34 - Flauschwolken
Sie musste automatisch grinsen und verdrehte die Augen, als er seine zu ihren hob. Wieso machte sie sich Gedanken? Diese Reaktion war doch eigentlich eindeutig.
„Ja, hm. Moment. Gehirnzellen aktivieren. Weil ich dir ernsthaft auf diese Frage antworten will, nachdem du zum ersten Mal preisgegeben hast, was dich offenbar stört ... Ok ... Jetzt. Ich weiß nicht, was ich darauf genau erwidern soll, deswegen hoffe ich, dass ich die richtige Formulierung finde. Hm, ok. Ich fang mal dabei an, was mir zuerst aufgefallen ist: Das waren deine Augen, als sich deine vollen Lippen plötzlich zu einem Lächeln verzogen haben. Sie haben von einer Sekunde zur nächsten so geleuchtet, dass mir der Atem wegblieb. Da hab ich gelernt, dass du ein echt tolles Lächeln hast und dass sich Grübchen in deine Wangen graben, wenn du deine Mundwinkel hochziehst. Das hat mir gefallen", erklärte er und sie wollte ihm sagen, dass er damit nicht auf ihre Frage antwortete, doch er sprach schon weiter.
„An dem Tag als dich die Mädels aus der Klasse nach dem Sportunterricht auflaufen lassen haben, hab ich erst gelernt, wie unfassbar stark du bist. Dann, später auf meinem Balkon, hast du dich neben mich gesetzt. Es ging leichter Wind, er hat mit deinen Locken gespielt und er hat deinen Geruch zu mir getragen. Wie du riechst, wenn du das Duschgel meiner Ma benutzt. Das klang jetzt irgendwie schräg. Es war nicht wegen des Duschgels meiner Ma, sondern..."
„Hab schon verstanden", murmelte sie und sah, dass er erleichtert nickte.
„Das hat mich ziemlich verwirrt, weil ich das auch toll fand. Überhaupt fiel mir da auf, wie schön dein Haar dein Gesicht umspielt. Deine Figur hast du immer verborgen, also konnte ich dazu nichts sagen. Selbst als wir auf meinem Wunsch im Freibad waren, hast du sie verständlicherweise versteckt, nachdem dich zwei Zicken blöd angemacht hatten. Da hab ich wieder etwas gelernt: Anna ist unfassbar mutig. Sie kommt aus der Kabine, obwohl man ihr ansieht, dass sie sich lieber verstecken würde. Außerdem ist sie ehrlich, denn sie sagt geradeheraus, dass sie sich überlegt hat, zu schwindeln, um verschwinden zu können. Aber das war nicht die einzige Erkenntnis: Ich hab zum ersten Mal deine streichelzarte Haut unter meinen Fingerspitzen gefühlt, als ich deine Narbe am Bein nachgefahren hab. Dein Tattoo hat mich auch überrascht", gab er zu und zuckte mit den Schultern.
„Hm, ich erinner mich", erwiderte sie und er nickte.
Dann küsste er sie zärtlich und erklärte: „Später am Abend hab ich dich tatsächlich das erste Mal im Badeanzug gesehen, als ich mit dir zum See bin. Wieder hab ich bemerkt, wie verunsichert du warst, und das hat mich gerührt. Auch, wenn ich nicht verstanden hab, was du verstecken wolltest. Denn ich hab nur gesehen, dass dein Po echt sexy ist. Ich finde ihn gut, so wie er ist. Ich denke, er harmoniert mit dem Rest, weil sich dein Übergepäck gut verteilt hat, verstehst du? Du hast eine hübsche Taille, Oberkörper passt zum Unterbau und so. Dellen hab ich keine gesehen. Bis heute nicht. Vielleicht guck ich nicht genau genug. Aber ich denke, die sind auch nicht relevant. Die machen dich nicht hässlich. Nicht für mich."
Sie war ihm so dankbar, dass er ihre Aussage ernst nahm und sich so bemühte, ihr wirklich darauf zu antworten. Sie merkte, wie sie wieder Rührung flutete. Sie war heute echt zartbesaitet. Sie wusste auch, dass er glaubte, was er sagte und nicht zum ersten Mal, wünschte sie sich, sie könnte sich ebenso sehen. Sein Blick war um ein Vielfaches wohlwollender als ihr eigener.
Unterdessen zuckte er mit den Schultern und gab lächelnd zu: „Da musste ich mich schon laufend daran erinnern, dass wir ja nur Projektpartner sind. Aber das klappte nicht. Weil mein Herz immer verrückt spielte, wenn ich dich gesehen hab. Als wir uns im Wasser gebalgt haben, hab ich gemerkt, wie gut es sich anfühlt, dich zu berühren und dass deine Locken wirklich so seidig sind, wie sie aussehen. Als ich dich geküsst hab, hat mich dein Geschmack fast umgehauen. Kein Scherz. Aber das ist nicht die Antwort auf deine Frage, ob ich all das nicht wahrnehme, was du siehst. Nur zum Teil."
„Ich hatte unfassbar Schiss, als du mich ausgezogen hast. Ich ... der Badeanzug hält doch alles ein bisschen in Form...", platzte es aus ihr heraus und er sah sie lange an.
„Das hab ich bemerkt. Es war gar nicht nötig. Weil mich dein Bauch nie gestört hat, deine Haut überall so streichelzart ist und du gut riechst und gut schmeckst. Deine Oberweite schmiegt sich einfach nur gut in meine Hände und ist schön weiblich. Mehr gibt es dazu auch nicht zu sagen. Obwohl du behauptest, sie hätte einen leichten Abwärtstrend. Den sehe ich nicht. Genauso wenig wie die Streifen. Ich hab keine Ahnung, wo die sein sollen...", erklärte er und sie zeigte auf ihre Hüften.
Sie sah, dass Flo die Stirn runzelte, ehe er fragte: „Echt jetzt? Das stört dich? Die sieht man kaum. Nur, wenn man darauf hingewiesen wird. Kannst du von der Liste deiner angeblichen Hässlichkeiten streichen. Die sind nicht relevant. Genauso wenig wie die unsichtbaren Dellen..."
„Nicht unsichtbar. Guck hier...", erwiderte sie und erneut beobachtete sie, wie er ungläubig die Augenbrauen hochzog.
„Dir ist hoffentlich klar, dass da bei mir auch welche sind, wenn ich einen Bereich des Oberschenkels so quetsche wie du gerade, oder? Streich sie aus deinem Kopf", entschied er und sie sah ihn fassungslos an.
„Die sind da", sagte sie trotzig und er zog nochmal die Augenbrauen hoch.
„Ja. Echt. Wahnsinn. Du hast mehr Krater als der Mond", erwiderte er ironisch und seufzte, ehe er anfügte: „Das ist so ein Frauen-Ding, oder? Irgendwas hässlich zu finden, was nicht da ist? Oder so minimal, dass man es fast mit der Lupe suchen muss? Manchmal hab ich das Gefühl, ihr Mädels stürzt euch wie die Geier auf eure angebliche Unvollkommenheit und gerade das macht doch einen Menschen perfekt: Dass eben nicht alle gleich sind, sondern jeder irgendwie Macken hat. Äußerlich und innerlich. Keiner ist aus dem Ei gepellt. Zum Glück. Aber nochmal zurück zu dir: Anna, an dir ist nichts abstoßend. Nicht für mich. Du bist von Kopf bis Fuß die Frau, in die ich mich verliebt habe. Die ich liebe. Hab ich deine Frage beantwortet, warum ich sage, du bist schön?"
„Ja, so eigentlich schon", gab sie zu und er nickte, ehe er sie wieder in seine Arme zog und leicht mit dem Kopf schüttelte.
„Unsichtbare Dellen und kaum sichtbare Streifen", murmelte er fast geräuschlos und sie lehnte sich zurück, um ihm in die Augen zu sehen.
Er wirkte etwas missmutig und das tat ihr leid. Jetzt hatte sie die besondere Stimmung doch zerstört, die zwischen ihnen geherrscht hatte. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihn aufmuntern konnte. Vielleicht reichte es, wenn sie ihm sagte, wie sie empfand? Er freute sich immer, falls sie ihm erklärte, warum sie wie dachte, oder? Sie wollte, dass er nicht weiter sauer war. Schon gar nicht auf sie. Das war ohnehin mehr, als sie ertragen konnte. Vor allem im Moment.
„Ich versuche es, Ace."
Jetzt sah er sie fragend an und sie fügte an: „Mich nicht mehr so herunterziehen zu lassen. Mich anders zu sehen. Ich versuche es, ok? Aber es ist schwer, verstehst du? Mein Kopf kramt ständig das hervor, was die meisten über mich äußern. Doch ich hab mir vorgenommen, mich nur noch auf das zu konzentrieren, was die Menschen sagen, die eine Bedeutung in meinem Leben haben. Das geht nicht so fix. Aber das mit Jonah hat mich echt kalt erwischt. Er hat mit einer solchen Bestimmtheit erklärt, ich wäre nicht hässlich, dass ich ... keine Ahnung. Das hat mich fertiggemacht."
Sie merkte, wie ihr die Tränen kamen, weil es sie immer noch rührte, mit welcher Überzeugung Laris Sohn diese Behauptung geäußert hatte. Dem hatte nicht mal ihr Negativ-ich etwas entgegenzusetzen gehabt. Doch sie drängte sie zurück.
„Ich konnte das nicht begreifen. In der Weise, wie er es gesagt hat, hab ich das nicht anzweifeln können. Er kannte mich vorher nicht und es kam so spontan und aus der Situation heraus. Wenn du sagst, ich sei schön, dann denk ich: Na klar, musst du. Irgendwie. Weil ich dich erwiesenermaßen errege und wir eine Beziehung führen. So hab ich das bisher gesehen. Aber ich hab mir vorgenommen, das nicht mehr zu tun. Ich hab mir jeden Tag das Bild angesehen..."
***
Sie sah ihn an, als sollte er wissen, was sie damit meinte. Aber er hatte keine Ahnung, was sie sagen wollte. Er wusste nur, dass sie endlich an den Punkt gekommen war, an dem sie nicht mehr auf die Meinung derer zählte, die ihr Leben nur touchierten. Weswegen sein Herz wohl so heftig gegen seine Rippen klopfte. Sie merkte anscheinend, dass er nicht begriffen hatte, was der letzte Satz sollte.
„Das Bild, das du mir im Herbst geschenkt hast. Das, auf dem ich schlafe. Ich hab es mir in der Arbeit angesehen. Jeden Tag, ab dem Moment, an dem die Sticheleien begannen. Ich hab's kopiert. Ich wollte nicht das Original knicken und im Geldbeutel verstauen. Also habe ich es fotokopiert und hab den Nachdruck davon in meine Börse getan. Ich wollte mich immer jederzeit daran erinnern, dass ich auch eine schöne Seite hab. Wenn die Verbalattacken zu viel wurden, bin ich aufs Klo und hab dein Bild angesehen."
Ungläubig starrte er sie an, während sie flüsterte: „Ich hab auf das Mädchen darauf gestarrt und mir gesagt, dass es ein Abbild von mir ist. Ich hab mir erklärt, dass die langen Wimpern, die beim Schlafen offenbar kleine Schatten auf die Wangen werfen, genauso zu mir gehören, wie die sachte hochgezogenen Mundwinkel in dem friedlichen Gesicht, das von Locken umrahmt wird. Dass die Anna auf dem Bild gleichzeitig ich bin. Es hat geholfen. Anfangs. Irgendwann konnte ich keine Querverbindungen mehr ziehen. In mir ist momentan wenig Frieden."
Er war so gerührt, dass er nichts antworten konnte. Sein Bild? Das war ihr eine Zeitlang zumindest ein Anker gewesen? Sie hatte wirklich versucht, sich zu erinnern, dass nicht alle sie so sahen, wie ihre Kollegen es ihr vermittelten. Aber dann war sie gescheitert. Doch darum ging es nicht. Sie hatte echt dagegen angekämpft. Daran bestand nicht der geringste Zweifel, wenn er ihr in die Augen sah. Sie wirkte betrübt, obwohl ein Lächeln um ihren Mund spielte.
„So geht es mir auch mit dem Bild, das unseren Schlafzimmerspiegel verdeckt. Die Anna darauf strahlt ebenfalls so viel Gelassenheit und Ruhe aus, dass ich denke, das kann unmöglich meine Person sein. Nicht so, wie ich im Augenblick bin. Mein Kopf sagt mir, das bin ich. Das Mädchen, das da wie schwerelos im Wasser treibt, ist genauso hübsch wie die schlafende Schönheit in meiner Börse. Ich weiß, sie sollen mich darstellen, doch im Moment fällt es mir schwer, die beiden mit mir in Einklang zu bringen. Aber ich arbeite dran. Denn ich hab beschlossen, dass alle, die sich nicht an meinem Äußeren stören, doppelt zählen. Dauert nur noch, bis ich es komplett umsetzen kann. Vielleicht kann ich dann auch den einen oder anderen typisch weiblichen Aufreger übersehen."
„Das wäre schön, Arielle. Nicht für mich. Für dich", sagte er mit kratziger Stimme und sie schüttelte den Kopf.
„Nicht nur für mich. Ich weiß, dass ich dich im Moment mit meinen ‚Immer-Wieder-Zusammenbrüchen' fordere. Dass du dich abmühst, dass ich mich als schön empfinden kann. Jemand anderes hätte wohl schon längst das Handtuch geworfen. Doch du beantwortest mir doofe Fragen und lädst meine Freunde ein, damit es mir bessergeht. Nur, um dir einen Zeichentrickfilm mit uns anzusehen und immer wieder meine Tränen zu trocknen. Du hättest jemand Besseren verdient, das ist mir klar. Ich bin trotzdem froh, dass ich an deinem Fell hängengeblieben bin", erwiderte sie und bezog sich damit auf eine frühere Metapher, deren sie sich bedient hatten.
‚Als ich noch der Klassenlöwe gewesen war', dachte er automatisch und flüsterte gerührt: „Ich auch."
Sie nickte nur und da sie offenbar nichts weiter zu sagen hatte, zog er sie zurück an seine Brust und barg sein Gesicht in ihren duftenden Locken. Er konnte nicht sagen, wie viel ihm ihr Bekenntnis bedeutete. Denn es hieß, dass sie Fortschritte machten. Die Gefahr, dass sie nochmal auf den Gedanken kam, sich das Leben nehmen zu wollen, war vorerst gebannt. Jetzt galt es nur, diesen Aufwärtstrend beizubehalten, auch, wenn sie wieder zu arbeiten hatte. Aber dafür würden Lari, ihre Freunde und er schon sorgen.
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