5 - Wetterbesserung
Sie wollte das Thema eigentlich abschließen, doch dann fragte sie: „War ich eine so beschissene Tochter? Ich meine, ich hab mir Mühe gegeben, oder? Gut, ich hätte mich bei Hartmut entschuldigen können, aber ich hatte die Augen nicht verdreht. Ich hatte es so satt, mich für Dinge zu entschuldigen, die ich nicht getan habe. Sie kann mich doch nicht dafür hassen, dass ich einmal für mich eingestanden habe, oder? War ich wirklich so eine beschissene Tochter, dass ich das verdiene?"
„Nein, Anna, das warst du nicht, ok? Hör auf, so einen Mist zu reden, damit machst du mich wütend. Du hast dir nichts vorzuwerfen, in Ordnung? Ich hätte mich auch nicht für etwas entschuldigt, das ich nicht ausgefressen hab, nur damit dieses machthungrige Arschloch mal wieder Recht bekommt. Ich hätte die Entschuldigung damals, als er dein Zimmer verwüstet hatte, schon nicht hervorwürgen können und du hast es getan. Wegen deiner Ma und Alina. Irgendwann muss es gut sein, Anna. Scheiße, wir sind jede Woche zu dir gefahren, nur damit du deine blöden Aufgaben im Haushalt erledigen konntest, obwohl du mehr bei mir warst als bei dir zuhause. Und da hast du dir dann anhören dürfen, dass du angeblich nichts richtigmachen kannst. Ich an deiner Stelle wäre schon längst auf die Barrikaden gegangen. Du hast dir nichts zuschulden kommen lassen", erwiderte er und sie merkte, wie sie fast wieder in Tränen ausbrach.
„Aber wieso behandeln sie mich dann, als wäre ich nie Mitglied dieser Familie gewesen? Ich meine, dass sie nicht zu meiner Abschlussfeier kommen, das hätte mich nicht überraschen dürfen. Weil sie sich nie die Zeit genommen haben, bei so einer Gelegenheit dabei zu sein. Das tut weh, ist jedoch ein Fakt. Dass sie aber nicht einmal nachfragen, wie es mir jetzt geht, das schmerzt noch mehr, ok? Ich fühle mich, als wäre ... Ach egal. Ich will mich nicht weiter aufregen. Nützt nichts. Komm, Ace. Lass uns eine Runde schwimmen...", entschied sie abrupt und er sah sie fassungslos an.
„Ich hab keine Badesachen eingepackt. Ich dachte nicht, dass du heute baden möchtest", gab er zu und sie musste automatisch grinsen, weil er sie verdattert ansah, als sie murmelte, wenn das so wäre, hätte sie wohl keine Wahl.
Sie löste sich aus seinen Armen und zog sich aus. So komplett. Aber da sie ohnehin auch Sex hatten, gab es da nichts zu sehen, was er nicht schon kannte. Doch dann merkte sie, wie sie ihr Mut verlassen wollte. Wenn jetzt jemand käme, würde der sie vollkommen nackt sehen. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, lief sie los und stürzte sich ins Wasser. Das hatte ohnehin schon die ganze Zeit seine magische Wirkung auf sie entfaltet.
***
Er sah ihr kopfschüttelnd nach und musste grinsen, als sie jauchzte. Er könnte schwören, wenn sie kein Mensch wäre, wäre sie sowas Krasses wie eine Meerjungfrau. Falls es die gäbe. Würde er ihr einen Kosenamen geben, wäre es Arielle. Nach der Meerjungfrau in dem Disney-Film. Aber Anna hatte genug Spitznamen. Die meisten davon waren nicht schmeichelhaft. Deswegen nannte er sie bei ihrem Namen.
Wobei sie ihn hier jedes Mal an Arielle erinnerte. Er würde das vermissen, erkannte er plötzlich. Wenn sie in Stuttgart waren, wäre diese Stelle hier Geschichte. Nur noch bei Besuchen konnten sie hierherkommen. Es würde ihm fehlen, sie derart gelöst zu sehen, wie sie nur im Wasser war. Es war definitiv ihr Element. Sie hatte ihm einmal gesagt, das wäre so, weil sie sich da schwerelos fühle. Als wäre sie eine Feder.
„Kommst du auch, oder muss ich allein die herrliche Abkühlung genießen?", rief sie ihm zu und sein Lächeln vertiefte sich.
„Ich wusste nicht, ob du Gesellschaft möchtest, oder ob ich den See mit dir allein lassen soll! Manchmal bin ich echt neidisch auf ihn!", scherzte er und hörte sie lachen.
Wie er ihr Lachen liebte. Sie machte es nicht allzu oft. Leider. Aber wenn sie lachte, dann aus vollem Herzen, bis sie nach Luft japste. Sofort beschleunigte sich sein Puls. Sie war alles, was er sich erhofft hatte. Mehr noch.
„Ich bin heute sozial, Ace, und teile meinen Freund mit dir, ok?", rief sie ihm giggelnd zu und er lächelte.
„Wie nett von dir! Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich euch einander vorgestellt hab!", entgegnete er und legte auch seine Shorts ab, ehe er in den See tauchte, um zu ihr zu schwimmen.
Als er kurz vor ihr auftauchte, grinste sie ihn selig an, ehe sie ihn küsste, und hauchte: „Dafür werde ich dir auf ewig dankbar sein, Ace. Für die Tatsache, dass du mir diesen magischen Ort gezeigt hast und mir beigebracht hast, dass ich es sogar wert bin, für mich einzustehen. Dass Überraschungen und Abenteuer nicht zwangsläufig mies sind. Dass Mut manchmal belohnt wird. Ich liebe dich, Ace. Noch mehr als Wasser. Und das muss was heißen, denn ich war schon von Gewässern verzaubert, seit ich denken kann. Da hab ich mich immer fast vollkommen gefühlt. Mit dir ist es ähnlich. Außerdem küsst du gut, das kann der See nicht."
„Hm. Ist dir klar, dass das ein beinah perfektes Kompliment war? Also bis auf die Tatsache, dass der See nicht küsst? Das hätte ich von dir als komplette Pragmatistin nicht erwartet. Du hältst doch nichts von Romantik...", zog er sie auf und sie zuckte mit ihren Schultern, bevor sie die Arme um seinen Nacken schlang.
„Hm. Vielleicht färbst du auf mich ab?", fragte sie und er lächelte.
„Ich bin kein Romantiker...", widersprach er sanft und sie schnaubte.
„Ace. Du hast Windlichter mitgebracht und sie hier am See angezündet, bevor du mit mir zu unserem Lied unter den Sternen an unserem magischen Ort getanzt hast. Mehr Romantik geht wohl nicht, oder? Du hast damit alle Klischees voll erfüllt: Kerzenlicht, Mondlicht, Sternenhimmel, Magie, Musik und Liebe. Aber das hat mir gefallen. Mir wird der Ort hier fehlen", erklärte sie wehmütig und er küsste sie sanft.
„Mir auch, Arielle", raunte er an ihren Lippen und merkte, wie sie kurz erstarrte, ehe sie die Beine ebenfalls um ihn schlang, weil er noch stehen konnte, da, wo sie sich befanden.
„Arielle?", hauchte sie und er sah in ihrem Blick, wie hingerissen sie war.
„Hm. Ja. Da Anna nun gelernt hat, dass sie Anna und es wert ist, für sich einzustehen, zumindest manchmal, dachte ich, es wäre vielleicht Zeit für einen Kosenamen", erklärte er, strich ihr über die Wange und sah, wie sie ihn anstrahlte.
‚Als hätte ich ihr das wertvollste Geschenk gemacht, das sie jemals bekommen hat', schoss es ihm durch den Kopf und unterdrückte sein fassungsloses Kopfschütteln, während sie wisperte: „Arielle. Ich wurde noch nie nach einer hübschen Disney-Prinzessin benannt. Ich glaube fast, ich hab noch nie so einen tollen Kosenamen gehabt. Wenn du nicht aufpasst, Ace, wirst du mich nie wieder los..."
„Hm, ich denke, das ist der Plan. Ich will dich nämlich für immer bei mir haben...", entschied er und spürte die Gänsehaut, die sie überlief, als er zärtlich ihren Hals küsste.
Er merkte, dass ihr ein bisschen der Atem gestockt war, als sie murmelte: „Das wäre ein Traum. Und die..."
„Sind dafür da, dass man sie sich erfüllt", schnitt er ihr das Wort sanft ab, da er wusste, dass sie hatte sagen wollen, dass die nichts für sie seien.
„So siehst du das?", fragte sie kaum hörbar, aber mit belegter Stimme und er keuchte automatisch, als sie nun seinen Hals liebkoste.
„Hm m", machte er, da sein Kopf nun rasend schnell leerer wurde und spürte, wie sie grinste.
„Soll ich dir verraten, wovon ich jetzt gerade träume?", hauchte sie in sein Ohr und er schluckte hart, weil er eine vage Ahnung hatte.
Er konnte ihr nur in die funkelnden Augen sehen und nicken. Dieses Mädchen war alles, was er sich erträumte, dachte er und trug sie an Land, um ihr den Wunsch zu erfüllen, den sie in sein Ohr geflüstert hatte.
*
Als sie sich später in seinem Arm schmiegte, streichelte er ihr durch die Locken und sann darüber nach, dass ihm dieser Platz wirklich fehlen würde. Hier hatten sie so viele schöne Stunden verbracht, dass er sie kaum zählen konnte. Aber sie würden auch in Stuttgart einen Platz finden, wo es ihnen ähnlich ging, dachte er und bemerkte plötzlich, dass er ein bisschen Angst hatte. Immerhin wagten sie einen kompletten Neustart. Weg von Familie und Freunden, von Orten, die sie wie ihre Westentasche kannten. Alles würde neu und ungewohnt werden und das war irgendwie ein wenig beängstigend. Auch wenn es genauso aufregend war.
„Woran denkst du, Ace?", nuschelte Anna gedämpft und er zuckte mit den Schultern.
„Dass Stuttgart wohl unser nächstes großes Abenteuer wird", gab er leise zu und wandte ihr sein Gesicht zu.
„Ja. Mit dir hab ich schon viele Abenteuer bestanden. Im Grunde sollte ich dich nicht Ace, sondern Indiana nennen", foppte sie ihn lächelnd und er musste grinsen.
Er registrierte, wie schläfrig sie war und murmelte: „Du wirst jetzt aber nicht einschlafen, oder? Wir können hier kaum übernachten..."
„Weiß ich. Nur noch fünf Minuten kuscheln, ok?", bat sie und er nickte, obwohl er bemerkte, dass ihre Augenlider schon so schwer waren, dass diese ihr immer wieder zufielen.
Er zog sie näher zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Nase, was sie wohlig seufzen ließ. Er liebte sie. Von ganzem Herzen. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er lieben konnte. Er wäre für sie zu Fuß in die Antarktis. Oder sonst wohin.
Nur, damit sie so lächelte, wie sie es gerade getan hatte. Er hatte auch nicht geahnt, dass es ihn nicht stören würde, jeden Tag jede Minute mit seiner Freundin zu verbringen. Bei seinen Ex-Freundinnen war er immer froh gewesen, wenn sie sich mal verkrümelt und ihn allein gelassen hatten. Doch bei Anna war das anders. Sie fehlte ihm bereits nach kürzester Zeit. Er hatte sich genauso wenig vorstellen können, mit einem Mädchen zusammenzuwohnen, aber mit ihr klappte das mühelos.
„Danke, Ace. Dass du mich zu verrückten Abenteuern entführst und mich immer wieder überrascht. Dass du mich so liebst, wie ich bin, obwohl ich so verkorkst bin und du mir gezeigt hast, dass ich Romantik vielleicht doch nicht so doof finde, wie ich dachte. Danke, dass du Magie in mein Leben bringst. Und Abenteuer. Und Freude. Mit dir hab ich das Gefühl, zum ersten Mal richtig zu leben", hauchte sie plötzlich und er merkte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte, ehe es zu rasen begann.
„Hey, ich glaub, das waren die schönsten Worte, die ich je gehört ab", murmelte er und sie nickte, ehe sie mit den Schultern zuckte.
„Gut", entschied sie und dann fielen ihr die Augen endgültig zu.
„Ja, das ist gut, Arielle. Nichts anderes hast du verdient", erwiderte er automatisch und betrachtete ihr im Schlaf friedliches Gesicht.
‚Das und noch viel mehr', schoss es ihm durch den Kopf und er seufzte.
Er sollte sie wecken, damit sie sich wieder anziehen und nach Hause fahren konnten. Aber er genoss das gerade viel zu sehr. Außerdem konnten fünf Minuten ja nicht schaden, oder? Er merkte, wie sie kaum wahrnehmbar fröstelte und streckte sich bedächtig nach der Tasche, in die er noch eine weitere Decke gepackt hatte. Damit sie auf einer sitzen und sich unter der Zweiten wärmen konnten, wenn sie auf den See hinaussahen und quatschten.
Na ja, es war anders gekommen, aber das machte nichts. Als es ihm gelungen war, sie aus der Tasche zu fischen, breitete er die Decke über ihnen aus und hörte, wie Anna nochmal wohlig seufzte. Er betrachtete sie weiter und dachte darüber nach, wieso die Leute nicht sehen konnten, was in dieser absolut sexy Hülle steckte. Er konnte nachvollziehen, dass nicht jeder auf Annas Rubensfigur stand und sie sexuell anziehend fand, aber das hieß nicht, dass sie als Mensch weniger wert war.
Wieso also behandelten die Leute sie so? Sie war so viel mehr als ihr Gewicht. Warum konnten nicht mal ihre Eltern zu ihr stehen? Das war für ihn genauso irritierend. Sie hatte ihrer Mutter doch jahrelang den Rücken freigehalten und sie hatte sich immer wieder schützend vor Alina gestellt, wenn Hartmut erneut seinen Machthunger ausgelebt und die beiden Schwestern drangsaliert hatte.
Sie hatte gekuscht, um ihrer Mutter das Leben nicht zusätzlich schwerer zu machen. Bis zu jenem Abend hatte sie immer wieder zurückgerudert und sich entschuldigt, obwohl sie keinen Fehler begangen hatte, nur, damit Julia nicht noch mehr Ärger mit ihrem Mann bekommen hatte. Und um diese davor zu bewahren, zwischen den Stühlen zu stehen. Doch an dem Abend war es Anna zu viel geworden. Da hatte sie sich geweigert, abermals die Schuld auf sich zu nehmen, für etwas, was sie nicht gemacht hatte.
Vor seinen Augen entstand die Szene, bei der klargeworden war, dass Anna nicht weiter zuhause geduldet wurde:
„Ja, du hast richtig gehört, Hartmut und ich bauen ein Haus und wir müssen wissen, ob du noch ein Zimmer dort haben willst", sagte Julia und er sah Anna an, dass sie ihre Mutter gerne fragen wollte, ob das ihr Ernst war.
Seine Freundin hob ihr Gesicht zu ihm und plötzlich polterte Hartmut: „Hat sich erledigt, verstanden? Wir bieten dir hier die Möglichkeit, weiterhin ein Heim zu haben, und du verdrehst die Augen! Sieh zu, dass du deine Sachen packst und verschwindest!"
Er erstarrte und beobachtete fassungslos, wie Julia ihre Tochter anfunkelte und meinte: „Das ist echt nicht ok, Anna."
„Ich hab die Augen nicht verdreht. Ich hab Flo angesehen...", rechtfertigte sich seine Freundin und Hartmut schnaubte.
„Nennst du mich auch noch einen Lügner? Sieh zu, dass du gehst! Du undankbares Gör! Du..."
„Ja, ja. Spar's dir. Bin schon weg", murmelte Anna und schob sich von der Eckbank, um die Küche zu verlassen, wo sie sich eingefunden hatten, nachdem Julia sie darum gebeten hatte.
Wie aus weiter Ferne hatte er wahrgenommen, dass Julia begann, auf Hartmut einzureden. Doch er hatte nur zu Anna gewollt. Er hatte nicht fassen können, dass sie wegen eines Missverständnisses, ihr Zuhause verlieren sollte.
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