10.
Das graue, Eckige Gebäude ragt dunkel vor mir auf. Nur in wenigen Zimmern brennt noch Licht. Von irgendwo auf der anderen Seite dröhnen die Sirenen zu mir herüber. In diesem Haus faulen Tod und Krankheit. Aber es sind nicht diese Dinge, die ich suche. Ich suche das Leben.
Niemand weiß, dass ich hier bin. Ich bin aus dem Fenster geklettert und hergelaufen. Es War nicht einfach. Nichts ist mehr einfach, seit mein Bein vor einigen Jahren bei einem Sturz zertrümmert wurde. Vorsichtig erklimme ich die Fassade.
Ich kann nicht erklären, warum ich es tue. Aber ich bin aufgewacht und habe gespürt, dass ich hier her muss. Es gibt etwas für mich zu tun hier. Es ist an der Zeit. Dass Fenster links neben mir ist geöffnet. Stimmen dringen heraus. Die Stimme einer Frau. Erschöpft, aber erleichtert und glücklich. Die andere schneidet mir ins Herz. Sie hat sich verändert, in den Jahrzehnten die vergangen sind, sie ist blass geworden. Die Stimme lacht, aber sie erinnert mich an die, die aus unserem Volk stammen und irgendwann aufhören zu leben. An die, die nur noch tanzen und an sonsten mit leeren Blick an die Wände sehen. Sie essen noch, sie schlafen noch, aber das Leben haben sie verlernt. Dass ist das Bild, dass sich in meinem Kopf bildet. Ich suche mir ein anderes Fenster und klettere hinein. Meine Lunge rebelliert, aber ich habe keine Zeit für sie. Was ich jetzt tue, ist wichtig.
Der Flur, durch den ich streiche, ist hell erleuchtet, aber ich werde nicht bemerkt. Ich bin ein Schatten. Schatten werden gerne übersehen. Ich drücke die Glastür auf, und das Leben schlägt mir entgegen. Junges, namenlosen Leben. Leise fällt die Tür ins schloss. Ein Kind neben mir regt sich im Schlaf. Aber es ist nicht das Kind, nachdem ich suche. Ich gehe die Reihen entlang. Meine Schritte Hallen wieder. Die, die hier liegen, wissen noch nicht, wer sie einmal werden sollen. Es hat ihnen noch keiner gesagt. Sie gehören wahrhaftig niemandem. Niemand hat sie für sich beansprucht. Ich bleibe stehen. Ich habe gefunden, was ich gesucht habe. So vieles in dem Gesicht des kleinen Jungen erinnert mich an ihn. Es ist das Kind, dass er aufziehen wird. Aber es hat keinen Namen. Das spüre ich.
Ich ziehe die Kapuze tiefer ins Gesicht und beuge mich über sein Bettchen, bis auch sein Gesicht unter dem Stoff verborgen ist. Meine Finger suchen sein puckerndes, kleines Herz. "Valos", wispere ich, "du sollst Valos heißen." Seine kleine Faust umschließt meinen Zeigefinger, als ich mich wieder erhebe, uns ein erhabenen Gefühl steigt in mir auf. Jetzt ist er mein Sohn, meiner alleine! Ich kann ihn aber nicht mitnehmen. Sanft küsse ich ihn auf die Stirn und mache meinen Finger los. An der Tür schaue ich noch einmal zurück. Es ist eine Sünde, sein Kind zurück zu lassen. Aber ich weiß, daß Roberto gut für ihn sorgen wird. Roberto ist ein guter Mensch. Ich gehe den selben Weg zurück, aber im Schatten eines Kaffeeautomatens bleibe ich stehen. Ich bin noch nicht fertig. Die Uhr an der Wand tickt.
Endlich, Schritte. Schritte kommen den Gang herauf. Roberto geht zum Kaffeeautomaten. Er gähnt und kramt in seiner Tasche nach Geld. Er ist müde, genau wie damals, als wir getrennt wurden. Wie an dem Tag, an dem meine Welt zusammenbrach. Es hat viel Arbeit gekostet sie wieder aufzubauen. Die Geldstücke fallen ihm aus der Hand. Leise fluchend bückt er sich im sie aufzusammeln. Eines ist mir direkt vor die Füße gerollt. Ich hebe es auf und trete aus der Dunkelheit.
"Hallo". Er hält inne. Langsam hebt er den Kopf. All diese Gefühle, die wie eine Explosion aus seinen Augen schießen. Es ist seltsam, dass so viele Gefühle in einem Kopf Platz haben. Überraschung, Schreck, Schuld. Und Liebe. Er steht auf, wie ein Schlafwandler. Ich warte. Als er steht, lege ich das Geldstück in seine geöffnete Hand. "Sein Name ist Valos", sage ich. Er antwortet nicht. Er ist wie stumm. Ich sehe in seine Augen. Meine Sonne. Wie lange ist es her. Ich werde kein Wort über die Frau verlieren, die drüben im Krankenzimmer liegt. Worte sind Kostbar. Ich habe genug gesprochen.
Ich hauchen ihm einen Kuss auf die Wange, den Kuss eines Schattens, kaum zu spüren. Dann verschwinde ich.
Diese Welt hat uns auseinandergerissen. Damals, als es geschah, riss auch meine Seele. Doch sie heilte wieder, und ich Begriff, dass meine Trauer nicht nötig war. Roberto und ich haben einander unsere Namen genannt. Wir gehören für immer zusammen. Man kann uns nicht trennen, und eines Tages wird Gott uns wieder zueinander führen. Bis dahin trage ich seinen Namen in meinem Herzen, dort, wo schon der Name meiner Mutter ruht und der einer guten Freundin. Bis dahin wird er auf meinen Sohn aufpassen. Ich habe meinen Frieden.
Ende
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro