In Finsternis
Ich schwebte in Dunkelheit.
Das Gefühl, Kontrolle über meinen Körper zu haben, hatte ich schon vor geraumer Zeit verloren und schwelgte nun in einer weichen, warmen Trance, die mich bis in die kleinste Zelle einnahm und erfüllte. Die Welt war in Watte gepackt und ich mitten drin und unverletzlich.
„Hier! Hi- . . r si- . . nd sie!"
Kurz verlor ich den Halt unter meinen Fingern, spürte, wie mich mehrere Hände von etwas durchaus Gemütlichen und Weichen wegzogen. Eiskalte Luft strich über mich hinweg, ließ mich bis in die Haarspitzen erzittern. Verzerrte Laute drangen an mein Ohr.
Und dann nichts mehr.
Nur noch stille Finsternis.
. . .
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
Ich schwankte. Mein Körper schwankte. Vor, zurück, hin und her und begann dann wieder von vorn. Mein Kopf schaukelte mit, während meine Gedanken stillstanden.
Dumpfes Ziehen durchzuckte meine rechte Seite, meine linke Schulter brannte vor Schmerz. Etwas Nasses lief über meine Schläfe.
Mein Kopf pochte und pochte und pochte.
Dröhnte und wankte und wurde taub.
Und dann nichts mehr.
Nur noch schwere Finsternis.
. . .
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
„Jem-. . .nd m- . . .ss sich um ihr- . . .n linken . . .Arm küm- . . ..rn."
„Ja, aber pa- . . .ss auf die R- . . .ppen auf."
Etwas griff nach meinem Handgelenk und mein Körper ging in Flammen auf.
Ich keuchte stumm.
„Oh G- . . .tt, sieh dir d- . . .s an."
Verzweifelt riss ich an meinen mentalen Fesseln. Heulend, schreiend, klagend vor Schmerz. Aber niemand hörte mir zu.
Und dann: ein dumpfes Knacken.
Mein Zeigefinger zuckte und Wellen frischen Blutes pulsierten hinauf zu meiner Schulter. Wie ein Tsunami spülte es durch meine Adern, riss die dort hartnäckig sitzende Kälte mit sich und brachte ein aufgeregtes Kribbeln in meinen Arm.
In meinem Inneren wandte ich mich unter diesem Gefühl.
„Jetzt die Rippen."
Brennende Finsternis.
. . .
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
„Es war nicht ganz einfach, aber ich habe soweit wieder alles gerichtet und eingerenkt. Die Wunden sind genäht und Ruby holt ihr gerade noch eine Bluttransfusion. Machen Sie sich keine Sorgen. Das wird schon wieder."
„Oh Gott, Sarina."
Ein herzzerreißendes Schluchzen.
Ich kannte dieses Schluchzen.
Beschwichtigend wollte ich meine Hand ausstrecken, doch unsichtbare Gewichte zogen mich nur tiefer hinab in die entgegengesetzte Richtung. Die Dunkelheit lichtete sich und gab den Blick auf eine Lichtung frei. Kissen aus leuchtend blauen Moos lagen verstreut zwischen riesigen Wurzeln einer haushohen Trauerweide, deren rissige Wurzeln sich wie Schlangen umherwandten. Ich bemerkte ebenfalls große, gemütlich aussehende Decken, deren Stoffe so hell glühten, als wäre er aus Sonnenstrahlen gewebt. Sie luden mich mit ihrem warmen Schein zu sich ein, schienen auf mich zu warten.
Meine schweren Glieder bewegten sich ohne mein Zutun und als ich näherkam, fand ich mich auf einmal in einem Himmelbett wieder. Ich versank regelrecht in dem wolkenähnlichen Material. Die Stoffbahnen über mir, die den Blick auf die hellgrünen, herunterhängenden Äste verdeckten, schimmerten in einem dunklen Blau. Als ich genauer hinsah, erkannte ich goldene Sterne, die funkelten und blinkten, als wären es echte, die man gefangen und auf die feine Seide gestickt hatte.
„Sarina? Hörst du mich?"
Meine Mum war neben mir aufgetaucht und hatte ihre Hände vor den Mund geschlagen. Tränen rannen von ihren vor Qual zusammengepressten Lidern über ihr schmales, eingefallenes Gesicht und ich fragte mich, aus welchem Grund sie wohl so sehr litt. Plötzlich, als hätte sie meine offensichtliche Unsicherheit gespürt, öffneten sich ihre Augen.
Blutrote Rubine blickten mir nun entgegen.
Mein Körper erstarrte und ich begann, verzweifelt nach Luft zu schnappen, während blanke Angst und Panik Besitz von mir ergriffen. Kalte Schauder krochen über meine Haut, veranlassten die dortigen feinen Härchen dazu, sich aufzustellen, während meine Fingerspitzen und Zehen taub wurden.
Ein schriller Schrei bildete sich in meiner Kehle, blieb jedoch im selben Augenblick wie ein Klumpen stecken und schnürte mir die Luft ab. Mein Herz hämmerte in einem so harten Galopp gegen meine Rippen, dass ich befürchtete, sie würden unter dem Druck bersten.
Und dann verschwand der tröstende Halt unter meinem Rücken.
Der Waldboden tat sich auf und dunkle Schatten griffen nach mir. Sie wickelten sich wie rauchige Lianen um meine Beine, meine Arme, um meinen Brustkorb und schließlich mein Gesicht.
Sie verschluckten mich und ich fiel.
Nichts.
Nur Finsternis.
. . .
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
Als ich das erste Mal meine Augen aufschlug war ich allein.
Es herrschte dunkelblaue Nacht und um mich herum piepte es leise. Ein Monitor war links neben meinem Bett aufgestellt, der auf einer Hälfte ausschlagende Linien abbildete. Weitere farbige Zahlen standen auf der anderen und zeigten offenbar meine Herzfrequenz, sowie Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Körpertemperatur an.
Neugierig kniff ich meine Augen zusammen, um besser sehen zu können. Aber jedes Mal, wenn ich es fast geschafft hatte, meinen Blick zu fokussieren, wurde alles nur noch schlimmer und meine Sicht verschwamm zu einem Mischmasch aus rot-grünen Schlieren.
Ich stöhnte auf und mein Kopf sackte zur Seite.
Der Geruch von Desinfektionsmittel, Rauch und versengten Haaren stieg in meine Nase.
Bin ich das?
Aber ich war zu müde und erschöpft, um mir weiter darüber Gedanken zu machen. Ich war froh genug, nicht von totaler Schwärze oder tödlichen Kreaturen umgeben zu sein, dass mir alles andere weitestgehend egal wurde.
Vom Nachbarbett ertönte ein heiseres Husten und erst jetzt bemerkte ich, dass ich doch nicht ganz so allein war, wie anfangs gedacht. Schemen schwerer Vorhänge waren durch die nächtlichen Schatten erkennbar, die mich offenbar von meinem Nachbarn abtrennten. Irgendwie kam mir diese Umgebung bekannt vor, doch mein benebelter Zustand machte es mir nicht gerade leicht, einen klaren Gedanken zu fassen.
Komischerweise war das Einzige, was mir einfiel, das Gesicht meiner besten Freundin. Ehe ich mir jedoch noch weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, übermannte mich erneut das mittlerweile vertraute Gefühl ohnmächtiger Taubheit.
Nichts.
Nur ruhige Finsternis.
. . .
◆◇◆◇◆◇◆◇◆◇◆
Leise, verzerrte Stimmen drangen an mein Ohr, schwollen an und ab, wurden lauter und dann wieder leiser, als würde jemand es besonders lustig finden, kontinuierlich und mit nervenaufreibender Beharrlichkeit am Regler eines alten Radios herumzuspielen.
Entnervt verzog ich das Gesicht, presste meine weiterhin geschlossenen Augenlider noch fester zusammen und legte die Stirn in Falten. Meinem Mund entfloh ein entrüstetes: "Mmh!"
Grelles Licht schien auf mich hinab und als ich es wagte, meine Augen einen Spalt breit zu öffnen, blickte ich geradewegs in eine LED-Lichtleiste an der Decke. Die Kühle der Helligkeit bereitete mir auf der Stelle drückende Kopfschmerzen, aber diese waren überraschenderweise angenehm (soweit Schmerzen angenehm sein konnten).
Mein Körper fühlte sich merkwürdig ausgeruht und kräftig an, obwohl mir der Blick auf meine bandagierte Schulter, das eingeschnürte rechte Handgelenk und das Gefühl eines eng in Verband gewickelten Oberkörpers eigentlich das Gegenteil sagte. Doch als ich mich vorsichtig bewegte und sogar wagte, meine steifen Glieder ein wenig zu bewegen, durchfuhr mich nur ein pochendes Kribbeln. Unfassbar, dass meine größten Schmerzen in diesem Moment vom Neonlicht über mir verursacht wurden.
Mit einem Mal ertönte der dumpfe Knall einer zuschlagenden Tür und eine leichte Erschütterung fuhr durch den Raum. Die Stimmen waren verschwunden.
Ich sah mich um.
Das letzte Mal, als ich aufgewacht war, hatte ich noch in einer horizontalen Rückenlage im Bett gelegen. Nun hatte man den oberen Teil meines Bettes so weit hochgefahren, dass ich halb sitzend, halb liegend mein kleines Zimmer überblicken konnte. Oder besser gesagt, das kleine Areal, das durch die Vorhänge einen verstellbaren, dennoch privaten Raum bildete.
Es sah alles noch genauso aus wie damals, als ich Ruby nach ihrer Entführung auf der Krankenstation besucht hatte. Wenigstens war ich inzwischen klar genug im Kopf, um das mit Sicherheit sagen zu können.
Ich war auf der Krankenstation. Das bedeutete, ich befand mich in der Akademie, was wiederum hieß, dass sie nicht zerstört worden war und das Gefecht wirklich nur auf der Fläche stattgefunden hatte, die von Akaya auserwählt wurde. Sie war bestimmt davon ausgegangen, die Schlacht ruhmreich und ohne weitere Komplikationen für sich zu entscheiden, dass sie es nicht für nötig gehalten hatte, sich gleichzeitig schon unserer Phoenix-Akademie zu widmen.
Obwohl in mir ein reger Gefühlssturm tobte, war die Emotion, die alles überlagerte, tiefe, ruhige Erleichterung. Mein Herzschlag war beständig und fest, was nicht nur das gleichmäßige Pochen in meiner Brust verriet, sondern auch der Monitor, den ich heute Nacht schon bemerkt hatte.
Das erste Mal seit Tagen fühlte ich mich wirklich aufrichtig gut.
Schritte näherten sich und mein Vorhang wurde beiseitegeschoben. Mr. Mason erschien hinter dem schweren Stoff, die Augen konzentriert auf ein Klemmbrett in seinen Händen gerichtet. Als er den Blick hob und bemerkte, dass ich ihn ansah, zuckte er kurz zusammen.
„Oh, Sarina. Schön, dass du aufgewacht bist." Sein Lächeln war verblüfft, aber aufrichtig. „Ich hätte nicht erwartet, dass du schon wach bist. Du hast doch so einiges abgekriegt."
„Ich fühl mich eigentlich ziemlich gut.", erwiderte ich und zuckte mit den Schultern, was jedoch keine allzu schlaue Idee war. Ein brennendes Stechen durchfuhr mich und ich verzog kurz das Gesicht. „Na ja, fast gut."
„Das freut mich." Er prüfte den Infusionsbeutel, der an einem Metallständer hing und dessen durchsichtige Flüssigkeit mit einem schmalen Schlauch in meinen linken Handrücken infundiert wurde. „Soll ich dir irgendetwas bringen? Hast du Schmerzen? Durst? Hunger?"
„Vielleicht ein Wasser." Bei dem Gedanken an etwas zu trinken wurde mein Mund ganz trocken. Ich hatte das Gefühl, seit Tagen nichts mehr zu mir genommen zu haben. Er nickte, verschwand kurz und kam dann mit einem Glas Wasser zurück. Das reichte er mir und ich nahm es dankend entgegen.
„Wie lange bin ich denn schon hier?", fragte ich gewollt beiläufig, doch die Neugier war meinem Tonfall anzuhören.
Mr. Mason stützte die Hände auf das Bettgestell zu meinen Füßen und ich nahm einen Schluck.
„Wir haben dich und Tai vor zweieinhalb Tagen im Wald aufgegabelt. Keniir hatte eine ungewöhnliche Erschütterung im Erdreich bemerkt und konnte sich an die Routen des unterirdischen Wegsystems der Burg erinnern. Die Elfen haben uns geholfen, dich und Tai von diesen riesigen Erdtieren herunterzuziehen und dann sicher zur Akademie zu begleiten."
„Keniir?", fragte ich ungläubig und machte große Augen. „Sie meinen den Elf Keniir? Den Offizier?"
Der Schularzt lachte.
„Genau den. Len kam gar nicht mehr aus dem Danken heraus. Ich glaube, er wird ihm noch in den nächsten Tagen einen Dankesspeer zukommen lassen."
Ich grinste, aber mein Herz schlug mit einem Mal doppelt so schnell, was die Zahlen auf dem Monitor auch gleich fröhlich piepend verkündeten.
Len war bei mir gewesen.
Das heißt, ihm war nichts zugestoßen.
Eine Welle Sehnsucht überkam mich. Nur der Gedanke an meinen Freund machte mich ganz hibbelig und in meiner Magengegend begann es aufgeregt zu kribbeln. Mir war bis jetzt gar nicht klar gewesen, wie sehr ich ihn vermisste.
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne deine Verbände überprüfen und wechseln. Dann sage ich deinen Eltern Bescheid. Sie wollen dich bestimmt sehen."
„Meine Eltern sind hier?!"
Der Satz platzte lauter heraus, als ich beabsichtigt hatte, und ich richtete mich noch ein Stück weiter auf.
„Ja, sie sind noch am Abend vor der Schlacht angekommen, aber haben dich und Len verpasst. Sie dachten schon, sie hätten dich verloren, als du nicht mit unserer Armee zurückgekehrt bist.", erzählte Mr. Mason, zog einen kleinen gepolsterten Sitzhocker mit Rollen zu sich heran und setzte sich neben mein Bett. Dann öffnete er den Verband um meine rechte Hand. Augenblicklich hatte ich das Gefühl, die Muskeln und Sehnen würden in sich zusammenfallen.
Ich rümpfte die Nase.
„Tut das weh?" Der Arzt nahm vorsichtig meine geschwollene Hand und drehte sie vorsichtig nach rechts und links.
„Es geht. Ist sie gebrochen?"
„Nein, nur geprellt. Aber drei deiner Rippen hat's erwischt. Eine ist schief zusammengewachsen, da die Heilung bereits eingesetzt hatte. Wir mussten sie erneut brechen und richten, aber der Rest ist bereits wieder so gut wie neu. Der Verband um deine Brust dient nur noch der Sicherheit. Du hattest so ein Glück, dass du keine schwerwiegenden inneren Blutungen hattest."
Ein ungläubiges Kopfschütteln seinerseits.
"Was dir da oben auf dem Turm wohl zu gestoßen ist- . . .?"
Er ließ die Frage offen im Raum stehen, aber ich reagierte nicht. Noch fehlte mir die Kraft, mich mit den grausamen Geschehnissen jener Nacht auseinanderzusetzen. Meinetwegen konnte dieser Zustand auch noch ein wenig länger andauern. Auch wenn das bedeutete, dass ich mich dadurch wie ein riesen Feigling aufführte.
Mr. Mason bemerkte mein unbehagliches Schweigen und zeigte schließlich auf meinen Kopf, um das Thema zu wechseln.
„Die Platzwunde an deinem Kopf ist genäht und den Verband konnte ich heute Morgen schon abnehmen und gegen ein Pflaster tauschen. Alpha-Gene sind wirklich bemerkenswert. Bei normalen Metamorphen hätte das mindestens eine Woche gedauert."
Schon wieder überkam mich ein ungutes Gefühl.
Ein verzücktes Funkeln lag in seinem Blick. Das Glitzern erinnerte mich nur allzu gut an die Miene der irren Vampirin und ihre kranke Versessenheit auf Macht über die gesamte magische Welt. Zwar war mir klar, dass dieser Gesichtsausdruck Welten von dem des Schularztes entfernt war, dennoch verursachte er mir eine Gänsehaut. Deshalb wusste ich wieder nichts Anderes darauf zu erwidern als ein Nicken.
In den nächstens Minuten wechselte Mr. Mason mit geübten, schnellen Handgriffen behutsam alle Verbände, um mir ja nicht wehzutun, während ich schweigend dasaß und ihn hantieren ließ.
„Wenn dir schwindelig oder übel werden sollte, sagst du bitte sofort Bescheid. Wir haben eine leichte Gehirnerschütterung bei dir festgestellt, aber es ist nichts Dramatisches. Trotzdem ist Vorsicht geboten." Er warf mir einen warnenden Blick zu und klebte das Ende des weißen Verbands um meine Rippen mit einem kurzen Klebestreifen fest. „Du kannst versuchen, aufzustehen, aber ich bitte dich immer jemanden dabei an deiner Seite zu haben, der dich notfalls stützen oder auffangen kann."
„Okay.", sagte ich nickend und Ungeduld machte sich in mir breit. „Können Sie meine Eltern holen?"
Sanfte Augen schauten auf und das darauffolgende Lächeln erhellte sein gesamtes Gesicht.
„Natürlich. Sie sind vor einer halben Stunde unten zum Essen in den Speisesaal gegangen. Sie sind bestimmt bald wieder hier."
Als hätten sie unserer Unterhaltung heimlich gelauscht, öffnete sich genau in diesem Moment die Tür des Krankensaals und das Geräusch von Schritten auf glattem Boden näherte sich. Ich konnte allein an der Art, wie die beiden Personen liefen, sagen, dass es sich dabei um das schnelle, eilige Getrippel meiner Mutter und das etwas langsamere, schwere Gestapfe meines Vaters handelte.
"Ich gehe dann mal.", verabschiedete sich der Arzt, stand auf und schob den beigen Vorhang das letzte Stück beiseite, welches bis eben noch den blonden Schopf meiner Mutter verdeckt hatte. Sie wandte sich sofort an Mr. Mason, der im Begriff war zu gehen, da sie noch nicht bemerkte, dass ich bereits wach war.
"Und? Wie geht es ihr?", fragte sie leise.
"Fragen Sie sie doch einfach selbst.", erwiderte er mit einem vielsagenden Lächeln, klopfte meinem Vater, der nun auch hinter meiner Mutter aufgetaucht war, einmal freundschaftlich auf die Schulter und trat dann einen Schritt nach rechts, um beiden den Blick auf mein Bett freizulegen.
"Oh Sarina!" Meine Mutter schlug die Hände vor den Mund, genauso wie sie es in meinem Traum getan hatte, und ein erstickter Laut entwich ihr. Doch dieses Mal strahlten ihre Augen in dem himmlischsten Blau, das ich je gesehen hatte.
"Mum", presste ich hervor und spürte die Tränen, die sich hartnäckig in meinen Augenwinkeln sammelten. Sie war so schnell bei mir, dass ich es durch den verschwommenen Schleier erst gar nicht realisierte. Erst, als zierliche Finger mir über die Wange strichen, konnte ich meinen Blick fokussieren. "Hey, mein Schatz. Wie geht es dir?"
"Mum", schluchzte ich nur und fand mich daraufhin in einer warmen, wiegenden Umarmung wieder. Mein ganzer Körper hatte erneut angefangen, unkontrolliert zu zittern, doch der vertraute Geruch und die leisen, beruhigenden Worte meiner Mutter, die sie liebevoll in mein Ohr wisperte, legten sich wie eine Decke um mich. Kurz darauf fühlte ich die großen Hände meines Vaters, der mir ebenso sanft über den Rücken strich.
Ich fühlte mich zurückversetzt in meine Kindheit, als ich mir beim Radfahren das Knie aufgeschürft hatte und nicht aufhören konnte, zu weinen. Damals hatten wir alle auf dem heißen Pflasterweg vor unserem Grundstück gehockt, während sich meine Eltern die größte Mühe gaben, eine achtjährige, schreiende Sarina mit Küssen und Rückengetätschel zu beruhigen. Trotz des Brennens an meinem Bein war dieser Moment zu einer meiner schönsten Erinnerungen geworden.
Eine ganze Weile verharrten wir in dieser verschlungenen Position, die der von damals nicht ganz unähnlich war. Wahrscheinlich würde ich noch des Öfteren an diesen Moment zurückdenken und dabei nicht verdrängen können, dass alles auch hätte anders kommen können.
"Ich bin so froh, dich zu sehen, mein Schatz.", flüsterte Mum mir ins Ohr und drückte einen Kuss auf meine Wange. "Wir dachten- . . ." Sie stockte und schluckte schwer. "Wir dachten schon-"
"Ich weiß.", presste ich mit schmerzender Kehle hervor, da ich mir die größte Mühe gab, nicht zu einem Wasserfall zu mutieren. Ich hatte meine Eltern zwar erst vor zweieinhalb Monaten zu Weihnachten gesehen, ehe die Geschäftsreise meines Vaters unserer gemeinsamen Zeit einen Strich durch die Rechnung machte, doch mir kam es schon viel länger vor. Wir hatten uns damals ja nicht gerade herzlich voneinander verabschiedet. Ein Hauch trauriger Reue hatte uns bis zur Tür des Alphahauses begleitet und es nicht gerade leicht gemacht, einen gebührenden Abschied auszusprechen, der eigentlich unerlässlich war, wenn man sich für mehrere Monate voneinander trennte. Hätten wir damals gewusst, unter welchen Umständen unser nächstes Treffen sein würde, hätten wir diese Lappalien augenblicklich über Bord geworfen. Doch so hatten meine Eltern Stunde für Stunde um ihre einzige Tochter bangen müssen, da ich nicht unter den zurückkehrenden Soldaten gewesen war.
"Es tut mir leid, dass ihr euch Sorgen gemacht habt. Ich wollte wirklich nicht, dass das alles passiert.", weinte ich in Mums Halsbeuge.
"Sssch, Sarina. Das wissen wir doch."
"Ich wollte doch nicht, dass ihr Angst um ich habt."
"Das wissen wir.", brummte mein Vater. "Denk nicht mehr darüber nach. Jetzt haben wir dich ja wieder. Wir sind so froh, dass du jetzt bei uns bist."
"Aber-", heulte ich auf. "Aber Mrs. Roberts nicht! Ich konnte sie nicht retten!"
Das herzzerreißendste Schluchzen, das ich je von mir gehört hatte, entfloh meinem Mund und mein Körper zitterte vor innerlicher Qual. Meine Eltern schauten sich bestürzt an.
"Ich- Ich war nicht schnell genug. Ich war doch so nah dran." Fast wie zur Verdeutlichung hob ich meine rechte Hand, doch sie fiel fast augenblicklich wieder zurück in meinen Schoß, da mir die Kraft fehlte. "Sie ist einfach- . . . gefallen. Zusammen mit Akaya. In die Flammen. Als ob sie nie gelernt hätte, wie man sich im Flug verwandelt."
"Oh Sarina." Meine Mutter strich mir eine nasse Strähne aus der Stirn und schob mich sanft von sich, damit ich ihr in die Augen schauen konnte. Als sie sprach, waren ihre Worte leise, aber eindringlich: "Hör mir zu, mein Schatz. Du kannst rein gar nichts dafür, was geschehen ist. Mrs. Roberts wusste, was sie tat. Sie hat eine Entscheidung getroffen, von der sie überzeugt war, dass es die richtige war. Da bin ich mir sicher. Sie hat sich nicht umsonst geopfert, falls du das denken solltest. Wenn sie nicht so mutig gewesen wäre, wer weiß, was uns dann gedroht hätte. Wir haben schon jetzt nur mit Mühe und Not siegen können. Wie eine Niederlage ausgesehen hätte, möchte ich mir gar nicht erst vorstellen."
Mein Vater setzte sich neben meine Mutter ans Fußende des Bettes und nahm meine kalte, schwitzige Hand. Die vertrauten, warmen Pranken umschlossen meine geballte Faust gänzlich, während seine tiefen, braunen Augen mich direkt ansahen. Er war noch nie ein Mann großer Worte gewesen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht spiegelte all die Gedanken in meinem Inneren wider, die mich so zerfraßen: die Schuld, die Reue, die Trauer.
Ich wusste nicht warum, aber irgendetwas sagte mir, dass er wohl einst ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.
"Hör auf deine Mum, Sarina.", sagte er und nickte mit dem Kopf, sodass eine braune Locke in seine Stirn fiel. "Ich bin davon überzeugt, dass Mrs. Roberts sich ihrer Pflichten, ebenso wie den Konsequenzen bewusst war, die folgen würden, wenn sie sie nicht erfüllte. Sie hat den Weg gewählt, den nur die Wenigsten wählen würden. Das macht sie zu einem ehrenwerten Menschen."
"Was bringt Ehre, wenn man tot ist?", sagte ich mit belegter Stimme und konnte den mitschwingenden Hauch Ärger nicht verbergen.
"Ach, mein Schatz.", lächelte meine Mutter traurig und strich mir über die feuchte Wange. "Es gibt gewisse Dinge, auf die man keinen Einfluss hat. Und Mrs. Roberts' Entscheidung ist eine davon gewesen."
"Len ist bestimmt am Boden zerstört.", fiel mir plötzlich ein. Hastig wandte ich mich meinen Eltern zu, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt. "W-wie geht es ihm? Er weiß doch bestimmt gar nicht, was er jetzt tun soll! Könnt ihr ihn nicht holen? Kann ich mit ihm sprechen?"
Das glockenklare Lachen meiner Mutter drang an mein Ohr und ließ einen kleinen Teil der Last auf meinem Herzen verschwinden.
"Ganz ruhig. Ja, Len geht es nicht gerade gut, doch er hat seit gestern alle Hände voll zu tun, sodass ihm wahrscheinlich nur wenig Zeit zum Trauern bleibt." Sie sah besorgt aus, als sie das sagte. "Er muss einige Dinge wegen des Testaments regeln, die Trauerfeier für die Kriegsopfer organisieren, Versammlungen mit dem Lehrerkollegium abhalten, sich um die Verräterin kümmern und dann ist da noch seine Mutter."
Ich hustete vor Schreck.
"Wie bitte? Wer? Lens Mutter?"
"Ja, er hat sie wohl in einem naheliegenden Dorf gefunden."
"Lens Mutter ist hier?!"
"Sarina, schrei doch nicht so." Ein wenig verärgert rutschte sie von mir ab und hielt sich das rechte Ohr.
Das war eine Information zu viel. Ich spürte, wie sich erst alles in meinem Kopf und dann vor meinen Augen zu drehen begann.
"Ups", keuchte ich und ließ mich nach hinten ins Kissen sinken. "Mir ist irgendwie schwindelig."
Alarmiert schloss Mum die Lücke zwischen uns wieder und nur einen Wimpernschlag später, spürte ich ihre Hand auf meiner Stirn. Besorgt musterte sie mein erschöpftes Gesicht.
"Du bist ganz heiß.", murmelte sie, bevor sie sich zu meinem Vater umdrehte.
"Marco, hol doch bitte noch einmal Mr. Mason. Vielleicht kann er ihr etwas gegen das Fieber geben."
Ihre Stimme war plötzlich wieder so weit entfernt.
"Ich- bin so . . . müde.", lallte ich und die Ränder meines Sichtfelds wurden immer dunkler. Eine tiefe, bleierne Schwere zog mich in ihren Bann. Wahrscheinlich war ich doch noch nicht so fit, wie ich gedacht hatte.
"Alles wird g- . . .t, Sar- . . . na. Du wir- . . .st sehen. Schla- . . .f ein bis- . . . en."
Und obwohl ich nichts lieber tun würde, war da eine nagende Unruhe in mir, die sich hin und her wandte wie die Schlangenwurzeln des Baumes in meinem Traum.
Es gab so vieles, das ich noch zu erledigen hatte. Dinge, die ich zu berichten hatte, sagen und fragen musste. Leute, die ich sehen und mit denen ich reden musste, um sicherzugehen, dass alles wirklich so gut war, wie es mir meine Eltern versichert hatten.
Was war mit Len?
Wie ging es ihm wirklich?
Und wie zur Hölle hatte er seine Mutter gefunden? Was meinten meine Eltern damit, sie sei hier?
Warum war er nicht hier? Bei mir.
Wollte er mich nicht besuchen, weil ich- Weil ich seine Tante nicht-
Nur am Rande bekam ich mit, wie der Arzt an mein Bett trat, meine fiebrige Stirn fühlte und nach einem besorgten Stirnrunzeln verschwand, um eine Spritze zu holen. Der feste Griff von Mums Hand lockerte sich die ganze Zeit kein bisschen, obwohl ich wusste, dass sie eine Nadelphobie hatte.
Das Schwindelgefühl war jetzt so stark, dass ich selbst mit geschlossenen Augen das Gefühl hatte, ich würde auf einem immer schneller werdenden Kettenkarussell durch die Lüfte segeln.
"Dana- . . .ch wird es dir bes- . . .ser gehen, Sar- . . . ina.", sagte der Arzt und ich wusste nicht genau, ob ich nickte oder die Welt sich von ganz allein bewegte.
Und dann war da wieder nichts.
Nur warme, geborgene Finsternis.
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Heyho Leute!
Hier das nächste Kapitel, jej! (habe ausnahmsweise mal kein Vierteljahr gebraucht ^^')
Wir nähern uns wirklich mehr oder weniger langsam, aber umso sicherer dem Ende. . . Trotzdem tue ich wirklich alles Mögliche, um das zu verhindern. Ratet mal, wer schon wieder ein Kapitel in zwei unterteilt hat?
Yep, that's me.
Egal, es dauert so lange wie es eben dauert. Ich denke mal, von euch wird sich da niemand drüber beschweren oder? xD
Aber erst einmal: Was haltet ihr von dem Kapitel?
Sarina scheint ja emotional sehr instabil zu sein xD
Außerdem sind ihre Eltern da (die bis jetzt da nicht immer sehr gut weggekommen sind) Mögt ihr Marco und Celine McAllen eigentlich? Sie haben ja einige sehr fragwürdige Entscheidungen für ihre Tochter getroffen . . . Aber ich glaube wirklich, sie meinen es nur gut.
So, und zu guter Letzt: #Lerina
Wie stellt ihr euch eigentlich das Wiedersehen der beiden vor? Irgendwelche Wünsche? ^^
Ansonsten ist konstruktive Kritik, Meinungen, Verbesserungsvorschläge etc. immer willkommen!
Habt einen schönen Abend und hoffentlich bis bald!
LG <3
Eure Cherry
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