Tag drei -Maulwurf
"Gib mir deine Hand, Grace.", forderte ich meine Freundin auf und ließ mich neben sie auf den hohen Lehnstuhl vor dem Tisch der Schulleiterin sinken. "Bevor wir jetzt irgendwelche Vermutungen anstellen, lässt sich das doch ganz einfach überprüfen. Ich war bei den Versammlungen zur Lagebesprechung dabei und weiß im Groben, wie es dort aussieht."
Sie nickte und hielt mir ihre Handfläche hin. Mrs. Roberts beobachtete das Geschehen aus schmalen Augen und ich sah sie an, da ich noch auf ihre Erlaubnis wartete.
"Was denkst du gerade?", fragte Len sie, da meine Mentorin sich seit ein paar Augenblicken nicht mehr bewegt hatte.
"Ich überlege, wer es sein könnte." Sie drehte sich so ruckartig um, um verbissen aus dem Fenster zu schauen, dass Grace neben mir zusammenzuckte. "Wer hätte ein Motiv und die Möglichkeiten?"
"Also", warf da Grace kleinlaut ein. "ich will jetzt nicht voreingenommen sein, aber Nevis ist ein Werwolf. Das scheint für mich die plausibelste Erklärung zu sein."
Ausgerechnet Len schüttelte vehement den Kopf.
"Er hat kein Motiv. Er ist vor seinem eigenen Rudel geflüchtet, das jetzt ganz sicher unter der Herrschaft von Akaya steht. Was sollte ihm das bringen?"
"Vielleicht ist aber irgendetwas mit Nil passiert und er wird von der Vampirin erpresst.", mutmaßte seine Tante dagegen und ich sah, wie sorgenvoll ihre Augen plötzlich wurden.
"Nein, das kann ich mir nicht vorstellen." Ich legte den Kopf schief und auch Len runzelte die Stirn. "Immerhin hat er sein Leben riskiert. Und wo sollte er außerdem die Informationen herbekommen?"
Niemand wusste darauf eine Antwort und ich sah aus dem Augenwinkel, wie Grace ihre Hand wieder zurückzog.
"Vielleicht ist es gar kein Schüler?", warf Len in den Raum und seine Tante stutzte, als hätte sie diese Möglichkeit noch gar nicht in Betracht gezogen, obwohl das eigentlich (wenn ich so darüber nachdachte) am naheliegendsten war.
"Du meinst, jemand im Kollegium verrät unsere Militärspläne?" Fast noch in derselben Sekunde schüttelte sie den Kopf. "Das darf nicht wahr sein."
Stöhnend sank sie auf ihren Stuhl und presste ihren Daumen und Zeigefinger auf den Nasenrücken.
"Wäre es nicht besser, erst einmal zu überprüfen, was Grace gesehen hat? Vielleicht ist die Lage ja gar nicht so schlimm.", kam Len wieder zum Anfang des Gesprächs zurück und ich sah, wie er ungeduldig mit dem Saum seines Pullovers spielte. Er war nervös und angespannt und die ungewisse Lage machte es da nicht besser. Auch wenn ich seinen Optimismus durchaus schätzen wollte, konnte ich dieses Mal nicht verhindern, mit dem Kopf zu schütteln.
Dieses eine Mal glaubte ich nicht, dass alles nur halb so schlimm war, wie vorerst angenommen.
"Ja" Mrs. Roberts nickte mit dem Kopf. "Ihr wisst ja alle mittlerweile besser Bescheid, wie das mit den Sprüngen funktioniert. Dann kann ich mir das ja endlich einmal außerhalb er Trainingseinheiten ansehen."
Es brauchte nicht einmal einen Wimpernschlag und ich wurde mit der Berührung von Grace' Hand sofort aus meinem Körper gerissen. Mir fiel es anscheinend zunehmend immer leichter, mich mit meinen Fähigkeiten vertraut zu machen.
Ich sah mich um.
Dieses Mal hatte ich mich nicht durch die Erinnerungen meiner Freundin wühlen müssen, da sie bereits wusste, was sie mir zu zeigen hatte. Deswegen schwebte ich auch gerade in irgendeiner körperlosen Form über den Tannenkronen eines Nadelwalds süd-westlich der Akademie. Aus der Ferne ertönte Gebrüll und der Klang von Metall und Eisen, das aufeinandergeschlagen wurde.
Ohne aktiv etwas tun zu müssen, folgte mein hüllenloser Körper den Geräuschen und mit einem Mal kam mir die Umgebung bekannter vor, je weiter ich mich dem Waldrand näherte.
In mir wuchs ein ungutes Gefühl, das sich immer breiter machte und dabei die leisen hoffnungsvollen Zweifel, die noch vor wenigen Augenblicken in meinem Inneren existiert hatten, vertrieb.
Das leere Feld, das ich eigentlich erwartete; das Feld, auf dem in wenigen Stunden unsere eigenen Truppen ihr Lager aufschlagen sollten, mit unseren Flaggen und Leuten, war übersäht von nachtschwarzen Zelten, aus denen das schreckliche Gebrüll ertönte, das ich schon zuvor ein paar Kilometer östlich von hier wahrgenommen hatte. Helle Flammen züngelten in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel, obwohl es eigentlich mitten am Tag war und ich fragte mich, ob das Akayas Einfluss war. Die Vampirin schien zweifellos ebenfalls über Kräfte zu verfügen. Und das machte mir teilweise sogar mehr Sorgen als diese Wervampire unter mir auf dem Boden, die träge und mit leeren Augen vor sich hintrotteten oder zwischen den Zelten auf der ausgetretenen Erde im Weg lagen. Sie schienen nicht in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, was mich jedoch nicht sehr überraschte.
Sie waren die Marionetten. Nur im Einsatz, wenn sie gebraucht wurden: zum Töten.
Grace hatte recht gehabt. Mein Blick wanderte über die unzähligen Zelte, nicht in der Lage, ein Ende zu sehen. Die Truppe der rachsüchtigen Vampirin war größer, als wir gedacht hatten. Größer, jedoch nicht um so viel, dass unsere Armee aus ausgebildeten Kriegern nicht gegen sie bestehen konnte . . . Jedenfalls redete ich mir das ein.
Ich musste mir trotzdem in Erinnerung rufen, dass knapp die Hälfte unserer Armee noch minderjährig war. Und als ich mir die verfilzten, dreckigen Pelze der Hybriden betrachtete, aus denen lederne, teilweise eingerissene Flügel ragten, dazu die langen Klauen und scharfen Zähne, wurde mir schlecht.
Mir war vollkommen klar, dass es Opfer geben würde. Auf beiden Seiten. Und ich war nicht bereit dafür, das stand fest. Nicht, nachdem ich das Ausmaß dieser Armee aus Killermaschinen gesehen hatte.
Als ich wieder zu mir kam schloss sich gerade die Tür zum Büro. Grace neben mir blinzelte benommen und ich ließ ihre Hand los, um meine eigene auszuschütteln, die eiskalt und völlig verkrampft war.
Niemand im Raum sagte etwas und ich drehte den Kopf, um in die Gesichter der anderen zu sehen. Len stand mittlerweile hinter meinem Stuhl und starrte mit finsterem Blick hinaus in die Schneelandschaft. Seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf der Lehne und ich konnte spüren, dass sie es bereits wussten.
"Tut mir leid.", sagte ich. "Es stimmt. Es ist genau die Stelle, die wir uns ausgesucht hatten."
"Ich weiß. Sylvia verabschiedet gerade zwei Späher.", antwortete er müde. "Sie haben sogar Bildmaterial von der Lagerstätte."
Mir war gar nicht aufgefallen, dass die Direktorin nicht mehr im Raum war. Niedergeschlagen seufzte ich und sah zu Grace hinüber, die sich ein wenig verloren im Raum umschaute.
"Du solltest besser zurück zu den anderen gehen, Grace.", sagte ich sanft. "Ich weiß nicht genau, was Mrs. Roberts jetzt vorhat, weswegen du ihnen vielleicht nicht unbedingt von den Vorkommnissen erzählen solltest, solange wir nichts Näheres wissen. Aber du kannst ihnen ein bisschen Gesellschaft leisten. Es gibt bestimmt noch sehr viel zu tun."
"Du hast recht.", nickte sie aufatmend. Ganz so, als wäre sie froh über den Themenwechsel.
"Wir können dich sogar begleiten." Len trat zurück und griff nach einem zusammengefalteten Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch der Schulleiterin lag. "Sylivia hat gerade mit den Spähern zu tun und bat mich, die französische Unterstützung in ihrem Namen zu empfangen."
"Na gut" Ich stand auf. "Dann mal los. Im Moment ist ohnehin alles durcheinander. Da können wir wenigstens versuchen, gute Gastgeber zu sein."
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
"Hast du Ruby irgendwo gesehen?", fragte ich Grace, während wir auf Len warteten, der die Bürotür zuschloss. Doch meine Freundin zuckte nur mit den Schultern.
"Nicht seit heute Morgen in unserem Zimmer."
"Hm," Nachdenklich kniff ich die Augen zusammen. "vielleicht ist sie bei Mr. Mason im Krankenflügel. Was ist mit den anderen?"
Wir setzten uns in Bewegung.
"Soweit ich weiß sind Cody, David und Seth unten bei der letzten Bestandsaufnahme der Waffen.", sagte Len und ich nickte.
"Aria hat mich vorhin begleitet. Sie sollte also auch hier irgendwo im Gebäude sein.", fügte Grace nach kurzem Überlegen hinzu.
"Was ist mit Paul und Tai?"
"Keine Ahnung. Tai ist wahrschienlich wieder im Gewächshaus und Paul . . ."
"Ist bestimmt bei Aria.", beendete Len ihren Satz und wandte sich besorgt an mich. "Ist alles in Ordnung? Warum willst du das so genau wissen?"
Seufzend hob ich meine Schultern. Ich wollte nicht zugeben, dass ich das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Wenn ich schon nicht alles im Blick haben konnte, wollte ich wenigstens über meine Freunde Bescheid wissen.
"Es ist nichts. Ich bin nur . . ." Ein erneutes Seufzen. "besorgt."
"Keine Sorge." Ich spürte einen Arm, der sich entschlossen bei mir unterhakte. Grace' Berührung war überraschenderweise tröstlicher, als ich gedacht hatte. Ihre großen, braunen Augen sahen mich fest an und als sich ihr Mund zu einem aufmunternden Lächeln verzog, löste sich die Anspannung in meinem Inneren ein wenig. "Wir kriegen das schon irgendwie hin."
Genau in diesem Moment vibrierte mein Handy.
Mit der Hoffnung auf eine gute Nachricht schaute ich auf das Display.
"Frage geklärt.", sagte ich. "Die anderen warten unten auf Neuigkeiten von uns."
"Wollt ihr runtergehen und sie soweit aufklären? Ich kann das mit dem Empfang auch allein machen, wenn ihr wollt.", schlug Len vor und lief vor, um uns die Tür zum Treppenhaus zu öffnen.
"Wie du willst. Oder brauchst du Unterstützung?", fragte ich. "Immerhin sind wir beide Alphas. Eigentlich bin ich für den Empfang genauso zuständig wie du."
Len lachte leicht und schüttelte nur den Kopf.
"So wichtig ist das nun auch wieder nicht. Sorg lieber dafür, dass hier alle Vorbereitungen getroffen werden und sich alle gut benehmen."
Ich zuckte nur mit den Schultern.
"Wie du meinst."
Wir stiegen den Rest der Stufen noch gemeinsam hinunter ehe wir uns in der Empfangshalle voneinander verabschiedeten. Während Len sich seinen Weg zur Eingangstür durch aufgeregte Schüler, vereinzelte Elfen, Koffer und Waffen bahnte, schlugen Grace und ich den Weg zum Speisesaal ein, wo die anderen schon auf uns warteten.
Ruby sah uns schon vom Weiten kommen und sprang auf, um uns entgegen zu laufen.
"Hey Leute!" Ihre Augen musterten uns besorgt und sie konnte sofort aus unseren Gesichtern ablesen, dass wir nicht allzu gute Neuigkeiten überbrachten.
Ich beantwortete ihre stumme Frage nur mit einem leichten Kopfschütteln.
"Gleich. Ich erzähle es euch in Ruhe."
Wir kehrten also zum Tisch der Anderen zurück und ich ließ meinen Blick einmal über die Gesichter meiner Freunde schweifen. Es waren alle da außer . . .
"Habt ihr Tai und Nevis gesehen?"
"Nein, aber wir sind vorhin mit Tai hergekommen. Er meinte, er wolle noch einmal ins Gewächshaus.", beantwortete Seth meine Frage und sah sich suchend um. "Wo hast du denn Len gelassen?"
"Er ist beim Empfang der französischen Schüler. Er wird wahrscheinlich noch eine Weile brauchen."
Alle nickten verständnisvoll.
"Deswegen" Ich setzte mich zwischen Aria und Ruby. "werde ich euch kurz erzählen, was wir gerade herausgefunden haben. Ich weiß zwar nicht, ob das erlaubt ist, aber im Moment zählt jeder funktionierende Kopf. Wir haben nämlich ein riesengroßes Problem."
So schnell und kurz wie möglich fasste ich die Ereignisse der letzten Stunden zusammen, während meine Freunde um mich herum andächtig lauschten. Ich sah in ihren Gesichtern, dass sie diese Wendung der Dinge nie erwartet hatten.
"Und ihr habt wirklich überhaupt keine Vermutungen, wer dahinterstecken könnte?", fragte David, der nach meinem Bericht als Erster das Wort ergriff.
Ich zuckte nur ratlos mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
"Ich weiß es nicht. In diesem Augenblick könnte es wirklich jeder sein." Nachdenklich massierte ich mir meine Schläfen. "Was jetzt wichtiger ist, ist eigentlich die Positionierung unserer Truppen. Ich weiß nicht genau, was Mrs. Roberts vorhat, aber bei der Lagebesprechung gestern war fast das ganze Kollegium anwesend. Es ist wahrscheinlich, dass jemand etwas gehört hat, was er nicht hören sollte. Es reicht ja schon, wenn darüber in den Gängen oder in einem vermeintlich ungestörten Moment gesprochen wird."
"Stimmt.", pflichtete mir Paul bei. "Es muss ja nicht bedeuten, dass der Verräter ein Lehrer oder Magier war. Immerhin halten sich seit Tagen haufenweise Leute auf dem Gelände und in der Akademie auf."
"Trotzdem, ich kriege nur eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass jemand aus unserem nahen Umfeld ein Verräter sein könnte und unser aller Leben damit in Gefahr bringt.", murmelte Ruby neben mir und strich sich mit einer untermahlenden Geste über die Arme.
Auch ich wollte daran gar nicht denken und am liebsten vermeiden, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Doch harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen, also wandte ich mich wieder an meine Freunde.
"Also, hört zu: Erwähnt das, was ich euch gerade erzählt habe nicht in der Gegenwart einer anderen Person, die nicht gerade in diesem Moment am Tisch sitzt. Es wäre trotzdem toll, wenn ihr ein wenig unauffällig bei einigen Schülern, Eltern, Lehrern oder Magiern herumfragen-"
"Leute!"
Mein eindrückliches Gemurmel an meine Freunde wurde durch einen aufgeregten Ruf unterbrochen und alle Köpfe fuhren so schnell herum, dass einige zusammenstießen.
Mit dem leisen Wehklagen der Anderen im Hintergrund wandte ich mich der Person zu, die die Ursache der plötzlichen Unruhe war.
"Tai, was ist passiert?"
Sofort war ich auf den Beinen und kam dem atemlosen Tiger ein wenig entgegen.
"Habt ihr-" Er schnappte nach Luft und hielt sich angestrengt die Seiten. "Ist Nevis bei euch?"
"Nein" Ich runzelte die Stirn. "Ich dachte, er wäre bei dir. Ich habe ihn heute Morgen nur kurz gesehen."
"Oh, also war er die Nacht bei euch zu Hause?" Seine Augenbrauen hoben sich überrascht und eine Spur Erleichterung blitzte über sein Gesicht.
"Ähm, nein. Eigentlich nicht." Verwirrt runzelte ich die Stirn und ließ den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren, doch mir kamen nur Bilder in den Kopf, die sich definitiv nicht um Nevis drehten. "Was- Wieso fragst du? Ist etwas passiert?"
"Hä? Also war er nicht bei euch?" Tai sah genauso aus, wie ich mich fühlte und ich konnte sehen, wie sich seine Augen immer weiter verdunkelten.
"Nein, wieso sollte er? Wir dachten, er wäre bei dir. Hattet ihr nicht . . .?" Ich ließ eine bedeutungsvolle Pause und hob eine Augenbraue. Doch Tai war zu aufgewühlt, um in seiner sonstigen schüchternen Art darauf zu reagieren.
"Ach was.", murmelte er ärgerlich. "Also hat ihn wirklich niemand von euch gesehen?" Er streckte seinen Kopf an mir vorbei, um die Anderen anzuschauen, die mindestens genauso verwundert waren wie ich. Ich brauchte nicht den Kopf zu drehen, um das Kopfschütteln zu sehen. Tais Reaktion reichte völlig aus.
Mit einem Mal traf mich die Erkenntnis so hart, dass sich mein Herz für einen kurzen Moment zusammenzog. Entsetzt wandte ich mich langsam zu meinen Freunden um, die mir mit großen Augen und leicht geöffneten Mündern entgegensahen. Ich wusste, dass wir alle denselben Gedanken hatten.
Nur am Rande bemerkte ich, dass sich Tai mit einem leichten Stöhnen kraftlos auf eine der lackierten Holzbänke sinken ließ, während ich in meinem Kopf nach sämtlichen Szenarien suchte, die Nevis nicht als Verräter darstellten. Viele gab es davon nicht.
Schweigend verharrten wir für einige Augenblicke so und ich überlegte mir schon, wie ich diese Nachricht möglichst schonend Len und Mrs. Roberts überbringen könnte.
"Denkt ihr wirklich?", flüsterte ausgerechnet Ruby schließlich leise. "Ich hätte ihn irgendwie nicht so eingeschätzt."
"Darum geht es ja bei einem Verräter. Man erwartet es nicht.", brummte Cody und zog wütend seine Augenbrauen zusammen, während er unruhig seine Fäuste ballte. "Ich bringe ihn um. Das schwöre ich euch. Ich bringe ihn um."
"Danke, aber ich verzichte." Die sanfte Stimme erklang so unerwartet plötzlich, dass wir alle zusammenzuckten.
"Nevis.", hauchte Tai und sprang so schnell von der Holzbank auf, dass sie ein unangenehmes Geräusch von sich gab, als ihre schon etwas mitgenommenen Beine über den Boden schabten. Ohne groß auf uns zu achten, hatte er den letzten Abstand zwischen sich und dem Austauschschüler überbrückt, der ein wenig unbeholfen im Gang zwischen den Tischen stand, und schlang die Arme um seinen Hals.
"Hey Tiger." Der Eiskönig lächelte und fuhr dem nur um ein paar Zentimeter kleineren jungen Mann zärtlich über das zerzauste Haar.
"Himmel, ich schwöre, ich-"
"Halt." Ich hob angespannt die Hand und Cody, der gerade mitten dabei war, mit hochgekrempelten Ärmeln von der Bank aufzustehen, hielt in seiner Bewegung inne.
Wow, es klappt sogar ohne Alpha-Magie.
"Nevis" Mit ruhiger Stimme wandte ich mich ihm zu. "Ich weiß nicht genau, wieviel du mitgekriegt hast, aber-"
"Ich war es nicht.", unterbrach er mich, noch bevor ich aussprechen konnte. Er sah mich mit seinen eisblauen Augen fest an und seine Miene war so offen und entschlossen wie lange nicht mehr, dass es mir schwerfiel, einen anderen Blickwinkel zu betrachten.
"Ich war es wirklich nicht, bitte vertrau mir." Er seufzte schwer, nahm Tais Hand und ließ sich mit einigem Abstand zu uns auf die Holzbank fallen. Ich sah, wie diejenigen, die ihm am nächsten saßen, aus Trotz noch weiter von ihm wegrutschten, was der Austauschschüler jedoch nur mit einem leichten Zucken der Mundwinkel kommentierte. Tai warf ihnen jedoch einen wütenden Blick zu.
"Trotzdem muss ich euch etwas gestehen."
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
Schon zum zweiten Mal an diesem Tag hechtete ich durch die Gänge, mit meinem Handy am Ohr und dabei nicht wirklich darauf achtgebend, in wen ich hineinrannte.
"Komm schon, Len. Komm schon.", murmelte ich frustriert und Nevis, der neben mir joggte, warf mir immer wieder ungeduldige Blick zu, was es nicht einfacher machte.
"Sarina?"
"Len!" Ich atmete erleichtert auf.
"Was ist los?"
"Ich habe Nevis gefunden. Wir müssen dringend mit Mrs. Roberts reden. Und eigentlich wäre es auch gut, wenn du ebenso dabei sein könntest."
"Okay, ich bin jetzt sowieso hier fertig. Die Gesandten der Sirèna sind gerade dabei, ihre Unterkünfte zu begutachten. Wir haben uns darauf geeinigt, weitere Zelte in der Nähe des Säugetier- und Reptilienhauses aufzustellen. Ich wollte ohnehin zu Mrs. Roberts, um ihr zu berichten. Sie müsste im kleinen Konferenzsaal sein, der direkt neben dem großen liegt, wo wir gestern Abend waren. Treffen wir uns dort?"
"Klingt gut.", stimmte ich ihm ein wenig atemlos zu, weil wir inzwischen dabei waren, die Treppen zum Nordflügel zu erklimmen. "Bis gleich."
"Ja, bis gleich."
Wir erreichten den Saal in dem Augenblick, als Len von der anderen Seite des Ganges um die Ecke bog.
"Sylvia ist im Moment in der neuen Lagebesprechung für unsere Armee.", sagte er schon vom Weiten. "Ist es dringend oder können wir zwanzig Minuten warten?"
"Es ist dringend!" Nevis und ich sprachen im selben Augenblick, was meinen Artgenossen dazu veranlasste, erstaunt die Augenbrauen zu heben.
"Okay, dann klopfen wir doch einfach.", schlug er vor, konnte es aber nicht lassen, Nevis und mir einen neugierigen Blick zuzuwerfen, bevor er seine Handknöchel leicht gegen das Holz schlug.
"Herein!", tönte es gedämpft hinter der Tür.
Leise öffnete Len die Tür und ließ Eisauge und mir den Vortritt.
Im Raum befanden sich nur sechs weitere Leute: Mrs. Roberts, Mrs. Knight -Fachleiterin von Verwandlung-, Mrs. Bristow -die Bibliothekarin-, ein ganz in schwarz gekleideter, großer Mann, der wahrscheinlich ein Magier war, der Fachleiter der Kampf- und Waffenabteilung und Tyler.
Alle sahen auf, als wir eintraten.
"Hallo ihr drei." Die Schulleiterin lächelte freundlich. "Was gibt es denn?"
Ich warf nervöse Blicke in die Runde. Die Erwachsenen standen um einen Tisch herum, auf dem die Karte lag, die wir gestern Abend schon in der Luft hatten schweben sehen. Notizen aus Bleistift und Tinte waren an die Seiten, aber auch mitten in die Landschaft geschrieben worden, sodass sie eher einer Art Kreuzworträtsel ähnelte. So wie ich es beurteilte, waren sie noch nicht sehr weit gekommen.
"Es gibt . . . Neuigkeiten.", brachte ich hervor, immer noch mit einem Zögern, ob das, was wir zu erzählen hatten, auch für jeden in diesem Raum gedacht waren.
Doch Mrs. Roberts bemerkte mein Misstrauen nicht und wedelte nur mit der Hand in unsere Richtung, um uns näher an den Tisch zu holen. Anscheinend hatte sie genug Vertrauen in die anwesenden Leute, dass sie ihnen nicht wie beim letzten Mal anordnete, das Zimmer zu verlassen. Und das störte mich.
Ich wusste nicht genau, was es war, aber ich fühlte mich unwohl, als ich mich zwischen Mrs. Bristow und Tyler stellte, die wie alle anderen angestrengt auf die Karte in der Mitte starrten.
"Was gibt es denn?", seufzte meine Mentorin, ohne den Blick vom Tisch zu heben.
Ich schwieg und als ich einen Blick auf Len und Nevis warf wusste ich, dass sie das selbe Gefühl hatten wie ich. Ohne es zu wollen, zog ich warnend die Augenbrauen nach oben, was mein Artgenosse mit einem unauffälligen Nicken quittierte.
"Die Unterstützung aus Frankreich ist angekommen.", teilte er stattdessen mit.
"Aha.", machte seine Tante geistesabwesend und ließ ihren Zeigefinger langsam über die Karte gleiten.
"Wir haben verhandelt und uns darauf geeinigt- . . ."
Während Len genau das herunterratterte, was er mir auch schon am Telefon gesagt hatte, konnte ich es nicht lassen, meinen Blick über die Gesichter der anderen Lehrer schweifen zu lassen. Mrs. Roberts hatte ihren engsten Kreis hier zusammengerufen. Die Leute, die hier anwesend waren, würde sie ihr Leben anvertrauen.
Und doch fragte ich mich, wieso ich trotz dieses Wissens eine Gänsehaut bekam, als ich die konzentrierten Gesichter betrachtete, die sich alle weit über das Papier beugten, dass es schon fast unnatürlich aussah.
"Danke, Len.", seufzte die Schulleiterin, als der Alpha seine Berichterstattung beendet hatte. "Das war wirklich eine große Hilfe für mich."
"Keine Sorge, ich weiß, dass du viel zu tun hast."
Len lächelte leicht, aber ich sah, dass es nicht seine Augen erreichte. Unauffällig wandte ich den Blick ab, um zu sehen, ob es jemand bemerkt hatte.
Doch alle starrten gebannt auf den Tisch vor ihnen, nicht in der Lage, irgendetwas anderes zu beachten. Alle, bis auf Mrs. Bristow, die gedankenverloren einen Stift in ihrer linken Hand drehte und aus dem Fenster starrte. Sie war wohl ziemlich müde.
"Und was ist mit euch beiden? Sarina? Nevis?", lenkte mich meine Mentorin in diesem Augenblick ab. "Wieso seid ihr hier?"
"O-oh ja, ich bin nur hier, um Len zu begleiten und mir den Bericht anzuhören.", sagte ich schnell (vielleicht etwas zu schnell).
"Und ich wollte sowieso zu Ihnen.", rettete mich Nevis, bevor ich mich verplapperte. Gerade er wusste, wie schlecht ich im Lügen war. "Es gibt- ein paar Probleme. Im Gewächshaus."
Mrs. Roberts zog eine Augenbraue nach oben und ich dachte schon, es wäre vorbei.
"Aha. Was ist denn das Problem?"
"Es geht um einen Heiltrank. Wir sind im Moment dabei, alles für das Krankenlager vorzubereiten, aber es gibt ein Problem mit einer Zutat. Die Nachtkerzen werden ihre Blüten erst am späten Abend öffnen, aber wir brauchen sie früher. Der Trank muss für mindestens zehn Stunden ziehen, bevor er verwendet werden kann." Nevis kratzte sich verlegen am Hinterkopf und selbst ich war mir in diesem Moment nicht ganz sicher, ob er log oder es wirklich ein Problem im Gewächshaus gab.
"Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie die Genehmigung geben, stattdessen Kamillenkraut zu verwenden. Wir wissen, dass es in der Vergangenheit damit schon zu Schwierigkeiten gekommen ist und die Nebenwirkungen nicht wirklich schön sind, aber wir haben keine andere Wahl. Ich bin für diesen Trank verantwortlich und muss ihn so schnell wie möglich fertigstellen. Vor allem aus dem Grund, dass ich nicht so lange wie die anderen in der Akademie sein werde. Ich muss früher fertig sein, um es noch rechtzeitig zum Vollmond zu schaffen."
Als er das sagte, hoben alle den Kopf und eine Hitzewelle durchfuhr meinen Körper.
Ach du heiliger Goldfisch! Wissen sie es?
"Du hast recht.", sagte Mrs. Roberts und ich meinte, ein wenig Nervosität in ihrem Blick zu erkennen, der flüchtig über die Gesichter der anderen Erwachsenen im Raum strich. Möglicherweise hatte sie es ihnen doch nicht erzählt. "Keine Sorge, Kamillenkraut sollte in Ordnung gehen. Wenn du dir aber noch unsicher bist, dann frage lieber bei Mr. Mason nach. Er kennt sich mit Heilpflanzen besser aus als ich."
"Ich hätte da noch einen anderen Vorschlag, mein Lieber.", hakte da plötzlich Mrs. Bristow ein. Die alte Dame lächelte zaghaft. "Keine Sorge, bevor sich dein- . . . Zustand verschlechtert, wird alles fertig sein. Ich kenne einen Heiltrank, der schon seit Generationen bei Kriegsverletzungen verwendet wird. Alles was du brauchst ist Efeu und-"
Ich beobachtete Nevis' Gesicht, auf dem sich mehr und mehr Verwirrung abzeichnete, je länger Mrs. Bristow sprach und auch ein Blick zu Mrs. Roberts, die mit einem Mal ganz blass geworden war und mit eisernem Blick vor sich hin starrte, zeigte mir, dass ich nicht die Einzige war, die es bemerkt hatte.
"-und innerhalb von zwei Stunden ist er fertig. Du müsstest es also noch rechtzeitig schaffen, bevor du aufbrechen musst."
Meine Gedanken rasten und ich bekam nur am Rande mit, wie Mrs. Roberts der Bibliothekarin Einhalt gebot und sie das fragte, was mir im Insgeheimen so bitter aufgestoßen war:
Wie war es möglich, dass sie von diesem Heiltrank wusste?
Ich selbst hatte ihn erst vor zwei Tagen das erste Mal kennengelernt, ganz zu schweigen von Len und Mrs. Roberts. Er war nicht ohne Grund in einem verbotenen Buch aufgeführt und seit Jahren auf dem Dachboden der Trainingshalle verstaubt.
Wie konnte es also sein, dass sie ihn kannte? Das Rezept war schon seit zwei Jahrhunderten nicht mehr im Umlauf. Es sei denn . . .
'Len?'
'Ich weiß.', sagte er nur zurück und damit hatte ich die Bestätigung.
Angestrengt suchte ich in meinen Erinnerungen nach Hinweisen. Hatten wir etwas übersehen?
Als erstes fiel mir das Buch ein. Mein Artgenosse und ich hatten den staubfreien Einband als nebensächlich abgetan, der uns aber genau das fehlende Puzzleteil geliefert hatte.
Jemand war wirklich vor uns auf dem Dachboden gewesen und hatte sich das Buch mit dem Tagwandlerserum angesehen, in dem auch der verbotene Trank stand, von dem die alte Bibliothekarin soeben erzählt hatte.
Mir wurde schwindelig, als mehr Erinnerungen aufkamen.
Es war ein Herbsttag gewesen. Ein pinker Merkzettel mit einem Namen hatte in der Bibliothek meine Aufmerksamkeit erregt: Souths-; außerdem ein seltsames Telefonat, das ich zur selben Zeit ungewollt mitbekommen hatte, kurz darauf Rubys Verschwinden und ihr Auftauchen in Lutumy, Southstreet.
Es war nur logisch, dass sie es war. Wer würde sonst Nevis' unglückliche Formulierung über sein Aufbrechen vor Vollmond missverstehen? Als Verräterin, die im Kontakt zu Akaya und deren Armee stand, musste sie über sein Werwolf-Dasein bescheid wissen.
Ohne das Wissen, könnte man die Verbindung nicht so einfach knüpfen. Man würde nur zurecht vermuten, er müsse rechtzeitig fertig werden, um mit den anderen Soldaten in die Schlacht zu ziehen, was er eigentlich auch vor einigen Minuten gemeint hatte. Oder nicht?
Ich sah zu dem Eiskönig hinüber, der die mittlerweile Ausreden stotternde Mrs. Bristow mit einem zufriedenen Blick in den Augen betrachtete.
Dieser kleine, geniale, hinterhältige Mistkerl! Woher weiß er es?
Ihm war bestimmt auch aufgefallen, dass die alte Dame vorhin gar nicht aus dem Fenster geschaut hatte. Sie hatte Nevis gemustert, der wie es der Zufall wollte, genau vor dem großen Fenster des Saals gestanden hatte. Rückblickend erschien mir das logisch.
Doch, was nun?
Mein ganzer Körper war überzogen mit einer Gänsehaut. Die alte Bibliothekarin war mir über die letzten Monate so sehr ans Herz gewachsen, dass mich ihr Verrat weniger überraschte, als über die Maßen tief verletzte. In meinem Kopf war nur Platz für eine einzige Frage:
Warum?
Doch im Moment war keine Zeit, darüber nachzudenken. Uns musste so schnell wie möglich etwas einfallen, wie wir sie überzeugend als Verräter entlarven konnten. Mein Kopf arbeitet auf Hochturen. Hochkonzentriert ging ich jede Begegnung und Unterhaltung der letzten Monate mit Mrs. Bristow durch, suchte nach Erzählungen von anderen Leuten über sie, mögliche Parallelen, die sich vielleicht erkennen ließen, Muster, doch nichts Relevantes stach heraus.
Mit einem Mal räusperte sich Len neben mir, was mich für einen Moment zurück in die Realität brachte. Mrs. Bristow war gerade dabei, Mrs. Roberts davon zu überzeugen, dass der Trank ein uraltes Familienrezept war, das schon seit Generationen weitergeben wurde und zu meinem Ärger auch damit durchkam.
Sie war gewitzt wie ein Fuchs.
Fuchs.
Ein Fuchs.
Mein erster Zeitsprung im Krankenflügel kam mir in den Sinn. Ruby hatte mir damals etwas von einem Fuchs erzählt. Ich hatte das Tier sogar mit eigenen Augen gesehen, als ich ihre Entführung am eigenen Leib miterlebt hatte.
Meine beste Freundin hatte mir erzählt, dass nach ihrem Auftauchen niemand auch nur ansatzweise etwas von einem verletzten Fuchs in der Gegen gewusst hatte. Sie hatte Unmengen an Lehrern, Schülern und sogar in der Nähe liegenden Förstereien gefragt, doch niemand hatte etwas berichten können.
Könnte es sein?
'Len?', fragte ich ihn erneut. 'Welches Tier ist Mrs. Bristow eigentlich?'
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
"Ich möchte Sie kurz etwas fragen.", bat ich einige Minuten später die Bibliothekarin und unterbrach somit Mrs. Roberts' Vortrag an Mrs. Bristow bezüglich der Verwendung verbotener Tränke.
"Wo waren Sie gestern Abend bei der zweiten Besprechung über den möglichen Aufenthaltsort der Hybridenarmee?"
"Oh, Kindchen.", die alte Dame lächelte leicht, doch das unsichere Zittern in ihren Mundwinkeln sah ich sofort. "Ich war ziemlich müde. Ich bin ins Bett gegangen natürlich."
"Aha." Mein Kopf neigte sich nach rechts und ich kniff misstrauisch meine Augen zusammen. "Waren Sie nicht verantwortlich für das Protokoll?"
"Ja, aber ich dachte, meine Aufgabe wäre erfüllt. Immerhin war nichts Wichtiges mehr zu besprechen, oder doch?" Sie drehte den Kopf zur Direktorin, die mich mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht beobachtete. Sie schien sich ernsthaft zu fragen, worauf ich hinauswollte.
"Es war ja auch nur eine Frage." Abwehrend hob ich die Hände. "Aber ist es nicht merkwürdig?"
Damit wandte ich mich an Mrs. Roberts. "Gerade in diesen Zeiten sollte jede Kleinigkeit festgehalten werden, um auf anfangs verworfene Ideen und Vorschläge zurückgreifen zu können, denken Sie nicht? Vor allem, wenn es einen Verräter in unseren Reihen gibt."
"Sarina, bitte komm' zum Punkt. Ich weiß nicht recht, was du damit sagen willst." Meine Mentorin presste sich erschöpft ihren Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken.
"Dürfte ich Mrs. Bristow bitten, den rechten Ärmel ihres Pullovers hochzukrempeln?"
"Was?" Die alte Dame umklammerte fest ihr rechtes Handgelenk. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen und ich sah aus dem Augenwinkel, wie Len dem Magier, der das Geschehen bis jetzt mit wachsamen Interesse beobachtet hatte, ein unauffälliges Zeichen mit den Fingern gab. Dieser verließ daraufhin unauffällig seinen Platz am Tisch und steuerte in die Richtung der Bibliothekarin.
"Bitte?", lächelte ich frostig.
"Nein, aber-"
Sie hatte ihn nicht kommen sehen und so löste der in Schwarz gekleidete Mann ohne Mühe die verkrampften Finger vom Arm der mittlerweile zitternden alten Frau und schob den Stoff bis zum Ellbogen nach oben.
Ein Keuchen ging durch den Raum, als jeder einzelne einen Blick auf das entblößte, vernarbte Gewebe erhaschte, das sich ab dem Handgelenk über den ganzen Unterarm bis hoch zum Ansatz des Ellbogens zog. Langsam atmete ich aus und wandte den Blick ab. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich erfreut oder entsetzt über diese regelrechte Entblößung sein sollte, die in zweierlei Wege stattgefunden hatte.
"Edith . . .", hauchte Mrs. Knight bestürzt. "Was- Wie?"
Jetzt kam der harte Teil.
"Ich habe mich daran erinnert, wie Mrs. Bristow vor einigen Monaten ein Telefonat geführt hat, das ich zufälligerweise überhörte. Sie war damals sehr erschrocken, als sie merkte, dass ich im Raum gewesen war.", begann ich und sah Mrs. Roberts fest an. "Dabei ging es darum, einen Köder auszulegen. Zu der Zeit nahm ich an, es ging um Ratten oder Mäuse, die sich regelmäßig in unserer Bibliothek aufhalten und die Bücher anknabbern. Doch dann wurde meine beste Freundin Ruby kurze Zeit später durch einen verwundeten Fuchs aus den schützenden Mauern der Akademie gelockt. Ein Fuchs, der am rechten Vorderbein so stark verletzt war, dass er sich nicht mehr fortbewegen konnte."
Unbarmherzig zeigte ich auf die vielen Narben, die sich über den Arm von Mrs. Bristow zogen.
"Eine Verletzung, die unheimlich zufällig zu diesen Narben passt!" Meine Stimme war eisern und fest entschlossen. Die Bilder von der Nacht, wo wir Rubys Rettungsaktion gestartet hatten, kamen mir mit einem Mal wieder in den Sinn: Wie wir sie gefunden hatten; völlig erschöpft, schwach und verängstigt in diesem Keller angebunden. Wie Len und ich unsere Leben beim Kampf gegen den Werwolf riskiert hatten. Wie ich die Kreatur getötet hatte, um meinen Artgenossen vor dem sicheren Tod zu retten. Wie traumatisierend das Ereignis für meine beste Freundin immer noch war, die bis heute keine einzige Nacht durchschlafen konnte.
Endlich hatten wir die Verantwortliche gefunden.
Die Verantwortliche, die nicht nur unser Vertrauen missbraucht hatte, sondern auch bereit war, uns allen aus irgendeinem unergründlichen Grund dem Tod zu überlassen. Unsere mühevolle Arbeit der letzten Tage war ihretwegen wertlos geworden. All die Besprechungen, Planungen und Beratungen, die an unser aller Nerven gezehrt hatten, waren im Sand verlaufen. Während wertvolle Zeit verloren ging, war unser aller Mut immer mehr geschwunden, jedoch die Angst vor dem Ungewissen ins Undenkliche gewachsen.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf setzte ich von vorn an, sammelte alle Puzzleteile der letzten Monate zusammen und offenbarte ohne Zögern die Erkenntnis, zu der ich gekommen war.
Genauso, wie Mrs. Bristow nicht gezögert hatte, uns zu schaden, indem sie uns verriet.
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Hey ho, Leute!
Es ist eine wortwörtliche Ewigkeit her! Ich hoffe, es geht euch allen soweit gut.
Das war wahrscheinlich die längste Pause, die ich jemals mit diesem Buch hier gemacht habe und ich fühle mich wirklich ein wenig schuldig ^^
Trotzdem hoffe ich, dass wenigstens die Meisten von euch noch dabei sind, da es wirklich nicht mehr viele Kapitel bis zum Ende sind.
Was haltet ihr aber von diesem Kapitel?
Ich muss sagen, es hat mir EINIGE Schwierigkeiten bereitet (haha, wer hätte das gedacht?)
Die Entlarvung von Mrs. Bristow war viel komplizierter als gedacht und ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob alles plausibel und nachvollziehbar war. Könntet ihr mir vielleicht ein kleines Feedback dazu geben, ob ihr alles gut verstanden habt? Gab es irgendwo eine Lücke, die ich übersehen habe? Hättet ihr euch mehr Dialoge gewünscht? War der ganze Prozess zu schnell oder zu kurz?
Und sonst: Dass es Mrs. Bristow ist, hat jetzt wahrscheinlich die Meisten nicht mehr so ganz überrascht, oder? xD
Ach ja, und noch etwas Anderes: Was denkt ihr, ist die wichtige Sache, über die Sarina, Len und Nevis eigentlich mit Mrs. Roberts sprechen wollten? Wo war Nevis in dieser Nacht, wenn nicht bei Tai oder Sarina und Len?
Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen. Meinungen, konstruktive Kritik, Verbesserungsvorschläge und Wünsche sind immer Willkommen!
Habt einen schönen Valentinstag (ach ja, (hopefully a) Happy New Year 2021 auch noch!)
LG <3
Eure Cherry
PS: Ich musste den Entlarvungsprozess noch einmal EXTRA in ein Notizbuch schreiben, um nicht den Überblick zu verlieren.
PPS: Dazu hat es insgesamt drei ganze Seiten gebraucht
PPPS: Naja, zweieinhalb und eine misslungene Zeichnung von einem Fuchs, die ich euch wahrscheinlich nie zeigen werde xD
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