Das letzte Gefecht
Burg Blutmond war eine einzige riesige Fackel. Die einst massiven, aber nun über die Jahre halb verfallenen Baumstämme, die eigentlich als Hindernis und Abschreckung für Gegner an der gesamten Außenseite der Ruine aufgestellt waren, standen nun in hellen, lodernden Flammen und niemand wagte es weder hinaus, noch hinein. Trotz des nassen und kalten Wetters fraß sich der gewaltige Feuerkreis unerbittlich durch das morsche Holz und griff mit seinen heißen Fingern bereits nach den Efeuranken, die sich immer noch wie eine schützende, grüne Decke über das Mauerwerk der Ruine legten. Es würde jedoch nichts nützen. Innerhalb von wenigen Minuten würden auch sie in Brand stehen.
Ich flog seit geraumer Zeit meine Kreise über dem Schlachtfeld. Ab und zu wandte ich mich auch zum Wald hin, doch es zog mich immer wieder instinktiv zurück zur hügeligen Grünfläche, die aus der Luft nur zu einem einzigen Strudel aus schmutzigem Schneematsch, Blut und schreienden Kampfpaaren verschwamm. Ich hatte auch in Erwägung gezogen, unseren ehemaligen Lagerplatz aufzusuchen, der durch den Verrat letztendlich von Akayas Armee unter den Nagel gerissen wurde. Aber mein Gefühl sagte mir aus irgendeinem Grund, dass sich die Vampirin dieses spektakuläre Blutgemetzel nicht entgehen lassen würde. Wenn in meinen Visionen ein Dorf von ihren Truppen überrannt wurde, war sie immer in unmittelbarer Nähe gewesen, um den Überfall mit ihren eigenen Augen zu überwachen und sich an dem Elend der Leute zu ergötzen.
Warum es ausgerechnet heute, in der von ihr lang ersehnten, großen Schlacht gegen ihre Erzfeinde anders sein sollte, erschien mir, wie lange ich auch darüber nachdachte, nicht schlüssig. Ich wusste, sie war hier irgendwo.
Ich musste sie nur finden . . .
Mittlerweile hatte ich die vierte große Runde über dem Feld beendet und wollte gerade zu einer neuen ansetzen, da nahm ich aus dem Augenwinkel eine dunkle Silhouette wahr. Sie hob sich trotz der hellen Flammen jedoch kaum von den kantigen Umrissen der Ruine ab und verschmolz somit fast mit der Umgebung. Die schwarze Gestalt stand auf einem der Türme, den ich mittlerweile schon einige Male passiert hatte. Er schien im Gegenteil zu einigen anderen Teilen der Burg noch recht stabil und intakt zu sein, und dabei weit davon entfernt, in absehbarer Zeit dem sich mörderisch schnell ausbreitenden Feuer zum Opfer zu fallen.
Ganz instinktiv änderte ich meinen Kurs. Mit dieser Kehrwende pfiff der eisige Wind direkt um mein Gesicht und zerrte wütend an meinem Gefieder, ganz so, als wolle er mich von meinem Vorhaben abhalten. Doch ich trieb meine bereits müden Flügel weiter an, während das Ziehen in meiner Brust immer weiter anschwoll. Meine Augen fixierten die Plattform des Turms, die jedoch nun, da ich sie näher sah, leer war.
Ich hätte schwören können . . .
Ungeachtet der Tatsache, dass ich mich anscheinend mal wieder geirrt hatte, hielt ich trotzdem weiter meinen Kurs. Ich musste meine schmerzenden Flügel erholen und von dort oben hatte sowohl einen guten Aussichtspunkt, als auch einen ungestörten Ruheplatz.
Nur wenige Flügelschläge später hatte ich mein Ziel erreicht und verwandelte mich zurück in meine Menschenform. Erleichtert, endlich einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, entfloh mir ein kleiner Seufzer. Mit leicht zittrigen Knien drehte ich mich um, stützte meine Ellbogen auf das kalte Gestein einer Zinnenscharte und schloss für einen Moment die Augen. Verbissen versuchte ich so gut wie möglich den Lärm der Schlacht auszublenden; das Geschreie und Gekreische der Monster und Krieger, das helle Klingen von Stahl und Metall als auch das Schmatzen des Schlamms, wenn ein schwerer Körper zu Boden geworfen wurde oder einfach leblos zusammensank. Der Geruch von matschiger Erde, Blut und verbranntem Fleisch und Haaren vermischte sich mit dem stickigen Rauch von Feuer, das nicht nur überall auf dem Feld loderte, sondern sich auch bereits mit seiner Hitze an den Burgwänden hinauf in den Himmel fraß. Die Flammen am Fuße der Ruine waren schon so hoch, dass ich bereits mehrere hundert Meter über dem Boden schwache Hitzewellen auf meinen Wangen spürte, die meine kalte Haut merkwürdig zärtlich liebkosten.
Angewidert schüttelte ich den Kopf. Der starke Kontrast von dem, was ich dort unten sah, aber hier oben spürte, schürte meinen Hass auf die Vampirin nur noch mehr.
Vielleicht sollte ich doch einmal im Lager der Wervampire nach Akaya suchen? Immerhin schien dieses Versteck hier ja ein Fehlschlag gewesen zu sein. Wo könnte sie sich noch verstecken?
Während ich darüber nachdachte, veränderte sich etwas. Zuerst konnte ich nicht ganz greifen, was es war, aber nach wenigen Sekunden erkannte ich es.
Die Geräusche des Kampfes, die gerade eben noch so klar und deutlich zu mir hinaufgedrungen waren, wichen einem dumpfen Dröhnen, das unangenehm auf meine Ohren drückte. Es hörte sich an, als würde man Radio Unterwasser hören, während der Lautstärkeregler in einer nervigen Endlosschleife den Ton immer wieder lauter und leiser drehte.
Der heiße Druck auf meiner Brust vergrößerte sich und mein ganzer Körper vibrierte angestrengt unter der Energie, die sich brennend in meinen Adern ausbreitete. Probehalber versuchte ich, meinen kleinen Finger anzuheben.
Er bewegte sich.
Ein böses Lächeln stahl sich auf meine Lippen, während ich jedoch innerlich vor Erleichterung fast aufgeschluchzt hätte. Mein Gesicht war immer noch dem nun vollkommen verdunkelten Sternenhimmel und der unten tobenden Schlacht zugewandt.
Und mit einem Mal war alles still.
Die isolierende Blase, die ich schon aus meinen Träumen und vom Tag des Überfalls auf unseren Schulball kannte, hatte sich wie eine schützende Kugel um den oberen Teil der Burg gelegt. Zum ersten Mal auch sichtbar für mich.
Wie eine riesige, ölige Seifenblase irisierte die Kuppel über meinem Kopf. Die farbenfrohe Vielfalt, die man jedoch normalerweise erwarten würde, fehlte hier gänzlich. Stattdessen waberten dunkle Schatten wie Öl auf Wasser über den Nachthimmel, die jedoch immer, wenn man sie näher betrachten wollte, an den Rand des Blickfelds rutschten. Wie sehr ich mich auch anstrengte, mein Blick wurde sofort durch sie hindurch und stattdessen auf den plötzlich sternlosen Nachthimmel gelenkt. So sah es so aus, als schwebe dort über mir zwar eine Blase, während es zugleich jedoch den Anschein hatte, als wäre sie nicht da.
Es brauchte einen kurzen Augenblick, um meine Augen an dieses seltsame Phänomen zu gewöhnen. Doch schließlich, als ich mich bemühte, die Blase nicht an- sondern durch sie hindurch zu sehen, sprangen mich die Schatten mit ihrer unerklärlichen Durchsichtbarkeit direkt an. Sie wirbelten in jeder erdenklichen Graustufe um- und ineinander, türmten sich auf, streckten sich, griffen mir ihren gierigen, allesschluckenden Händen in den Himmel, um jedes noch so kleine Glühen oder Geräusch zu packen und schließlich im Kern zu ersticken.
Ich fragte mich, ob man dieses seltsame Schattenspiel auch vom Feld aus sehen konnte. Doch selbst wenn, waren die Armeen viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig die Kehlen aufzuschlitzen, als auch nur einen kurzen Blick auf die seltsame übergroße Seifenblase des Todes am Himmel zu werfen.
„Sieh an, wen haben wir denn da?"
Eine säuselnde Stimme drang an mein Ohr und obwohl ich wusste, dass die Vampirin noch mehrere Meter von mir entfernt war, wirkte es fast so, als stünde sie neben mir. Ich hätte sogar schwören können, ihren kalten Atem an meinem Ohr zu spüren.
Ein unbeschreiblicher Geruch breitete sich um mich herum aus, ließ die Haare auf meinen Unterarmen zu Berge stehen, während ich jedoch gleichzeitig nicht genug kriegen konnte. Es war eine Mischung aus faulendem Moder, Blut, Tannennadeln und . . . Kälte. Es war schwer zu beschreiben, doch hätte Kälte einen Geruch, würde sie zum Teil riechen wie die rotäugige Frau hinter mir.
"Wer bist du, dass du so mühelos mein Versteck gefunden hast, ohne dabei völlig den Verstand zu verlieren?"
Neugierige Blicke bohrten sich in meinen Nacken und die Gänsehaut auf meinem Körper verstärkte sich.
Na ja, offenkundig auf einem Aussichtsturm zu stehen und von dort aus die Schlacht ihres jahrhunderte alten Lebens zu verfolgen, war nun alles andere als gut versteckt. Aber ich wollte ihr mit dieser Erwiderung nicht die Illusion zerstören.
Also schwieg ich weiter.
"Hm," machte die Vampirin nachdenklich und klang dabei auf irgendeine abgedrehte Weise ein wenig vorfreudig. Ganz so, als überlege sie schon, auf welche besonders grausame Art sie mich abmurksen könnte.
"Umdrehen!"
Ihr Befehl schickte einen schmerzhaften Ruck durch meine Glieder und eine Welle Adrenalin überrollte mich. Aber das war auch schon alles.
Noch einmal prüfte ich meinen kleinen Finger, der sich jedoch immer noch mühelos bewegen ließ und mir kam eine Idee. Ich musste einfach nur mitspielen.
Mein Körper versteifte sich augenmerklich und ich zwang mich, so roboterhaft wie möglich, langsam ihrem Befehl Folge zu leisten.
Akaya war noch genauso atemberaubend schön, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte.
Und genauso bedrohlich und irre, wenn ich das gefährliche Glitzern in ihren Augen richtig deutete, als sie schließlich ausgiebig mein Gesicht musterte.
"Hm", machte sie erneut, dieses Mal jedoch weniger begeistert. Ihre blutroten Augen kniffen sich zu schmalen Schlitzen zusammen und der volle Schmollmund verzog sich zu einer Schnute. Sie sah aus wie eine zu groß geratene, mörderische Drittklässlerin, der man ihren Nachtisch verwehrte, weil sie nicht aufgegessen hatte.
Ich hoffte nur, dass nicht ich in diesem Fall das Essen war, das es galt zu vertilgen, ehe sie sich dem Nachtisch auf dem Schlachtfeld widmen konnte.
Akaya begann, vor mir bedacht auf und ab zu gehen. Ihre nackten Füße erzeugten nicht den leisesten Laut auf dem steinigen Boden, während ihr langer schwarzer Mantel wie eine dunkle Wolke um ihre Beine strich. Mein Gesicht ließ sie dabei nicht ein einziges Mal aus den Augen.
Ich wusste nicht warum, aber ihre gleichmäßigen, katzengleichen Bewegungen machten mich schläfrig und das Fehlen von jeglichen Geräuschen von außerhalb unterstützten auch nicht gerade den Drang, mich am Leben zu erhalten. Denn genau das würde sehr schnell vorbei sein, sollte ich mich dazu entscheiden, mich jetzt zusammenzurollen und einfach einzuschlafen.
Mist, vielleicht hätte ich doch mehr schlafen sollen. Len und ich hätten uns echt einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. . .
Die Erinnerung an Len schien mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Denn das plötzliche Blut in meinen Ohren, das sich nur dorthin verirrte, weil meine Gedanken mal wieder in unanständige Richtungen wanderten, schien auch den Rest meines Kopfes wieder mit ausreichend Sauerstoff versorgen zu können.
Plötzlich war die einlullende Müdigkeit gänzlich verschwunden und ich blinzelte einmal.
Die Vampirin blieb mit einem Mal abrupt stehen.
Beinahe wäre ich vor Schreck zusammengezuckt, doch ich konnte meinen Körper noch rechtzeitig unter Kontrolle kriegen. Sonst wäre mein Plan hoffnungslos aufgeflogen.
"Wer bist du?", fauchte sie jetzt und stand von der einen Sekunde auf die andere so dicht vor mir, dass sich unsere Nasen fast berührten. Mein Herz schlug so schnell in meiner Brust, dass es schmerzte.
"Sarina.", presste ich hervor und die Angst, die mir ins Gesicht geschrieben stand, war nicht das kleinste Bisschen gespielt. Ich hatte einen Blick auf ihre scharfen Eckzähne werfen können . . . Sie waren schärfer als jede Waffe, die ich je in der Akademie gesehen hatte.
"Und weiter?"
Glitzernde Rubine bohrten sich in meinen Blick und ich versuchte, mich nicht von den schwarzen Schatten beeindrucken zu lassen, die in der Iris zu pulsieren schienen. Durch sie wirkte es so, als hätten Akayas Augen ein Eigenleben, das ihrer Iris je nach Gemütszustand eine andere Rotschattierung verlieh. Von hellem Scharlachrot bis zu dunklem Weinrot war alles dabei.
"McAllen."
Ihr modriger Atem strich über mein Gesicht und ein langer, weißer Finger folgte.
"Du bist vielleicht ein interessanter kleiner Formwandler, Sarina McAllen.", lächelte sie und ein fauliger Fingernagel kratzte über meine Wange. Wenn man sie von Nahem sah, war sie gleich weniger schön.
War sie dennoch atemberaubend?
Ja, nur eher im schlechten Sinne. Denn sie stank wirklich fürchterlich und ich konnte nicht glauben, dass ich ihren Geruch noch vor wenigen Minuten als betörend empfunden hatte. Auch die Schönheit, die ich die ganze Zeit nur von Weitem betrachtet hatte, war, so wie diese schillernde Blase dort über unseren Köpfen, nur eine perfekte Illusion.
Die weiße Haut wirkte außergewöhnlich trocken und ölig zugleich. Sie war sehr dünn, sodass sich Blutadern wie knorrige Äste über ihre Schläfe hinüber zu den Augen erstreckten, wo sie sich dann in dunkle, violette Schatten verflüchtigten. Inmitten dieser Schatten saßen die roten Augen tief in ihren Höhlen, fast zu tief. Es wirkte, als absorbierten sie all die Farbe, die eigentlich Akayas restlichen Gesichts zustand. Denn abgesehen davon, war weder in den Wangen, der Nase und dem Kinn kaum ein anderer Farbton als Alabaster zu erkennen. Nur die aufgerissenen Lippen zierte ein zarter Rosaton, der jedoch all seine Lieblichkeit verlor, als mein Blick auf das getrocknete Blut in ihren Mundwinkeln fiel.
Angestrengt unterdrückte ich ein Würgen.
So war die Vampirin letztendlich doch nur eine auf ewig jung gebliebene, verrückte Oma mit Rubinaugen, Messerzähnen und Pergamenthaut.
Ein Pulsieren an meinem Dekolleté lenkte meine Aufmerksamkeit kurz weg von den tödlichen Fangzähnen, die seit Akayas Lächeln nicht wieder eingepackt worden waren und nur bedrohlich im Schein des Mondes glitzerten. Auf irgendeine Weise schaffte er es immer noch, sein Licht durch die Blase am Himmel zu werfen.
Das Ziehen in meinem Inneren hatte mittlerweile einen neuen Höhepunkt erreicht und meine Knie zitterten mittlerweile nicht mehr vor Angst, sondern vielmehr von der unterdrückten Macht, die sich seit einer guten Stunde in meinem Körper breitmachte. Das Gefühl brachte mich nun beinahe um den Verstand, doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund hielt ich es immer noch aus.
"Oh, was ist denn das?" Der neugierige Tonfall der Vampirin ließ mich aufhorchen und schließlich traf es mich wie ein Schlag: Der Alpha-Anhänger.
Natürlich. Wieso war mir das nicht früher eingefallen?
Er war der Grund, dass ich mich damals beim Ball nicht bewegen konnte. Er hatte nicht nur meine Aura, sondern auch meine Macht gehemmt. Erst jetzt, nachdem ich meinen letzten Machtausbruch vor ein paar Tagen hinter mich gebracht hatte, war ich so stark, dass mir nun ganz wie Len, Akayas Fähigkeiten nichts mehr auszumachen schienen. Gleichzeitig versteckte er jedoch immer noch meine wahre Identität vor ihr.
Der Blick der Vampirin schnellte zwischen mir und dem Anhänger hin und her. Sie schien nicht genau zu wissen, was sie von ihm halten sollte.
"Ist das etwa ein echter Saphir?"
Gierig streckte sie ihre mit Dreck und Blut verkrusteten Fingerspritzen aus. Dadurch erinnerte sie mich nur allzu gut an eine Elster, die von jedem kleinsten Glitzern unverzüglich angelockt wurde, um es sich unter den Nagel zu reißen.
Als sie ihn berührte ertönte ein hohes Zischen, als würde man kaltes Wasser auf eine heiße Herdplatte gießen. Augenblicklich zog sie ihren Finger zurück und ich sah gerade noch so die tropfenförmige Verbrennung auf ihrer weißen Haut.
Schneller als ich es wahrnehmen konnte, war sie fauchend mit einem einzigen Satz gleich mehrere Meter von mir zurück und an das andere Ende der Burgplattform gesprungen. Nun kauerte sie dort in den Schatten und hielt sich die verbrannte Hand.
"Was zum blutigen Mond-", schimpfte sie und ihre Augen wirkten jetzt fast schwarz, als sie mich feindselig musterte. "Ich frage dich noch ein einziges Mal, Mädchen: Wer bist du?"
Die glühende Energie ballte sich mittlerweile nur wenige Zentimeter unterhalb der Kuhle zwischen meinen Schlüsselbeinen. Genau da, wo der Anhänger lag.
Meine rechte Hand wanderte inzwischen fast wie von selbst hinauf zu ihm, während die linke nach dem Serum der Elfen in meiner Hosentasche tastete. Vielleicht gelang es mir, den Trank auf irgendeinem Weg in ihren Körper zu kriegen. Efy hatte mir gezeigt, wie die muskelbepackten Hybriden nach nur einem Tropfen von ihm innerhalb weniger Sekunden in sich zusammengeklappt waren. Eine ganze Flasche müsste für die Vampirin doch dann bestimmt das Todesurteil schlechthin sein.
"Ich bin Sarina McAllen.", sagte ich ruhig und trat einen Schritt auf sie zu. Akayas kindlicher Gesichtsausdruck glättete sich zu einer ernsten Miene, als sie sah, mit welcher Mühelosigkeit ich mich auf sie zubewegte. "Und ich bin kein Formwandler."
Nur noch wenige Meter trennte uns voneinander und die schwarzhaarige Frau erkannte mittlerweile den Ernst der Lage. Sie sprang auf und wirkte dabei weniger elegant, als ich angenommen hätte.
"Ich bin Gestaltwandler."
Der schneidende Ton in meiner Stimme verursachte selbst mir eine Gänsehaut und ich merkte, dass sich der Doppelklang bereits unterschwellig ankündete. Der Anhänger zwischen meinen Fingern war glühend heiß, doch mir machte es nichts aus. Abschätzend wiegte ich ihn in meiner Hand. Wenn ich an sie herankommen wollte, musste ich ihn ablegen.
Solange sie wusste, dass sie von dem Ding verbrannt werden konnte, würde sie sich auf keinen weiteren Meter an mich herantrauen. Dann würden wir wohl bis in alle Ewigkeiten hier auf diesem Turm verharren und in abwechselnden Rollen Katze und Maus spielen.
Nein, wenn ich sie wirklich kriegen wollte, musste ich den ersten Schritt machen.
"Du bist ganz schön mutig.", kommentierte sie meine Bewegung, als ich Anstalten machte, den Kettenverschluss in meinem Nacken zu lösen. Ihre Stimme war zurück in ihrem altbekannten selbstgefälligen Tonfall.
"Das gebe ich gern zurück.", säuselte ich und ließ sie nicht aus den Augen. Meine Macht drückte so stark auf meine Brust, dass es mir beinahe schwerfiel, auch nur einen weiteren ordentlichen Atemzug zu nehmen.
"Immerhin kämpfst du bestimmt nicht jede Nacht mit einem Alpha."
Ein glänzendes, helles Leuchten schoss wie eine gigantische Lichtfontäne aus dem Saphir in alle Himmelsrichtungen, als ich die Kette mit einer einzigen schnellen Handbewegung von meinem Hals riss und vor mich streckte. Das türkise Leuchten hüllte mich augenblicklich ganz und gar in eine riesige Kugel aus pulsierender, heißer Energie. Der Kern dieses Lichts war so gleißend hell, dass ich die Augen zukneifen musste, um nicht geblendet zu werden.
Ganz instinktiv wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich legte all meine Verzweiflung, Angst, Wut und Kraft in dieses Leuchten. Das, was sich über die vergangenen Tage in mir gesammelt, gewunden und aufgebauscht hatte. All das, was noch vor wenigen Stunden von Len tief in meinem Inneren begraben worden war, kam nun zum Vorschein. Und ich legte alles daran, diesen Gefühlen nun endlich freien Lauf zu lassen.
Für die Akademie und die Schüler, die dort eine sichere Ausbildung hätten erhalten sollen, ohne gleich von einer Wahnsinnigen in den Tod gestürzt zu werden. Für Mrs. Roberts, für Len und vor allem für Lens Mutter. Für Nevis und seinen Onkel und das Rudel, die Opfer von Akayas verrückten Plänen wurden. Für Ruby, Aria, Paul, Cody, David und den verletzten Seth. Für Scarlet und Emily und Tai und ja, auch für Blondie und ihre Hühner. Doch vor allem für die Elfen und Efy und Keniir, die jetzt schon zum zweiten Mal unter einem Krieg leiden mussten, ohne auch nur im Geringsten etwas damit zu tun zu haben.
Für alle gefallenen Soldaten, die tapfer an unserer Seite gekämpft und ihr Leben für eine Sache gelassen hatten, die vermeidbar gewesen wäre.
Ein markerschütterndes Beben fuhr durch meinen Körper und mir war, als dringe nur für einen kurzen Moment der Lärm der Schlacht an mein Ohr. Die Lichtstrahlen bündelten sich mittlerweile zu einzelnen, kraftvollen Wellen, die erst als elektrische Flut von meinem Herzen, in meine Arme, Hände und Fingerspitzen, dann durch den Anhänger und letztendlich in den Himmel geleitet wurden. Ich sah, dass mit jeder Energiewelle, die auf die Schattenblase traf, eine funkensprühende, zischende Spannung erzeugt wurde, die sich in blassblauen Blitzen entlud. Am Himmel bildete sich ein einziges Machtspiel ab. Ein Spiel aus Licht und Schatten, Energie und Dunkelheit, Leidenschaft und Bosheit, sprühenden Lebens und trostlosen Tods.
Ein weiteres Beben ließ das Gestein zu meinen Füßen erbeben, als sich ein Loch in die Schattenblase schlug. Der Klang und Geruch des Krieges wehte zu uns hinauf, zwar immer noch weit entfernt und noch fast unwirklich, aber immerhin war es ein Anfang. Ich hatte es irgendwie geschafft, ein wortwörtliches Loch in die zwanghafte Kontrolle der Vampirin zu schlagen.
Noch im selben Augenblick, wo mir diese Erkenntnis kam, kreischte Akaya auf.
"Aufhören!", schrie sie, während sie beide Hände auf ihre Brust presste. Dahin, wo ihr lebloses Herz lag. "Hör auf! Hör auf!"
Ich war so überrascht, dass das Licht für einen Moment flackerte.
"Meine Kinder!", heulte sie und ich runzelte verwundert die Stirn. Um zu sehen, was sie vielleicht meinen könnte, warf ich einen Blick hinunter durch das Loch, das sich so schnell vergrößert hatte, dass es bereits einen Großteil des Schlachtfelds wieder sichtbar gemacht hatte. Auf den ersten Blick fiel mir nichts auf, doch als die dritte Welle die Schattenbarriere traf, warf das Beben einige der Wervampire wortwörtlich von den Füßen. Sie stürzten zu Boden, wanden sich im Matsch, krampften, zuckten, röchelten vor Schmerzen und waren somit das gefundene Fressen für unsere Soldaten.
Eine Welle Stolz durchströmte mich. Ich hatte schließlich doch noch einen Weg gefunden, unserer Armee zu helfen. Ganz ohne waghalsige Pläne, Überstunden im Labor und ungenehmigten Schatzsuchen in Verliesen.
Letztendlich erfüllte ich das, wozu ein Alpha gebraucht wurde: für den Schutz einer Familie.
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"Ich bringe dich um!", kreischte es schrill und ich konnte gerade noch schnell genug den Blick wieder nach vorn richten, um die verzerrte Fratze der Untoten und ihre mordlustigen roten Augen auf mich zukommen zu sehen. Ein harter Schlag traf mich von der Seite und ich verlor das Gleichgewicht.
Als ich auf den harten Steinen aufkam, sah ich für einen Moment nur schwarze, wogende Haare, rote, funkelnde Rubine auf weißem Grund und Sterne, die nicht nur am Himmel, sondern auch vor meinen Augen tanzten. Das blaue Licht verblasste. Meine Faust hatte sich von dem Anhänger gelöst und bevor ich danach greifen konnte, trat Akaya danach und schleuderte ihn mit ihrem Fuß auf die gegenüberliegende Seite der Plattform.
Meine Hüfte schmerzte und an meinem Kopf pulsierte es merkwürdig stark, ehe etwas Heißes und Nasses in meine Haare sickerte.
"Selbst dein Blut stinkt.", spuckte mir die dämonische Verrückte entgegen, die mich wie ein Rugbyplayer getackelt hatte und nun wie eine übergroße Spinne auf mir hockte. Ihre eiskalten Finger griffen nach meinem Hals.
"Seid ihr Alphas nicht angeblich von höherem Blut? Woher kommt denn immer dieses ganze Gerede?", feixte sie gehässig.
'Halbe Kraft!', schleuderte ich ihr stumm entgegen und der Griff, der verdächtig nach Zudrücken und nie wieder Loslassen aussah, legte sich nur so fest um meine Kehle, dass es mir geradeso noch gelang zu atmen.
Verwirrt, warum ich nicht unter ihr zappelte wie ein Fisch an Land, legte sich Akayas Stirn in dünne Fältchen.
'Druck halten'
Sie versuchte, fester zuzudrücken, doch je stärker sie probierte, desto mehr ächzte sie, während ich weiterhin nur dalag und mit meiner Hand in die linke Hosentasche fuhr. Es musste doch hier irgendwo sein . . .
Genervt schnalzte die Vampirin mit der Zunge und mit einem Mal befand ich mich wieder in der Vertikalen. Meine Füße baumelten nur wenige Zentimeter über dem Boden, doch da sie mich nirgendwo anders hielt, außer an meinem Hals, wich plötzlich die Luft, die ich noch vor einer Sekunde eingeatmet hatte, wieder aus meiner Lunge.
'Fallenlassen! Fallenlassen!', befahl ich, doch der Sauerstoffmangel und die plötzliche Panik führte dazu, dass ich mich nicht ausreichend konzentrieren konnte, um meine Macht weiterhin so auszufalten, dass es sie beeinflusste.
In diesem Augenblick wünschte ich, Len hätte neben seinen wirklich sehr hilfreichen Lektionen '1: Sei immer wachsam' oder 'Lektion 3: Sei immer bereit' auch eine Lektion 0, die besagte, was zu tun ist, wenn eine Vampirin dir die Luft und somit auch deine Macht abschnürt.
"Na, jetzt guckst du schon genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte.", grinste die Irre und ließ ihre Lippen geradeso weit nach oben gleiten, dass sie ihre Fangzähne entblößt wurden. "Schade, dass wir uns so kennenlernen müssen. Irgendwie wirkst du aufgeschlossener, als die Direktorin."
Ich gab ein nichtssagendes Prusten von mir, weil mir einerseits die Luft ausging und andererseits sie einfach so lächerliches Zeug von sich gab, dass ich fast gelacht hätte. Aber nur fast.
Ich versuchte, mich zu sammeln. Vielleicht sollte ich es erst einmal mit minimalen Körperbewegungen bei ihr versuchen, ehe ich ganze Muskelgruppen für meine Freilassung beanspruchte.
'Zeigefinger lockern!"
Sie bemerkte es nicht, doch ich konnte besser atmen, als sich der Druck beider Hände verringerte.
"Ich würde sogar so weit gehen, dass wir gute Freundinnen geworden wären, wenn wir uns früher getroffen hätten." Das kindliche Glitzern war zurück in ihren Augen, das mir gleichzeitig sagte, wie sicher sie sich ihrer Sache war, mich in ihrer Gewalt zu haben. Sonst würde sie nie und nimmer ihre eiskalte, oberste Maske fallenlassen.
'Mittelfinger lockern!'
Meine Beine baumelten weiterhin hilflos in der Luft herum, während meine rechte Hand hochfuhr. Vergeblich kratzten meine Fingernägel über die eisigen Hände, die mich erbarmungslos im (nicht mehr ganz so festen) Klammergriff hielten. Ich hätte jedoch genauso gut einen Stein zerkratzen können.
"Niemals.", keuchte ich atemlos und Akaya zog fast schon beeindruckt eine Augenbraue nach oben.
"Oh, sieh mal einer an. Trotz meiner überragenden Kraft gelingt es dir immer noch, einen Ton von dir zu geben. Vielleicht sollte ich mir das mit deinem Tod ja noch einmal überdenken."
Der Lärm auf dem Schlachtfeld schien mit einem Mal weiter entfernt als zuvor. Mein Blick schnellte nur kurz hinüber zur Lücke in der Blase, doch die klaffte weiterhin offen, ohne Anstalten zu machen, sich bald wieder schließen zu wollen.
Vielleicht bildete ich mir das nur ein. Immerhin musste ja dieser lächerliche Würgegriff trotz abgeschwächter Kraft irgendeinen Einfluss auf meine Wahrnehmung haben.
"Wir könnten Großes zusammen erreichen, Sarina.", lockte die Vampirin mittlerweile und ich hatte das Gefühl, etwas verpasst zu haben. "Du bist sehr mächtig. Mächtiger, als alles andere, was ich je gesehen habe."
Sie machte eine Pause.
"Abgesehen von mir natürlich."
War ja klar . . . 'Ringfinger lockern!'
Rauchige Luft strömte in meine Lungen und mit einem Mal wurde mir klar, wie nah das Feuer gekommen war. Ich konnte bereits kleine Glutfetzen erkennen, die an uns vorbei gen Himmel stoben. Die heißen Flammen würden bald hier sein.
Akaya schien dies nicht zu beunruhigen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie es überhaupt bemerkte.
"Du und ich, Sarina.", hauchte sie nun wie eine Besessene in mein Ohr. "Zusammen können wir der magischen Welt zeigen, was es heißt, zu herrschen."
"Ich brauche keine Herrschaft.", schleuderte ich zurück und zog wütend die Augenbrauen zusammen. "Deine dämliche Racheaktion kannst du dir sonst wohin schieben. Ich will damit nichts zu tun haben!"
Die unsterbliche Baronesse war zu sehr damit beschäftigt, nun wütend auf mich zu sein, anstatt sich zu fragen, warum es ihrer Geisel gelang, sich zu solch frechen Antworten herabzulassen.
"Wie kannst du es wagen!", keifte sie. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen. "Wenn ich mich recht daran erinnere, waren es die Formwandler, die sich das Recht herausgenommen haben, sich in unsere Geschäfte einzumischen!"
"Was für Geschäfte?", lachte ich abfällig. Meine Kehle fühlte sich trocken und wund an, aber nicht mehr allzu gequetscht.
"Ihr habt Unschuldige umgebracht. Tausende, hunderttausende von Unschuldigen, ob magisch oder nicht! Erzähl mir nichts von Geschäften. Das, was ihr getan habt, ist unverzeihlich!"
Akaya entließ ein grauenhaftes Lachen in die Nacht, dessen hysterischer Tonfall in meinen Ohren klingelte.
"Ich sehe schon, Ms. McAllen. Genauso ein großes Mundwerk wie die Vorfahren und dabei keinen Funken Verstand. Wer hat denn meine Brüder und Schwestern weggesperrt? Sie hinter Gitter gebracht, sterilisieren, foltern und töten lassen? Wer denkst du, war das?"
Ihre riesigen Rubine starrten mich so herausfordernd an, dass es mir die Sprache verschlug.
"Wer hat sich über alle anderen Rassen gestellt und über Schicksale entschieden, die sie gar nichts, rein gar nichts angingen? Ganz richtig geraten: Die Formwandler!"
"Aber du machst doch genau das Gleiche!", brüllte ich zurück und die Vampirin wich so abrupt zurück, als hätte ich sie geschlagen. Für einen Moment hoffte ich, einen wunden Punkt bei ihr getroffen zu haben, denn plötzlich spürte ich Boden unter meinen Füßen.
"Du zwingst unschuldige Leute mit deiner Macht, sich dir zu unterwerfen und raubst ihnen jegliche eigene Entscheidungskraft! Du zerstörst Familien, Freundschaften, Liebe, vielversprechende Zukunftsaussichten und Identitäten!" Die Wut, von der ich gedacht hatte, sie wäre mit dem Licht verschwunden, brodelte wieder gefährlich in mir hoch. Deshalb zwang ich mich zur Ruhe, obwohl die kalten Finger weiterhin bedrohlich meinen Hals umklammerten.
"Meine Vorfahren haben Fehler gemacht, ja.", gab ich ruhig zu.
"Ich weiß das und bin nicht sehr stolz darauf, welche Entscheidungen damals getroffen wurden. Doch beide Seiten haben sich nicht vorbildlich verhalten. Es lässt sich nicht leugnen, dass die erste Generation Hybriden und Chimären ihre Triebe nicht kontrollieren konnten und deshalb nur Gefahren mit sich brachten. Auch als die ersten Wervampire auftauchten, folgte ihnen immer nur eine Spur von Tod und Verwüstung. Beide Male war die magische Welt einer Bedrohung ausgesetzt, die neu und unbekannt war und somit nur ein Ausweg plausibel erschien: Ausgrenzung der Urheber und Minimierung aller möglichen nachfolgenden Gefahren für das Leben, das man bis dahin kannte."
In der Hoffnung, sie würde das, was ich sagte, auch wirklich verstehen, suchte ich Blickkontakt.
"Es hatte ja einen Grund, weshalb solche drastischen Maßnahmen ergriffen wurden. Maßnahmen, die weder richtig, noch zielführend waren. Aber-"
Meine freie Hand deutete in einer ausholenden Bewegung hinter uns auf das Schlachtfeld.
"sieh dir dieses Leid da unten an. Wieso müssen jetzt wir für etwas geradestehen, das unsere Vorfahren vor anderthalb Jahrhunderten verbrochen haben? Immerhin wart ihr diejenigen gewesen, die vor fünfzig Jahren aus den Verstecken krochen, um diese Fehde neu zu eröffnen. Wir haben damit überhaupt nichts mehr zu tun!"
"Ihr musstet dafür bezahlen, was ihr uns Schattenwesen so selbstverständlich und ohne Zögern angetan habt!", fauchte Akaya. "Eine neue, stärkere Art von Hybriden zu schaffen war der Weg, der uns genau zu diesem Ziel brachte!"
"Aber was hat das mit uns zu tun? ", heulte ich beinahe auf und wollte die Irre vor mir am liebsten schütteln. Auch wenn eigentlich vielmehr sie in der Lage war, mich einmal kräftig durchzurütteln. Oder vom Turm zu schmeißen.
Denn ein Blick hinter mich verriet mir, dass wir uns gefährlich nah an den Burgzinnen und den dazwischen klaffenden Leerräumen befanden.
"Was denkst du wohl, kleiner Alpha?", fragte mich die Vampirin angriffslustig mit grotesk weit aufgerissenen Augen. "Für dich Sterbliche mögen hundertfünfzig Jahre zwar lang sein, doch in meiner Welt ist es nur ein Wimpernschlag. Es kommt mir vor wie gestern, als ich mit ansehen musste, wie geflüchtete Schattenwesen vor unserer Festung um Unterschlupf baten, wie sie von den Gräueltaten erzählten, die ihnen und ihren Familien zugestoßen waren. Ich sehe immer noch die Male, die auf ihren Körpern hinterlassen wurden und sie für immer zeichnen würden."
Ihre roten Rubine schienen noch ein letztes Mal rot aufzuleuchten, bevor sie sich so stark verdunkelten, dass ich das Gefühl hatte, in zwei schwarze, diffuse Seen zu blicken.
"Es kommt mir vor wie gestern, als unsere Burg von einer Horde aufmüpfiger Formwandler gestürmt und mein Clan vor meinen Augen in den endgültigen Tod getrieben wurde." Sie machte eine kurze Pause, in der sie in grauenhaften Erinnerungen zu schwelgen schien. Nach einem kurzen Moment schien sie sich aber wieder gefangen zu haben, denn die Baronesse schüttelte einmal kräftig den Kopf, sodass einige ihrer Haare in mein Gesicht flogen, und fixierte schließlich mit einer neuen Feindseligkeit mein Gesicht.
"Also frag nicht, wieso das alles! Die Tatsache, dass niemand von der neuen Generation auch nur ansatzweise von unserem Schicksal Bescheid weiß, zeigt doch weiterhin die Mentalität von euch ach so tollen Formwandlern. Es ist Zeit, dies ein für alle Mal zu ändern. Und was könnte da besser helfen, als eine Reform des bestehenden Herrschaftssystems?"
Die Schatten um ihre Augen wurden noch eine Spur dunkler und die ohnehin schon viel zu weiße Haut noch weißer, während dieses beängstigende, verrückte Funkeln in ihren Blick zurückkehrte.
"Und wo lässt es sich besser beginnen als an der Akademie, wo sich gleich die drei mächtigsten Anführer Europas auf einem Fleck versammeln? Zwar nicht so mächtig wie ich, denn wer ist das schon von Natur aus? Aber deine Fähigkeiten können sich sehen lassen. Keine Sorge," Sie tätschelte höhnisch meine Wange. "du wirst auf jeden Fall zu meinem zweiten Offizier ernannt werden. Den ersten Platz habe ich nämlich schon für diesen goldgelockten Schönling reserviert. Er wird mir besonders gute Dienste leisten, da er alles tun würde, um seine geisteskranke Mutter vor dem Tod zu bewahren."
Ich wollte ihr am liebsten entgegenschleudern, dass die einzige Geisteskranke hier ja wohl sie sei, doch ich hielt es nicht für schlau, jemanden herauszufordern, der mich mit einer einzigen Handbewegung von einem mehrere hundert Meter hohen Turm werfen konnte. Akaya schien die unbändige Wut in meinem Inneren von meinem Gesicht ablesen zu können, denn plötzlich beugte sie sich mit einem arroganten Lächeln vor, das erneut ihre scharfen Zähne entblößte.
"Was ist, Sarina? Schließ dich mir an.", säuselte sie in einem verlockenden Ton, doch meine Aufmerksamkeit galt nicht mehr vollends nur ihr. Mir war etwas aufgefallen.
Die Geräusche auf dem Schlachtfeld ebbten immer weiter ab und mittlerweile wurde mir klar, dass es an etwas Anderem lag, als an meinem Sauerstoffmangel.
"Es wäre solch eine Verschwendung, wenn ich dich töten müsste. Ich sehe, dass du die Fehler deiner erbärmlichen Formwandler-Vorfahren erkennst und bin so gnädig, dir eine zweite Chance zu geben. Zusammen könnten wir Großes erreichen! Eine neue Ära mit neuen Regeln und neuen Chancen."
Suchend glitten meine Augen über die graue Blase am Himmel über uns, deren Löcher sich während unserer Unterhaltung wieder angefangen hatten zu schließen. Aber nach nur wenigen Sekunden sah ich es: ein leichtes, purpurnes Leuchten. Es war nicht stark und die grauen letzten Stunden der Nacht hatten immer noch die Oberhand, aber es war doch ein Zeichen. Mit einem Mal fühlte sich mein Herz leichter an. Ohne es zu wollen, verzogen sich meine Mundwinkel zu einem erstaunten Lächeln, als ich weiterhin über Akayas Kopf hinwegstarrte. Hinein in die zarte Farbe eines frisch anbrechenden Tages.
"Was- Was guckst du denn so blöd?", keifte sie und sofort konzentrierte ich mich wieder auf ihr viel zu nahes Gesicht mit ihren viel zu scharfen Zähnen. Meine linke Hand hatte sich unterdessen um das Glasfläschchen gelegt, das bis jetzt glücklicherweise in meiner Hosentasche geblieben war.
"Akaya", sagte ich und die Angesprochene zog erwartungsvoll die Augenbrauen nach oben.
"Noch einmal: Ich bin kein Formwandler. Der politisch korrekte Terminus lautet Gestaltwandler."
Ich seufzte und senkte leicht den Blick. Ganz so, als sei ich enttäuscht, dass sie gar nichts aus unserer vorigen Unterhaltung mitgenommen hatte.
"Außerdem scheinst du ebenso wenig aus deiner Vergangenheit gelernt zu haben, wie du es von uns behauptest. Das was du tust, ist genauso schlimm wie das, was du angeblich so verzweifelt zu bekämpfen versuchst."
'Loslassen!'
Verblüfft sah sich die Vampirin selbst dabei zu, wie ihre Hände von allein und ohne ihr Zutun von meinem Hals flogen. Blitzschnell, um nicht eine Millisekunde dieses Überraschungsmoments zu verschwenden, fuhr meine Hand aus der Hosentasche und stieß gegen das unnachgiebige Mauerwerk hinter mir. Ein hässliches Knirschen ertönte, als der gebrechliche Flaschenhals barst. Glassplitter schnitten in meine Finger und Handinnenfläche und ich hätte schwören können zwei meiner Fingerknochen knirschen zu hören, doch der Schmerz blieb vorerst aus.
Ich war ganz und gar darauf konzentriert, mich nun so schnell ich konnte mit meinem ganzen Körpergewicht auf die nur um wenige Zentimeter größere Vampirin zu werfen. Sie war so überrascht, dass wir beide durch meinen Angriff nach hinten kippten und wieder wie vor einigen Minuten auf dem Boden landeten. Dieses Mal war jedoch ich diejenige, die auf ihren Hals zielte.
Ohne groß weiter darüber nachzudenken, rammte ich der boshaften Frau den abgebrochenen Flaschenhals in die Halsschlagader. Die violette Flüssigkeit sickerte in einer überragenden Geschwindigkeit in die durch das Glas entstandene Fleischwunde und vermischte sich dort mit einem schleimigen, schwarzen Sekret. Ich hatte nicht gewusst, ob Vampire bluten konnten, aber das, was ich dort sah, kam der Bezeichnung wohl am nächsten.
Akayas gellender Schrei klingelte in meinen Ohren und brachte die Schattenblase am Himmel zum Flackern und Grollen. Ohrenbetäubender als das stärkste Gewitter, dröhnte, krachte und wetterte es nun um mich herum, sodass ich merkte, wie mein rechtes Trommelfell platzte.
"Wie kannst du es wagen?!", schrie mich die Frau unter mir an und der energische Tonfall ließ mein Herz in die Hose sacken. Eigentlich sollte sie gar nicht mehr sprechen können. Das Serum hätte sie innerhalb einer Sekunde töten müssen. Ehe ich mich versah, hatte sie mich mit ihrer bestialischen, unsterblichen Kraft von sich gestoßen und ich flog zurück auf die Seite des Turms, wo wir hergekommen waren. Mit einem gemeinen Knacken prallte ich von der Mauer ab und landete auf der Seite. Mein rechter Rippenbogen tat scheußlich weh.
Stöhnend gelang es mir gerade noch so, den Kopf zu heben.
"Lächerlich! So etwas Erbärmliches ist mir in meinen vierhundertsechsundzwanzig Jahren ja noch nie untergekommen!", schimpfte Akaya, bis jedoch ein amüsiertes Grinsen über ihre strenge Miene huschte. Erst dachte ich, ich würde mal wieder halluzinieren, aber dann brach ein vergnügtes Glucksen zwischen ihren Lippen hervor.
Mein ganzer Körper schmerzte.
Und während sich die untote Baronesse lachend das Fläschchen aus dem Hals zog, brach der Tag an, als wolle er uns alle verspotten.
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Hey ho und guten Abend,
wie versprochen hier bin ich wieder ;)
Ich sage euch, diese letzten zwei Kapitel waren eine echt schwere Geburt. Erst einmal herauszufinden, wie man ein Kampfgeschehen schildert oder eine Kampfszene beschreibt, ohne es langeweilig zu machen, ist echt schwer. Jetzt ist es an euch zu bewerten, ob es mir gelungen ist xD
Aber das Allerschwerste war wirklich der Anfang. Ich habe oft einfach nur dagesessen, etwas geschrieben und zum Schluss über 700 Wörter gelöscht, weil es einfach nicht gepasst hat . . . Und dann hab ich wieder beim Ausgangspunkt angefangen
Aber es ist doch ein schönes Gefühl, endlich ein Kapitel fertig zu schreiben, auf das man jahrelang hingefiebert hat ^^ Ich bin schon ein bisschen stolz :)
SO:
Was sagt ihr denn erst einmal zu der Auseinandersetzung zwischen Sarina und Akaya? Anscheinend scheinen ja beide ihre Gründe hinter ihren Taten zu haben . . .
Ansonsten hoffen wir mal, dass es Seth bald wieder besser geht, nicht wahr?
Und auch, dass Sarina irgendwie wieder aus dieser misslichen Lage herauskommt . . . Gibt es diesbezüglich schon Theorien oder Ideen von euch? Darauf wäre ich ja mal gespannt ^^
Aber jetzt erstmal: wie immer sind konstruktive Kritik, Meinungen, Wünsche und Verbesserungsvorschläge etc. immer willkommen!
Habt noch einen schönen Abend/ schöne Nacht und ich wünsche euch einen guten Start in die Woche!
LG,
Eure Cherry <3
PS: Ungefähre Wortanzahl (falls es jemanden interessiert): 6000 plus/ minus 50 Wörter . . . Word und Wattpad sind sich da immer ein bisschen uneins xD
PPS: Wenn jemand einen Serientipp braucht: Heartstopper auf Netflix ist im Moment mein Ein und Alles! Falls euch langweilig ist, könnt ihr ja mal reinschauen ;)
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