47 - Wetterumschwung
‚Das Ganze ist nun schon wieder zwei Wochen her', dachte Anna, als sie sich an den Abend des Poetry Slams erinnerte und merkte, wie ein Lächeln an ihren Lippen zupfte.
In der Arbeit hatte sich nicht viel getan, da wurde sie weiterhin ignoriert. Aber sie war weniger erschlagen damit, weil sie weiter früher Feierabend machte, wann immer es sich anbot. Außerdem lernte sie - mit Erlaubnis ihres Abteilungsleiters - jetzt für die Schule, wenn nichts zu tun war. Also ständig. Seit ihre Freunde sie des Öfteren aus ihrem Versteck hervorlockten, ging es ihr auch schon besser. Und heute war wohl wieder irgendwas geplant, denn sie saß neben Flo im Auto, der hibbelig wirkte, während er es durch den Verkehr lenkte.
Was sie machten, wusste sie diesmal nicht. Demnach war es irgendetwas, für das sie niemals ihr Einverständnis gegeben hätte. Dafür konnte sie sich also schon mal wappnen, dachte sie und betrachtete die Gegend, durch die sie fuhren. Es war ein Industrieviertel, mit großen Fertigungs- und Bürokomplexen. Sie sah Baustoffhändler und an einem Möbelhaus kamen sie auch vorbei. Aber nirgendwo hielten sie.
Plötzlich bog Flo ab und blieb vor einer unscheinbaren, kleinen Industriehalle stehen. Was sollten sie hier? Ihr Freund machte jedenfalls den Motor aus und drehte sich mit erwartungsvoll leuchtenden Augen zu ihr, was sie etwas an seinem Verstand zweifeln ließ. Was taten sie an einer wellblechernen Mini-Lagerhalle?
„Bereit fürs Casting?", fragte er und sie starrte ihn an.
„Welches Casting? Ich mach unter Garantie nicht bei einem Vorsprechen..."
„Hier probt Laris Band. Das hätte ich wohl dazu sagen sollen", erklärte Flo grinsend und ihr Herzschlag beruhigte sich augenblicklich.
„Ach so. Ich dachte echt, da wäre jetzt irgendein komisches Casting oder so."
„Na ja, tut es auch, irgendwie. Immerhin hat Lari beschlossen, dass sie nicht weiter die Lead-Sängerin sein möchte..."
„Öhm, ok? Ich wüsste nicht, was das mit mir zu tun haben sollte. Ich werde den Posten garantiert nicht einnehmen", entschied sie und Flo zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht nicht. Aber womöglich doch. Singen musst du ohnehin mit ihnen. Du hast es ihr in Taching versprochen."
Oh, ja, da war noch was, erinnerte sich Anna und verdrehte automatisch die Augen. Flos Lächeln vertiefte sich daraufhin, während er ihr den Oberschenkel tätschelte und sich vom Fahrersitz schob. Sie seufzte nochmal und folgte ihm dann widerwillig. Sie hatte so gar keinen Bock drauf, da jetzt in die Ecke gedrängt zu werden und als potentielle Leadsängerin ins Gespräch zu kommen. So sichtbar musste sie gar nicht werden, entschied sie und unterdrückte ein Ächzen, weil Flo immer aufgekratzter wirkte.
Trotzdem folgte sie ihrem Impuls und wandte sich zu ihm, um ihm den Arm um den Nacken zu legen und ihn sanft zu küssen. Egal, was sie sich einbildeten, sie meinten es nicht böse. Sie taten alles, um Anna die Sicherheit zurückzugeben, ihr Versteck aufzugeben, und das war doch so wahnsinnig viel wert. Sie fühlte sich jeden Tag wieder ein bisschen mehr wie sie und nicht weiter so zerrissen.
Als sie sich von Flo löste, sah er sie erstaunt an und murmelte: „Wofür war der?"
„Weil du mich aushältst. Ich liebe dich, Ace. Ich sag es zu selten. Das ist mir bewusst. Aber es ist so. Ich weiß, dass du dir deinen Hintern aufreißt, dass es mir bessergeht. Danke", erwiderte sie und sah, dass er gerührt war.
Doch er zuckte mit den Schultern und meinte: „Schon ok. Du bist das wert. Ich liebe dich auch, Anna. Sehr."
„Musst du anscheinend, sonst hättest du mich längst zum Mond geschossen. Ich hätte das an deiner Stelle getan", stellte sie fest und als er die Stirn runzelte, legte sie ihre an seine und fügte an: „Ich bin froh, dass du es nicht tust. Ohne dich würde ich untergehen. Wäre ich vermutlich schon untergegangen."
„Das lassen wir nicht zu. Und jetzt komm. Das Casting wartet", murmelte er verschmitzt und sie rollte mit den Augen, obwohl sie grinsen musste.
Er drückte ihr nochmal einen Kuss auf die Nase und dann setzte er sich in Bewegung. Er schob das Rolltor zur Halle auf und sie sah, dass am anderen Ende eine aus Paletten gebaute provisorische Bühne war. Auf dieser standen Musikinstrumente und ihre Freunde wuselten dazwischen herum. Sie warf Flo einen Blick zu und der grinste.
„Ich bekomme ein Privatkonzert heute", stellte er fest und sie nickte überrascht.
Sie entdeckte Jonah und ein paar andere Leute, die wohl zu Massimos Familie gehörten, denn sie sprachen alle laut und mit ausholender Gestik. Sie musste automatisch schmunzeln, als sie Massimos Stimme zu ihnen dringen hörte. Er bat seine Eltern wohl, einen Gang herunterzuschalten. Zumindest den Gesten nach. Sie sprach ja kein Italienisch.
„Mäusle! Flo! Da seid ihr ja!", rief Lari aus, als ihre Freundin sie entdeckte und lief auf sie zu.
Als Larissa sie erreichte, stöhnte sie und erklärte: „Hochzeitsdiskussion. Helft mir. Sie verpacken das zwar nett, aber man merkt immer wieder mal ihren Unmut, dass zwei ihrer Söhne in wilder Ehe leben."
„Wie viele Geschwister haben die beiden?", fragte sie automatisch und Lari grinste.
„Sie sind drei Jungs und drei Mädchen. Sie waren ziemlich fleißig. Man munkelt, Francesca sei vor der Ehe entstanden, da sie im siebten Monat auf die Welt kam und so dralle war, dass sie nicht in den Brutkasten musste. Also, hm..."
„Aha", machte sie, weil sie Laris Begeisterung für diese Tatsache nicht teilen konnte, aber sie fing Flos Belustigung auf.
„Genau, Mäusle, das trifft es auf den Punkt. Dazu haben sie schier unzählige Cousins und Cousinen, weil alle sehr fortpflanzungsfreudig waren", erklärte Larissa weiter und sie warf Flo einen hilfesuchenden Blick zu und machte einen zustimmenden Laut, während ihre Freundin nickte und sich bei ihr unterhakte, um sie zu den anderen zu bugsieren.
„Ich singe aber nicht, ok?", ruderte sie zurück und Larissa sah sie an.
„Zu viele Fremde also. Klar. Dann hörst du uns eben nur spielen", entschied ihre Freundin und sie nickte erleichtert.
***
Er fing die Betroffenheit in Larissas Blick auf und hoffte, dass alles glattging. Denn um ehrlich zu sein, hatten sie gehofft, dass Anna sich traute und sang. Aber hätte er das seiner Freundin eröffnet, wäre sie womöglich gar nicht in das Auto gestiegen.
Beim Poetry Slam hatte man Anna so deutlich ihr Unwohlsein angesehen. Deswegen hatten sie gedacht, sie weihten sie nicht ein. Und dann war sie mit diesem Hammergedicht um die Ecke gekommen, das wirklich offenbart hatte, wie sie fühlte. Das war mehr gewesen, als er erwartet hatte, und er war so stolz auf sie - weiterhin. Doch sein Herz hatte am Limit geklopft.
„Na komm, Mäusle. Ich stell euch mal Massimos Eltern und seinen Geschwistern vor... Hey Krabbe, langsam", erklärte Lari gerade und grinste wie er, weil Jonah sie nun auch entdeckt hatte und auf Anna zulief, ehe er sich in ihre Arme warf.
„Hallooooo! Ich hab dich schon so vermisst! Mama und Papa haben gesagt, dass ihr kommt, aber ich hab gedacht, das stimmt nicht, weil ihr so lange gebraucht habt!", beschwerte sich der kleine Mann und er sah, wie Lari lächelnd die Augen verdrehte.
„Oh. Aha. Entschuldigung. Ich war Arbeiten", erklärte seine Freundin und Jonah schürzte die Lippen.
„Ich versteh nicht, wieso man irgendwohin geht, wo sie einen traurigmachen. Im Kindergarten dürfen sie das nicht mehr. Vielleicht muss da auch mal Mama hingehen und denen sagen, dass sie das nicht sollen. Man macht nämlich nicht absichtlich andere traurig", erklärte Jonah und Anna warf ihrer Freundin einen Blick zu, während ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte.
„Hm, ja. Sie wären von deiner Mama bestimmt beeindruckt. Muss man auch, oder? Sie ist eine coole Mama", entschied Anna und Jonah nickte.
„Ja. Meistens schon. Nur, wenn ich irgendwas nicht darf, finde ich sie nicht cool", stellte dieser fest und er sah, wie sich dessen Hand in Annas schob.
„OMA, OPA, TANTE FRESCA, TANTE LUCIA GUCKT MAL, MEINE ANNA IST DA! Ach ja, Flo auch", rief Laris Sohn und Larissa tätschelte ihm den Arm.
„Da hat dir jemand den Rang abgelaufen", murmelte diese und er nickte schmunzelnd.
Er zuckte mit den Schultern und meinte: „Kann ich verstehen. Er hat einen phantastischen Mädchengeschmack."
„Hat er. Aber seine Mutter hat ja auch einen tollen Geschmack. Komm. Stell ich eben dich vor, nachdem mein Sohn deine Liebste schon entführt hat...", stellte Lari fest und er folgte ihr zustimmend.
Er bemerkte, dass Anna etwas überfordert wirkte, anhand der überfallartigen Gefühlswärme, mit der sie überschüttet wurde und sah, wie Massimo ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern legte. Zumindest wusste er nun, woher dieser seine Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit hatte. Thomaso war ja eher stiller. Aber nicht weniger warmherzig. Nur eben ruhiger als sein Bruder.
Francesca war eine typische Italienerin: offen, herzlich, laut und temperamentvoll. Lucia schien jünger zu sein, als ihre drei anwesenden Geschwister, eher eine tiefgründige Seele und gute Beobachterin. Zumindest besah sie sich die Situation und lächelte vergnügt, ohne sich großartig einzubringen. Wahnsinn. Alle eine Familie und doch so unterschiedlich.
Nachdem auch er allen vorgestellt worden war, klatschte Lari in die Hände und meinte: „Dann wollen wir mal. Heute haben wir beschlossen, dass wir die Hymnen der Vergangenheit interpretieren. Also: Mitgrölen ausdrücklich erlaubt."
„Jetzt geht's los, mein Schatz. Tanzen wir?", fragte Jonah und er biss sich auf die Lippen, als Anna ihren kleinen Verehrer einen Sekundenbruchteil irritiert ansah, ehe sie nickte.
„Ok, Schatz. Machen wir", entschied sie und er sah, wie ihre Augen freudig aufblitzten, weil Jonah so happy aussah.
Die beiden waren echt schön zu beobachten. Wie ein Versprechen, das in der Luft hing. Er wollte sie. Für sein Leben. Egal, wie hart es gerade manchmal war und wie sehr es ihm an die Substanz ging, dass sie so litt. Aber hieß es nicht immer ‚in guten, wie in schlechten Zeiten'? So war es einfach. Er liebte sie. Mit jeder Faser seines Körpers und jedem Gedanken in seinem Geist. Letztlich hatte sich dieses Gefühl nur verstärkt. Je mehr sie kämpfte, je mehr sie strauchelte und doch weitermachte, je öfter sie sich überwand, umso sicherer war er sich. Er sah, wie Annas Blick überrascht zur Bühne huschte, als ihre Freunde loslegten.
‚Scheiße, die sind gut', dachte er und ließ sich ebenso wie Anna schon kurze Zeit später mitreißen.
Im Augenwinkel bemerkte er, dass seine Freundin völlig vergessen hatte, dass sich Fremde im Raum befanden und ausgelassen die Texte mitsang und dabei tanzte. Er registrierte die Freude auf den Gesichtern ihrer Freunde auf der Bühne und merkte, wie sein Herz heftiger zu pochen begann. Es würde klappen. Bestimmt. Es wurde auch Zeit. Das Publikum würde jeden Moment kommen.
***
Sie konnte nicht glauben, wie toll ihre Freunde zusammen harmonierten. Wie sich ihre unterschiedlichen Charaktere beim Musizieren zu einer Einheit fügten. Die etwas kühlere Ela mit der versteckten Herzenswärme malträtierte mit leuchtenden Augen das Schlagzeug, derweil Thomaso lächelnd den Bass spielte. Massimos Augen glitzerten amüsiert, während er alles im Blick hatte und seiner E-Gitarre die schönsten Töne entlockte und Lari? Sang und betätigte nebenbei das E-Piano, als würde sie nie etwas anderes tun.
Sie war eine echte Naturgewalt. Wie froh sie war, dass sie über die beschissene Bowlingkugel gestolpert war. Sie wollte niemanden in ihrem Leben missen. Keinen Einzigen von ihnen. Sie hatte nicht geahnt, wie wichtig es für sie war. Diese paar Menschen, die ihr im Stillen oder im Großen den Rücken stärkten. Je nachdem, um welche der vier Persönlichkeiten es sich handelte. Als die ersten Akkorde von I love Rock 'N' Roll von Joan Jett & The Blackhearts ertönten, lachte sie und hob die Arme, um das abzufeiern. Sie bemerkte, wie Lari grinste und sich das Mikro schnappte und ihren Platz hinterm E-Piano verließ.
Flo zog sie zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze, während Larissa an den Rand der provisorischen Palettenbühne trat, auf die sie MDF-Platten geschraubt hatten, sodass niemand in irgendeinem Spalt hängenbleiben konnte. Sie grinste ihn an und fragte sich noch, warum er plötzlich so aufgewühlt aussah, als Lari ihre Hand nahm und sie auf die Bühne zog.
Sie schluckte hart und schüttelte automatisch den Kopf. Doch ihre Freundin sah ihr fest in die Augen und schob das Mikro zwischen sie, nickte ihr auffordernd zu. Sie konnte das nicht. Hier waren Fremde. Sie war schon lange nicht mehr diejenige, die sich so präsentierte. Sie sah im Augenwinkel, wie angespannt Flo die Szene belauerte und wie hoffnungsvoll er wirkte.
Bevor sie wusste, was sie tat, setzte sie beim Refrain ein und beobachtete, wie sich auf seinem Gesicht ein Strahlen ausbreitete, das heller schien als die Sonne. Genauso wie Jonah sie mit weitaufgerissenen Augen anstarrte, ehe sich seine Hand in Flos schob und die zwei sich angrinsten. Auch Larissa machte sie offenbar gerade ziemlich happy und als sie auf die andere Seite sah, bemerkte sie, wie zufrieden Massimo lächelte. Das war also der Plan gewesen. Sie sollte sich wieder sichtbar machen.
‚Ok. Scheiß drauf. Nur wohlgesonnene Menschen hier, oder?', dachte sie, weil ihr das Lied echt gefiel, ihr in die Füße schoss und es einfach irgendwie guttat.
Sie schloss die Augen und ließ es einfach raus, hörte das zustimmende Grölen der paar Menschen vor der Bühne und unterdrückte das Grinsen. Das war ja in einem erträglichen Rahmen und machte wirklich Spaß. Jedenfalls mehr, als ein Gedicht vorzutragen. Oder Shoppen zu gehen. Wann hatte sie zum letzten Mal so ausgelassen gesungen, ohne sich Gedanken zu machen, wie es wirken könnte? Das war Jahre her.
Als der Song endete, war sie fast enttäuscht, wandte sich aber sofort ab und wollte von der Bühne gehen, doch Lari packte ihren Arm und schüttelte den Kopf. Bevor sie sich versah, hatte sie das Mikro in der Hand und Massimo und die anderen spielten die ersten Töne von Learning to fly von Tom Petty and The Heartbreakers. Sie starrte ihrer Freundin ungläubig hinterher, die gelassen zum E-Piano schlenderte und fing automatisch zu singen an. Was passierte hier? So war das nicht geplant. Aber es hatte doch Spaß gemacht. Sie schloss wieder die Augen und stellte sich vor, sie wäre allein in ihrem Auto und konnte einfach mitsingen
https://youtu.be/wMsazR6Tnf8
https://youtu.be/v-LsnQPwHzI
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