VI
Nach der Show werden die Milane und Falken vor dem Falkenhaus gefüttert und Besucher haben die Gelegenheit Fragen zu stellen. Doch viele laufen bereits weiter zur Wolfsfütterung, die danach noch stattfindet. Das ist Blondies Lieblingszeit für mein Einzeltraining. Den Wüstenbussard, dessen Zuhause eigentlich meine Nachbarvoliere ist, bringt Blondie mit hoch, wenn sie auf dem Weg zu mir ist.
Ungeduldig warte ich bis sie meine Nachbarin nach Hause gebracht hat und meine Tür öffnet. Anders als heute morgen, habe ich nun Energie und bin bereit für diese Art der Arbeit. Zur Begrüßung lahne ich sie vorfreudig an und steige ihr sofort auf den Handschuh, als sie ihn mir hin hält. Ich muss keinen Fuß auf ihre Faust stellen, um zu merken, dass sie deutlich gestresster ist als noch vor knapp zwei Stunden. Mehr als verdient hat sie ihre Pause jedenfalls schon, auf die sie hin fiebert. Davor steht nur noch mein Training an.
Wie vorhin verlassen wir den Raum gemeinsam, doch diesmal gehen wir aus dem Adlerhaus raus. Jetzt ist es gut, dass sie mich noch am Geschüh festhält, sonst würde ich unmittelbar nachdem wir draußen sind starten. Bei schlechtem Wind hätte ich womöglich nach rechts gedrückt werden können. Hinter der rechten Mauer beginnt der Bereich der Wölfe. Ein Abgang in diese Richtung kann auch schonmal böse enden.
Erst ein Stück dahinter lockert sie ihren Griff. Ohne zu zögern bereite ich meine Schwingen aus und stoße mich in dem Moment von dem Leder ab, in dem sie ihre Hand mit Schwung Richtung Himmel schiebt. Im ersten Moment packt mich der Wind und drängt mich tatsächlich von meiner gewollten Flugbahn ab. Mit ein paar Flügelschlägen korrigiere ich das und steure dann die Flugwiese an, über die meine Schwester vor ein paar Minuten noch kreiste. Dort steht schon die junge Kollegin aus dem Falkenhaus bereit.
Kaum bin ich in Sichtweite, beginnt sie ihre Hand zu drehen. Auch ohne das ich das winzige Kückenbeinchen sehe weiß ich, dass diese Handbewegung nur eines heißen kann: Fleisch. Meinen Appetit noch etwas zügelnd drehe ich erst eine erhöhte Runde, bevor ich etwas runter komme und sie anvisiere. Der erste Wurf ist noch immer von einer leichten Unsicherheit geprägt, obwohl sie dieses Training schon ein gutes halbes Jahr macht. Anfangs hatte sie sich mit dem Werfen wohl so schwer getan, dass ihre Kollegen sie amüsiert damit aufzogen. Auch wenn es von ihnen keineswegs böse gemeint war, hatte es die junge Frau beeinflusst.
Wurf Nummer zwei ist schon viel sicherer und das spüre ich auch beim Fangen, wie ich leichter nach dem kleinen Stück Fleisch packen kann und keine großen Abweichungen in meinen Flug einbauen muss. Die Unsicherheit weicht Wurf zu Wurf mehr. Zurück bleibt nur die Konzentration und Routine. Beim fünften Wurf zuckelt Blondie gerade den Weg aus der Burg hinunter, den Lederhandschuh dabei lässig unter den Arm geklemmt.
Am kniehohen Zaun, um die Flugwiese herum, bleibt sie stehen und beobachtet mal die junge Kollegin, mal mich. Nicht nur mit der deutlich höheren Trefferquote ihrer Kollegin ist sie zufrieden, sondern auch mit meiner Flugeigenschaft, die ich Runde für Runde präsentiere.
Frieden und Zufriedenheit kehren in mein Herz. Ich kenne nichts vergleichbareres, dass so leicht, so frei und gleichzeitig so schwer und anstrengend sein kann wie fliegen. Manchmal kann ich gar nicht verstehen, wie Wesen, die diese Eigenschaft nicht haben, überhaupt das Leben genießen können. Aber dann komme ich wieder zur Vernunft und erinnere mich an den eigentlichen Sinn des Lebens: Unsere Seele weiter entwickeln und anderen bei ihrer Entfaltung helfen. Und dafür braucht man selten Flügel die einen tragen, viel mehr sind es unsere Gefühle und Gedanken, die uns voran bringen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro