du noch mit zum Strand?"
,,Jetzt noch?", fragte er. ,,Es wird doch gleich dunkel. Tut mir leid, Kleiner, aber ich muss mich hierauf konzentrieren. Ich habe endlich wieder Motivation, verstehst du?"
,,Natürlich", entgegnete ich geknickt. Zu gerne wollte ich wissen, was er da zeichnete, jedoch war ich zu schüchtern, um ihn zu fragen. ,,Dann bis nachher", meinte ich, deutete ein kleines Lächeln an und zog dann die Tür hinter mir zu. Wie hatte ich nur glauben können, dass er mich mochte?
Voller Wut auf mich selbst lief ich die Treppe hinunter, rannte nach draußen und holte mein Fahrrad, welches an der Hauswand lehnte. Ich traf mich mit einigen Freunden am Strand. Es dämmerte langsam. Einige badeten, andere saßen auf der gegenüberliegenden Wiese an einem Lagerfeuer. Irgendjemand hatte eine Gitarre dabei und klimperte sanfte, leise Lieder. Ich stand mit einer Bierflasche und einer qualmenden Zigarette in der Hand knietief im Wasser und beobachtete, wie die Sonne langsam im Meer versank.
Mein bester Freund Michael stellte sich neben mich, nahm sich die Zigarette aus meiner Hand und zog daran. ,,Luise sagte mir, ihr hättet einen neuen Gast. Gutaussehender Künstler, hm? Die Mädchen werden sicher ganz verrückt nach ihm sein."
Bestimmt nicht nur die Mädchen, Michael, dachte ich und nippte betrübt an meinem Bier.
,,Ja", sagte ich schließlich uninteressiert. ,,Ich kann ihn nicht leiden, weißt du?"
2258 Wörter
A/N: Es wird wahrscheinlich einen zweiten und vielleicht sogar dritten Teil geben. Ich freue mich auf Feedback (:
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