45 - Wolkenbedeckt
Ein paar Stunden später stand er wieder an der gleichen Stelle und wartete darauf, dass seine Freundin aus dem Gebäude kam, in dem sie sich so unwohl fühlte. Er starrte den Minutenzeiger auf der Uhr des Wagens an. Sie hätte vor fünf Minuten Feierabend haben müssen. Geschrieben hatte sie nicht. Aber sowas hatte er sich nach ihrer Reaktion vom Morgen schon gedacht. Da hatte sie nur zugestimmt, um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen. Ob alles gut war da drin? Oder überhäuften sie ihre Kollegen wieder mit Arbeit, die sie unmöglich pünktlich bis zum Feierabend schaffen konnte?
Er sollte nachfragen, richtig? Sich versichern, ob alles in Ordnung war? Dann würden ihre Arbeitskollegen auch sehen, dass Anna sehr wohl einen Freund hatte. Der sich sorgte. Unfassbar. Sie war schon völlig fertig in dem Gebäude verschwunden und er hatte den ganzen Tag Bauchgrimmen gehabt und hatte sich kaum auf die Vorlesungen konzentrieren können. Er hasste den Theoriekram ohnehin und wollte zeichnen. Aber auch das war ihm heute nicht gelungen, wie er sich das gewünscht hätte.
Weil er nicht mit dem Herzen dabei gewesen war. Ok, er ging jetzt hinein und klopfte behutsam auf den Busch. Denn sie war seit 10 Minuten überfällig. Er sah nicht ein, dass sie mehr ihrer Zeit da drin verbrachte, als vertraglich vereinbart. Die knapp acht Stunden mussten reichen. Er verließ den Wagen und wollte gerade die Stufen hinaufsteigen, als die Glastür aufschwang und seine Freundin ihm entgegenkam. Sofort musterte er sie. Ihr Gesicht war verschlossen. Super. Das bedeutete, es war nicht so gelaufen, wie er es sich trotzdem erhofft hatte.
Als sie vor ihm stand, zog er sie fix in seine Arme und fragte: „Und?"
„Ok. Können wir nach Hause? Ich bin todmüde. Ich hab letzte Nacht kaum geschlafen und mir fallen schon im Stehen die Augen zu", murmelte sie und legte matt den Kopf auf seine Schulter.
„Oh, ok? Lari hat sich angekündigt...", gab er zu und hörte, wie sie seufzte.
„In Ordnung. Ein bisschen halt ich noch durch. Aber dann erzähl ich die Ereignisse des Tages auch erst, wenn sie da ist. Muss ich ja nicht zweimal machen, ok?", wisperte sie und er vernahm, dass ihre Stimme rau vor Erschöpfung war.
Aber er brannte darauf, zu hören, was sie heute erlebt hatte, darum ignorierte er diese vorerst. Er nickte und wartete, bis sie sich von ihm löste und zum Auto ging. Er entriegelte den Wagen und beobachtete, wie seine Freundin mit zittrigen Knien einstieg. Er folgte ihr und startete den Motor, während er ihr einen forschenden Blick zuwarf. Sie sah matt aus dem Fenster und schwieg. Das war ok. Sie würde später etwas sagen. Sollte sie ihre Kräfte schonen. Denn sie sah echt aus, als würde sie im Sitzen einschlafen.
***
„Was wollen die, verdammt nochmal?", rief Lari aus und sie zuckte matt mit den Schultern.
„Einen Drogentest machen. Weil jemand, der so lang ausfällt, offenbar ein Drogenproblem hat. Ich hab zugestimmt. Die einzigen Drogen, die ich zu mir nehme, sind Nikotin und Koffein, also, sollen sie sich doch dran ergötzen, dass ich in einen Becher pinkle", führte sie aus, während sie das Unwohlsein deswegen beiseiteschob.
Es war schon ein ziemlich ausdrucksstarkes Zeichen, dass die Leute in ihrer Firma ihre Rechtschaffenheit bezweifelten, und das stimmte sie traurig. Sie hatte nie einen Anreiz für diese Unterstellung gegeben. Doch sie sagte sich immer wieder, dass es ihr egal sein konnte: Sie würden ja nichts finden. Auch Flo sah sie an, als könne er nicht glauben, was sie erzählt hatte. Sie wich seinem Blick aus, der Unglauben, der sich darin zeigte, stieß sie noch mehr darauf, dass diese Anweisung nicht ok war.
„Anna, das heißt, dass sie dir nicht vertrauen, ist dir das klar? Wieso lässt du dir das gefallen?", fragte Larissa leise und sie schaute ihre Freundin an.
„Weil es mir lieber ist, diesen Verdacht auszuräumen, statt den auch am Arsch kleben zu haben. Noch mehr, was sie mir ankreiden können. Das will ich nicht."
„Verstehe. Und die neue Abteilung, wie sind die Leute da?"
Sie dachte an die beiden älteren Damen, die unter ihrem Abteilungsleiter saßen und ihre Arbeit machten und meinte: „Kann ich noch nicht viel dazu sagen. Bisher sind sie distanziert."
‚Um genau zu sein, sprechen sie nur das Nötigste mit mir', fügte sie in Gedanken an und schob auch das Unbehagen beiseite, das sie deswegen hatte.
„Du bist jetzt in der Buchhaltung, oder?", erkundigte sich Flo und sie nickte.
„Na, das kann nur gut werden. Mit Zahlen kannst du ja umgehen", entschied er und sie stimmte leise zu.
Sie war sich dessen nicht sicher. Also mit Zahlen konnte sie hantieren, aber ob alles gut werden würde, daran zweifelte sie. Doch sie konnte sich heute nicht mehr damit befassen. Sie war so müde, dass sie das Gefühl hatte, schon zu schielen vor Erschöpfung. Was offenbar auch Lari merkte, weil sie seufzte und entschied, dass bestimmt alles besser werden würde. Das bejahte sie ebenfalls und Larissa warf ihr nochmal einen zweifelnden Blick zu, ehe sie verkündete, sie würde dann mal nach Hause fahren.
„Ich wollte ja nur wissen, wie dein erster Tag so war. Und Massimo ... Er wollte heute kochen. Darum ... Mäusle, du rufst an, wenn irgendwas schiefläuft, ok? Ansonsten könnten wir am Wochenende ja mal an einen See fahren, oder?", schlug ihre Freundin vor und sie nickte.
„Ja, klar. Klingt nicht so schlecht. Mal sehen, wie das Wetter ist. Soll regnerischer werden", erwiderte sie und Larissa zuckte mit den Schultern.
„Werden wir merken. Ich muss los. Ich hab dich lieb, Mäusle", verabschiedete sich Lari und als sie aufstehen wollte, schüttelte Flo den Kopf.
„Ich mach das. Bleib sitzen, Arielle. Ich wärme uns auch das Abendessen auf, ok? Hast du Hunger?", erkundigte er sich und sie bejahte, obwohl sie einen Knoten im Magen hatte.
Doch das würde ihr Flo nicht durchgehen lassen. Also würde sie etwas essen. Sie murmelte noch, dass Larissa Massimo grüßen solle, und erwiderte die Umarmung ihrer Freundin, ehe sie den Kopf auf dem Tisch ablegte, nachdem Flo und Lari das Wohnzimmer verlassen hatten. Ihr fielen sofort die Augen zu und sie kämpfte sie wieder auf. Sie musste essen und sollte auch noch duschen gehen und so. Aber das war so weit weg gerade. Sie war echt alle.
***
Flo wurde wach und tastete nach Anna, fand die andere Betthälfte aber leer vor. Sofort runzelte er die Stirn und seine Brust krampfte sich zusammen. Seit Annas Rückkehr in die Arbeit waren 4 Wochen vergangen und es ging ihr beschissen. Doch was genau vorfiel, verschwieg sie erneut einmal. Er merkte es einfach, weil sie wieder im Schlaf sprach und sich dabei wiederholt bei ihm entschuldigte. Wofür wusste er nicht, aber es stellten sich ihm immer aufs Neue sämtliche Körperhärchen auf, wenn sie murmelte, es täte ihr leid.
Anna hatte sich wieder spürbar zurückgezogen: Sie kam todmüde von der Arbeit, aß kaum und war irgendwie immer neben der Spur. Wenn er mit ihr darüber sprechen wollte, vertröstete sie ihn und bat um Aufschub. Nur, um sich in den Nächten an ihm festzuklammern und im Schlaf bittere Tränen zu vergießen. Genauso verhielt sie sich, wenn sie sich liebten: als müsste sie ein Loch stopfen, das er nicht ausmachen konnte.
Aber er merkte, dass zumindest da ein bisschen Ruhe in ihre Aufgewühltheit kam, also gab er sein Bestes, um ihr wenigstens da Frieden zu schenken. Auch, wenn ihm das immer weniger gelang, stattdessen entdeckte er blaue Flecken an Oberarminnenseiten und Oberschenkeln, dachte er seufzend und schob sich über die Bettkante. Sie musste endlich mit ihm reden, sonst würde er ausflippen. Diesmal würde sie ihm nicht mit einem Wutanfall ausweichen können, wie an dem Tag, an dem er sie gefragt hatte, was das für Hämatome waren.
Der hatte sein Misstrauen nur genährt, vor allem, weil es mehr wurden. Demnach würde er Anna jetzt suchen und sie zur Rede stellen. Es gab keine Ausflüchte heute. Er zog sich was über und sah in alle Räume, fand jedoch dann die geöffnete Balkontüre vor. Also ging er auf den Austritt, um Anna dort still auf einem Stuhl kauernd vorzufinden. Sie schaute in den Mond und wirkte, als wäre sie Welten von ihm entfernt. Sofort schluckte er hart und ihm lief wieder eine Gänsehaut über den Rücken, während er vor ihr in die Knie ging.
„Anna..."
„Ich kann nicht mehr, Ace", flüsterte sie und schaute ihn nicht an, sondern starrte nur weiter in den Mond, der heute als schmale Sichel über Stuttgart prangte.
***
Sie nahm seine Besorgnis wahr, die in Wellen von ihm ausging, suchte seinen Blick und schluckte hart. Sie konnte ihn nicht weiter im Ungewissen lassen. Alles in ihr schmerzte, war zu einem Brocken Eis geworden, mit dem sie sich hatte schützen wollen. Aber es klappte nicht. Sie war so am Ende. Flo wollte etwas sagen, doch sie schüttelte den Kopf.
„Es dauert immer länger. Ich verlier die Verbindung, ich spür es. Ich hab Angst", sagte sie und wusste, dass er sich daraus keinen Reim machen konnte.
Sie suchte nach Worten, es ihm zu erklären, und flüsterte: „Ich versuche es. Wirklich. Die Bindung nicht zu verlieren. Aber Anna hat sich verkrochen. Ganz tief drinnen. Weil es so wehtut und sie sich schützen muss. Ich hab nicht geahnt, dass es so verletzend ist. Als ich sagte, ich möchte einfach unsichtbar sein, hab ich nicht gewusst, wie weh das tut. Ich rede total wirr. In mir ist alles durcheinander. Ich versuche, dagegen anzugehen, mich vor dem abzuschotten, was passiert, und ich glaube, das ist auch das Problem. Ich hab das zu gut gemacht, deswegen hab ich mich irgendwo verloren. Du holst sie hervor. Anna. Du schaffst es, sie hervorzulocken, wenn du mich berührst. Aber es wird immer schwerer, sie aus ihrem Versteck zu bekommen. Doch sie hat Angst. Dass die Verletzungen zu tief gehen. Darum versteckt sie sich eilig wieder. Ich versuch, sie festzuhalten. Macht das irgendeinen Sinn für dich? Was ich da sage?"
„Nicht viel. Aber rede weiter. Ich komm drauf, je mehr Brocken du mir zuwirfst, Arielle", murmelte er und sie nickte.
Sie biss sich auf die Lippen und versuchte, zu ergründen, wie sie erklären sollte, was in ihr passierte, als sie hörte: „Wieso hast du so viele blaue Flecken, Arielle?"
Sie sah ihn lange an, ehe sie zugab: „Das bin ich. Ich kneife mich. Damit Anna aus ihrem Versteck kommt und ich mich spüre. Das Gefühl hab, wir wären keine zwei Personen. Nach außen muss ich doch so tun, als würde mir das nichts ausmachen und mich so vor Verletzungen schützen, aber dadurch hat sich mein Empfindsamstes versteckt: Anna. Die Anna in mir verbirgt sich, weil alles um sie irgendwie wund ist. Ich hatte keine Ahnung, dass es so wehtut, tatsächlich unbemerkt zu sein. Ich hab mich geirrt. Ich will nicht unsichtbar sein. Ich will existieren dürfen und wahrgenommen werden. Am liebsten, ohne angegriffen zu werden. Sie müssen mich nicht mögen. Aber mich sehen."
Sie bemerkte, dass sein Blick erschrocken über ihren Körper glitt. Fassungslos und ungläubig wanderten seine Augen wieder zu ihrem Gesicht. Sie merkte erst, dass sie weinte, als er sich erhob, sie von ihrem Stuhl zog, sich selbst setzte und sie auf seinen Schoß zog. Er murmelte, es würde alles gutwerden, sie würden das irgendwie hinbekommen. Aber sie wusste nicht wie. Sie schämte sich so.
„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Dass Anna sich so massiv versteckt hat. Ich spür mich nicht mehr. Die meiste Zeit bin ich ein inhaltloser Zombie und trotzdem tut es weh. Wie komm ich da heraus? Ich kann nicht abbrechen. Weil ich mir damit meine Zukunft verbaue, aber es ist zu viel. Ich denke nur darüber nach, dass ich es tun müsste. Ich müsste hinschmeißen, sodass Anna wieder an die Oberfläche kommt und ich komplett bin. Ich hab Angst. Dass ich Anna so gut versteckt hab, dass ich mich nicht mehr finde. Darum halte ich mich an dir fest. Nur, wenn du mich berührst, findet sie heraus. Weil du sie siehst und mich so liebst, wie ich bin. Ich hab nicht verstanden, wie weh es tun kann, unsichtbar zu sein. Dabei hätte ich es wissen müssen. Denn für Mama und Papa bin ich auch die meiste Zeit nicht sichtbar. Das hab ich erst jetzt kapiert. Dass ich im Grunde nicht existent war, bis du gekommen bist und Anna herausgelockt hast. Aber sie verbirgt sich wieder und ich suche nach ihr. Ich müsste hinwerfen. Doch dann bin ich verloren. Meine Zukunft. Ich brauch eine. Sonst versteckt sich Anna auch, oder? Wenn sie keinen Sinn hat?", wisperte sie und fragte sich, ob aus ihrer Kehle diese schmerzvollen Laute drangen.
„Was heißt, du bist unsichtbar, Arielle? Was passiert im Büro, denn in deinem Tagebuch sind keine neuen Einträge?", erkundigte er sich und sie schniefte, während sie mit den Schultern zuckte.
Sie wollte nicht heulen, also wischte sie sich über die Wangen, ehe sie zugab: „Sie sehen mich nicht, Ace. Ich bin so müde. Es ist so anstrengend. Sie geben mir keine Arbeit. Ich hab jeden Tag eine halbe Stunde etwas zu tun. Wenn ich langsam mach. Weil es nicht schwer ist, die Zahlen auf den Kontoauszügen mit denen im Computer zu vergleichen und zu prüfen, ob alle Zahlungseingänge und -ausgänge korrekt sind. Dafür hab ich nicht Abi geschrieben. Das kann jeder, der Ziffern lesen kann. Dann sitze ich da und stiere vor mich hin. Ich frage ja, ob ich ihnen etwas abnehmen darf. Aber ich bekomme keine Antwort. Nicht mal ein Nein. Sie starren einfach nur auf ihre Bildschirme und tippen weiter. Machen ihre Arbeit. Ich hab keine Aufgabe. Sie sehen mich nicht mal an. Sie ignorieren mich, auch falls ich mich vor deren Schreibtisch stelle und mich danach erkundige. Nix. Es kommt nichts. Ich frage mich, was ich da lernen soll und ob sie wenigstens einen Notarzt holen würden, wenn ich umkippen würde. Es ist, als wäre ich nicht da. Ich bin nicht existent. Das verletzt mehr als Beleidigungen."
Sie sah, wie fassungslos Flo war und fügte an: „Ich suche mir Beschäftigung. Ich bin im saubersten Büro des ganzen Hauses. Weil ich putze. Räume die Schränke aus, wische Staub, ordne die Akten wieder ein. Nur, um nicht weiter dumm auf meinen schwarzen Bildschirm gucken zu müssen. Es ist schwer, nicht einzuschlafen, wenn man nur da drauf sieht. 54. So viele Deckenpanelle sind da. Die Blume hat 17 Blätter. Die Orchidee hat 5 Blütenrispen. Auf jeder sind 8 Blüten. Das sind zusammen vierzig. Sie sind gelb und haben rote Sprenkel. Ich werde irre. Ich drehe durch. Immer wenn ich denke, ich verliere meinen Verstand, geh ich aufs Klo und kneife mich. Der Schmerz lockt Anna hervor und ich kann ihr sagen, dass sie mehr wert ist als das. Dass sie mehr verdient hätte, aber ich durchhalten muss. Weil wir sonst keine Zukunft haben. Doch ich hab Angst. Weil ich sie immer schlechter erreiche. Was wenn ich mich nicht mehr finde, falls ich so weitermache? Ich glaub, ich schaffe das nicht."
**************************
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro