
7 - Wechselwind
„Anna. Hallo", sagte ihr Vater und sie spürte, wie die Hand in ihrer noch ein bisschen feuchter wurde und zudem ein wenig mehr zitterte.
‚Er ist total aufgeregt. Wie süß. Weil er meinen Papa kennenlernt', dachte sie automatisch und begrüßte ihren Vater und dessen Frau Hanna.
„Das ist mein Freund Florian, Papa", stellte sie ihren sichtlich nervösen Liebsten vor und ihr Vater nickte und ergriff dessen Hand.
„Ich bin Paul. Das ist meine Frau Hanna. Freut mich", sagte dieser distanziert und sie verdrehte innerlich die Augen.
Manchmal wünschte sie sich, ihr Vater wäre so locker wie ihre Oma. Doch er war einfach ihr Papa. Er war umgänglich, aber sie hatte ihm noch nie einen Jungen vorgestellt, mit dem sie eine Beziehung hatte. Vielleicht war das ja wirklich so, dass die Erkenntnis marterte, dass die Tochter einen Freund hatte?
„Dann wollen wir mal, oder?", fragte Hanna und sie sah die attraktive Frau an, die nun schon lange an der Seite ihres Vaters war.
Hanna hatte braune Augen, hellblond gefärbtes Haar und eine gute Figur. Wenn sie sprach, hörte man den sächsischen Spracheinschlag. Sie nickte und merkte, dass Flo weiterhin nervös war. Sie griff nach seiner Hand und folgte ihrem Papa, seiner Frau und ihrer Oma in die Wirtschaft, in der sie meistens aßen, falls sie hier war. Da gab es gute bayrische Küche inmitten der Altstadt von Landshut nahe der gotischen Martinskirche.
Sie bekam immer noch Herzklopfen, wenn sie hier war. Schon wenn sie auf die Stadtgrenze zufuhr, machte ihr Herz einen Hüpfer. Immerhin hatte sie die ersten knapp 13 Jahre hier gelebt. In vielen Stadtteilen, denn sie waren in ihrer Kindheit ebenso oft umgezogen. Aber trotzdem. Hier war ihre Heimat. Irgendwie. Auch wenn sie keine Freunde hier hatte. Nur ihre Familie. Also, einen Teil davon.
„Jetzt erzähl, Anna. Wie geht es dir?", fragte ihr Vater und riss sie damit aus ihren Gedanken.
„Gut. Abi bestanden. Bald Ausbildung und neue Stadt", erklärte sie und ihr Papa nickte.
„Hat mich überrascht, dass du dir eine Stelle in Stuttgart gesucht hast. Du hättest hier auch eine Lehre machen können", erwiderte ihr Vater und sie schluckte.
Dann zuckte sie mit den Schultern und stellte fest: „Ja, aber ich kenne hier niemanden, außer euch und die Hochschule die Flo besuchen wird, ist in Stuttgart."
Sie bemerkte, wie ihr Vater Florian musterte, der sichtlich schluckte und ihr Pa erklärte: „Wir haben hier in Landshut auch eine Hochschule."
„Ja, aber die bietet das Studienfach nicht an, das Flo belegt, Papa. Stuttgart schon. Also gehen wir dorthin", entschied sie und hoffte, dass ihr warnender Unterton ihrem Vater zeigte, dass er es jetzt gutsein lassen sollte.
„Ist ja eine schöne Stadt, Anna. Da bin ich damals gelandet, als ich aus dem Osten getürmt bin", erklärte ihre Oma und entspannte die Situation damit, dass sie Florians unausgesprochene Frage beantwortete.
Sie bemerkte den Blick ihres Vaters, den er ihr zuwarf. Als ob er sie einschätzen müsse. Die Verhältnisse bewerten. Flo beurteilen. Das war unangenehm. Zum Glück kam der Kellner und sie vertieften die Nasen in den Speisekarten. Sie hatte Hunger. Aber sie wollte nicht auffallen. Also: Sollte sie sich das Schwaben-Pfännchen einverleiben, auf das sie richtig Bock hatte, oder lieber einen Salat mit Hähnchenstreifen nehmen?
Bissige Kommentare konnte sie von diesem Teil der Familie ausschließen, das sprach für das Schweinemedaillon in Champignonrahm mit Käsespätzle, aber die Leute drumherum waren vielleicht anderer Meinung? Wieso zum Teufel kümmerte sie sich weiterhin darum, was andere von ihr hielten?
„Ich nehm das Schwaben-Pfännchen, bitte", sagte Flo und sie verkniff sich ihr Grinsen.
‚Was Essen anbelangt haben wir den gleichen Geschmack', dachte sie automatisch und bestellte dasselbe, während ihr Vater wie immer eine halbe Ente orderte und seine Frau den Weißwurstsalat.
Ihre Oma entschied sich für einen Sauerbraten und sie hörte, wie Hanna fragte: „Du wirst also studieren, Florian? Zu welchem Studiengang hast du dich denn entschlossen?"
„Ich bin ab Herbst im Fach Illustration immatrikuliert. Na ja, ich möchte Illustrator werden. Ich hab immer schon gerne gezeichnet und gemalt und mir vorgestellt, wie es wäre, damit sein Geld verdienen zu können. Ich hab eine Zeitlang keinen Stift in die Hand genommen, aber durch Anna hab ich wieder angefangen. Na ja, das erdet mich. Beim Fußball power ich mich aus und Zeichnen bringt mich runter. Doch der Markt ist hart umkämpft, wie bei allen künstlerischen Berufen. Man hat aber den Vorteil, als freiberuflicher Illustrator arbeiten zu können, als auch im Angestelltenverhältnis. Man kann zweigleisig fahren und setze ich mich hin und zeichne, vergesse ich die Zeit. Wie heißt es so schön? Wenn man arbeitet, was man liebt, ist es keine. Als zweites Standbein hab ich mich aber zudem bei Grafikdesign eingeschrieben. Das hat zwar weniger mit Stift und Pinsel zu tun, doch das wäre auch ok", erklärte ihr Liebster und sie bemerkte, dass dieser nervös zu ihrem Vater schaute.
Ihr Papa taxierte Florian und sie wollte ihn packen und ihm sagen, dass er das lassen sollte. Ihr Freund wollte ihn so unbedingt überzeugen, dass er eine gute Partie für sie war, doch ihr Vater musterte ihn so!
„Du spielst also Fußball? Ich hätte nie gedacht, dass unsere Anna an einen Sportler gerät", sagte ihr Pa und sie seufzte innerlich.
„Ja, weißt du, Papa, eigentlich hatte ich mir auch eher einen Gitarristen vorgestellt, der jede Nacht eine andere flachlegt und durch die Welt tingelt. Stattdessen bin ich bei jemandem gelandet, der mit Bällen spielt. Zum Glück für dich, denn das heißt wohl, dass ich nur nach Stuttgart gehe und nicht durch die Welt reise. Und zum Glück für mich, weil Flo nicht jede Nacht eine andere flachlegt. Oder wolltest du damit ausdrücken, dass jemand mit meiner Figur einen sportlichen Jungen findet, wäre eher unwahrscheinlich?", fragte sie, ehe sie es verhindern konnte und sah, wie ihr Vater sie fassungslos ansah.
***
‚Oh, ok. Anna hat die Nase voll von der Distanziertheit, mit der er mich behandelt. Dabei finde ich das nicht so schlimm. Er hat mich ja nicht ausgelacht oder so. Er will nur sichergehen, dass es seiner Tochter gutgeht', dachte er und merkte, wie Paul nach einer geeigneten Erwiderung suchte.
„Um ehrlich zu sein, hab ich selbst nicht geglaubt, dass jemand wie Flo sich etwas aus mir machen könnte, da ich ja nicht viel mehr zu bieten hab, als mich samt Übergröße. Aber er hat nicht lockergelassen, meine Figur hat ihn nie gestört. Er ist einer der wenigen Menschen, der nicht so hohl ist. DAS sollte interessieren, Papa. Nicht, was er gedenkt beruflich zu machen, dass er offenbar deine Tochter in eine fremde Stadt ‚entführt' und - wie es der Zufall will - auch noch Mannschaftskapitän des hiesigen Fußballvereins war", stellte Anna fest.
Er sah, wie Paul schluckte. Aber seine Freundin bemerkte das nicht, denn sie war zu sehr in Fahrt. Das war echt eine blöde Situation.
„Was den Umzug nach Stuttgart angeht: Ich bin 18. Bald 19. Soweit ich mich erinnere, warst du süße 22, als ihr mich bekommen habt. Damit können wir das Thema Jugend und nicht wissen, was man tut, vielleicht auch gleich beilegen, falls das ebenfalls ein Argument von dir ist, mir zu sagen, dass ich einen Fehler mache. Oder Florian einen macht, der übrigens ein bisschen älter ist als ich. Der ist schon 20. Ich geh kurz für kleine Mädchen...", entschied seine Freundin und er schluckte nochmal hektisch, als Anna sich erhob und verschwand.
Er registrierte, wie die hellblauen Augen ihres Vaters zu ihm huschten, und er bemerkte aufs Neue, dass seine Tochter Paul vom Äußeren glich. Nur, dass er schlank war. Und offenbar vor den Kopf gestoßen. Da hatte Anna echt ins Schwarze getroffen.
„Entschuldigung. So war das natürlich nicht gemeint. Es ist nicht so einfach, zu sehen, dass die Tochter erwachsen wird und ihre eigenen Wege geht. Vor allem, wenn sie kaum etwas erzählt und man vor vollendete Tatsachen gestellt wird", erklärte Paul und er nickte.
„Schon ok. Ich weiß ja, dass sie nicht gerade offen mit ihren Gedanken und Gefühlen umgeht. Ist bestimmt schwer, wenn man nur am Spielfeldrand zusehen darf, statt am Spiel teilzunehmen", erwiderte er und Annas Papa stimmte zu.
„Aber es ist schön, dass sie jemanden gefunden hat, bei dem es ihr offenbar gelingt, sich zu öffnen. Ich hab sie wohl verärgert...", stellte Paul fest und er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„So ist unsere Anna eben", sagte seine Frau und Hertha erklärte, das Temperament habe sie von ihr.
Da musste er grinsen. Er konnte einfach nicht anders. Vor allem, als er sah, dass sich Annas Papa verkniff, mit den Augen zu rollen. Plötzlich bemerkte er, wie die Nervosität von ihm abfiel. Sie waren schließlich ganz normale Menschen. Paul war schlicht ein Vater, der wissen wollte, ob seine Tochter in guten Händen war und sich Gedanken um sie machte. Das alleine machte ihn sympathisch. Er hatte damals das gleiche Verhör bei ihrer Mutter erwartet, doch Julia hatte ihm nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ob das daran lag, dass sie Annas Wahl nicht infrage stellte, oder kein Interesse bestand, wusste er nicht. Aber so war es eben gewesen.
Als seine Freundin wieder neben ihm Platz nahm, roch er, dass sie eine Zigarette gequarzt hatte, und musterte ihr Gesicht. Sie trug ihr übliches Pokerface. Er griff nach ihrer Hand und ihr Blick flog zu ihm.
„Anna, du weißt, dass wir dich liebhaben, wie du bist, oder?", fragte ihr Vater und nun schwirrten ihre Augen zu ihrem Pa.
„Hm. Könnt ihr jetzt Flo bitte in Ruhe lassen und euch freuen, dass wir da sind? War nämlich seine Idee, hierher zu kommen und euch zu besuchen. Stuttgart ist übrigens nur zweieinhalb Stunden weg. Das kann man fahren, falls man Sehnsucht hat. Hab ich gerade gegoogelt", stellte Anna fest und ihre Stiefmutter nickte.
„Einverstanden. Dann erzählt mal: Habt ihr schon eine Wohnung gefunden?", fragte Hanna und jetzt bemerkte er, wie ein leichtes Lächeln an Annas Mundwinkeln zog und ihre Augen leuchteten, als sie von ihrer künftigen Unterkunft berichtete.
Auch er musste an die helle Zwei-Zimmer-Wohnung mit Balkon im ersten Stock denken, die sie dort bewohnen würden. Sie hatte knapp 60 Quadratmeter und bald würden sie dorthin fahren und die restlichen Möbel kaufen, die Räume streichen und einrichten. Die Miete konnten sie sich gerade so leisten. Doch sie würden das hinbekommen. Zur Not suchte er sich einen Nebenjob. Mal sehen. Er freute sich jedenfalls darauf. Wie seine Freundin anscheinend.
Denn Anna sprühte jetzt Funken. Das war unüblich für sie, aber schön zu beobachten. Auch Paul und den anderen schien das aufzufallen, deren Augen strahlten nun ebenfalls. Seine Liebste war hier entspannter, fiel ihm auf. Wenn sie bei ihr zuhause gewesen waren, hatte sie immer angespannt gewirkt. Was natürlich an der Situation mit Hartmut gelegen hatte, das war ihm klar.
„Und wie geht es Alina?", erkundigte Paul sich und er dachte sofort, dass diese Frage ein weiteres ungeahntes Fettnäpfchen war.
Er beobachtete, wie Annas Gabel in der Luft hängenblieb, ehe diese sich fing, mit den Schultern zuckte und meinte: „Keine Ahnung. Da musst du sie anrufen."
„Wieso weißt du nicht, wie es deiner Schwester geht?", fragte Hanna irritiert und er sah auf die Tischplatte.
„Weil ich schon seit ein paar Monaten nichts mehr von ihr gehört habe. Ich wohne nicht weiter bei Mama und Hartmut", stellte seine Liebste fest und als Paul geräuschvoll Luft holte, fügte diese an: „Ich lebe bei Flo und seiner Mutter Gretel. War Mamas Idee, nachdem ihr Mann beschlossen hat, dass ich in deren künftigem Haus keinen Platz mehr habe."
Er spürte, wie die Luft schlagartig dicker wurde, während Anna erklärte: „Kein Drama, da wir spätestens in Stuttgart sowieso zusammengezogen wären und ich ohnehin öfter bei ihm war als zuhause. Aber ich denke, es geht Alina gut, um deine Frage zu beantworten. Falls es nicht so wäre, hätte ich davon erfahren. Wie immer. Wenn was schiefläuft, ruft man Anna an. Ansonsten ist sie unwichtig. Egal. Kann man nicht ändern."
‚So empfindet sie das?', dachte er stirnrunzelnd und hörte, wie Annas Vater erwiderte: „Aha. Ach so. Das wusste ich nicht."
„Ja. Jetzt weißt du es", stellte Anna fest und er merkte, dass seine Freundin tat, als wäre alles in Ordnung und sie dabei nicht das geringste Unbehagen fühlte.
‚So hat sie es anscheinend immer gemacht', dachte er und schwieg, während Paul seine Tochter musterte, die erklärte: „Ist besser so. So konnten Flo und ich schon mal im vorneherein klären, ob wir auch zusammenpassen, wenn wir uns praktisch jeden Tag 24 Stunden lang sehen. Klappt ganz gut. Deswegen wird es in Stuttgart genauso klappen."
„Hm", machte Paul und jetzt wusste er, woher seine Freundin diese Art zu antworten hatte.
Offenbar merkten die restlichen Anwesenden, dass für Anna damit das Thema erledigt war, denn den Rest des Essens plauderten sie über andere Dinge, während er sich fragte, ob das normal war.
***
„Ich finde es nicht richtig, dass deine Oma auf dem Sofa übernachtet, damit ich bei dir schlafen kann...", riss Florian sie aus ihren Gedanken und sie sah ihn an.
Dann zuckte sie mit den Schultern und erwiderte: „Du wirst sie nicht umstimmen können. Sie ist da ziemlich stur."
Sie hörte, wie er seufzte, bevor er sie in seine Arme zog und durch ihr Haar strich. Er war irgendwie nachdenklich, seit sie vom Essen mit ihrem Vater zurückgekommen waren. Sie aber auch. Sie hatte deutlich gemerkt, dass ihr Papa gekränkt war. Weil sie ihm nicht mitgeteilt hatte, dass sie bei Flo wohnte. Doch er musste sie da schon verstehen.
Sie konnte ihn nicht anrufen und erklären, sie wohne jetzt bei einem Jungen, den er nicht mal kannte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie mit Florian zusammen war, das war einiges. Denn das hatte sie bei Anton nicht. Aber sie telefonierten auch nicht so regelmäßig, dass sie Gelegenheit gehabt hatte, ihrem Papa davon zu berichten. Außerdem hätte sie gar nicht gewusst, wie.
„Machst du das immer so, Arielle? Du erzählst irgendwas und dabei verharmlost du, was diese Tatsachen mit dir machen?", fragte er kaum vernehmlich und sie sah ihn stirnrunzelnd an.
„Wie meinst du das?", hakte sie nach und er zuckte mit den Schultern.
„Na ja, die Tatsache, dass weder deine Mutter noch Alina Kontakt zu dir haben, macht dich betroffen, oder? Aber vor deinem Pa hast du so getan, als wären der Rauswurf und der fehlende Umgang zu dem Rest deiner Familie völlig ok für dich...", stellte er fest und sie sah ihn lange an.
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