33 - Schäfchenwolken
Sie kuschelte sich an ihn und spürte, wie er die Arme um sie schlang, nur, um sie noch ein bisschen näher zu ziehen. Sie liebte das so sehr. Liebte ihn so unfassbar. Sie war bestimmt nie so glücklich gewesen, wie mit ihm. Nicht nur, da sie völlig gesättigt in seinen Armen lag, sondern weil sie sich zudem nie so gefühlt hatte. Nur er konnte ihr diese Emotionen schenken. Die sie förmlich überrollten, wenn sie mit ihm zusammen war.
Es machte sie echt rührselig. Was scheiße war. Weil man nicht mit seinem Freund schlief und danach nur heulen wollte, da es einen so berührte, wie tief die Empfindungen gingen. Zumal man sich so geliebt, verstanden und gleichzeitig so verletzlich fühlte. Jetzt gerade war sie nur papierdünn. So sehr hatte er sie wieder geflasht. Er hatte einmal zu ihr gesagt, dass bei ihr die kleinen Zwischentöne zählten, und er fand sie immer.
„Was ist los, hm?", fragte er und sie hörte, dass er ein bisschen schläfrig war.
‚Trotzdem hat er gemerkt, wie ich mich fühle. Wie macht er das nur?', schoss es ihr durch den Kopf und sie sagte: „Nichts. Alles gut. Du bist müde."
„Ist egal, was ich bin, Anna. Irgendwo zwickt der Schuh. Also rück schon raus mit der Sprache", entschied er und sie seufzte.
„Ich hab gerade darüber nachgedacht, wie viel Glück ich habe, dass ich in dein Sichtfeld gerückt bin, Ace", gab sie zu und er hauchte ihr einen Kuss ins Haar.
Dann griff er nach der Wohndecke und breitete sie über ihr aus, weil er wohl gemerkt hatte, dass sie fröstelte. Sie wollte nicht darüber reden. Den Moment nicht zerstören. Es war ein schöner Augenblick, den sollte sie nicht verderben.
„Anna, ich sehe, wie sich deine Zahnräder im Kopf drehen und drehen und dass du melancholisch bist, also los raus damit", sagte er kaum hörbar und sie seufzte.
„Wie machst du das nur? Du kannst so tief blicken wie sonst keiner...", beschwerte sie sich und er zuckte mit den Schultern.
„Ich hatte jetzt knapp zwei Jahre Zeit, dich zu studieren, das ist Punkt eins. Und zweitens sehe ich dich, Anna. Live und in Farbe, mit allen Ecken und Kanten, mit den himmlischen Rundungen und verborgenen Gefühlen. Jeden Tag ein bisschen mehr. Vor allem Letztere. Also sträub dich nicht weiter...", erwiderte er sanft und sie seufzte.
„Mama hat heute Geburtstag", murmelte sie unwillig und sah, wie er erstaunt die Augenbrauen hob.
„Dann hast du bereits mit ihr telefoniert? Oder fragst du dich, ob du sie anrufen sollst? Da lautet die Antwort nämlich ja...", erklärte er und sie schüttelte den Kopf.
„Ich hab längst angerufen. Ich hab sie nicht erreicht. Also hab ich eine SMS geschickt. Sie hat sie gelesen. Aber nicht geantwortet. Das war vor knapp zehn Stunden. Etwa. Wer zählt schon mit", gab sie zu und er strich ihr zärtlich über die Wange.
„Klar, wer zählt schon mit", wiederholte er und sie sah, wie Betroffenheit in seinen Blick trat.
Da sie bemerkte, wie sich ihre Kehle zuschnürte und Tränen in ihre Augen steigen wollten, meinte sie: „Ja. Das wars. Du weißt, was du wissen wolltest."
„Nicht so hastig, Arielle. Wieso willst du das jetzt abtun?", fragte er und sie schnaubte.
„Weil wir gerade echt eine wunderschöne Zeit haben und ich nicht daran denke, sie zu zerstören", erwiderte sie scharf und sah, wie er sie anstarrte, ehe er langsam nickte.
„Ok", raunte er und zog sie zurück in seine Arme.
Er schwieg jetzt, aber dass er ihr durch ihre Locken streichelte, machte es ihr nicht leichter, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sie wollte nicht heulen, verdammt. Doch das Schweigen war gerade so laut, dass ihr die Ohren schmerzten.
„Wenn ich nur wüsste, was ich falschgemacht hab, dass sie mich so ignoriert. Sie kann nicht immer noch sauer sein, weil ich mich letztes Jahr nicht bei Hartmut entschuldigt habe, oder? War das mein Fehler? Weil ich einmal für mich eingestanden bin? Weil ich es nicht mehr ertragen konnte, mich für Dinge zu entschuldigen, die ich nicht getan habe und ich mich im Recht fühlte? Wieso bestraft sie mich weiterhin? Sie hätte doch zumindest zurückschreiben können. Flo, vorher da in der Küche, da hab ich auch darüber nachgedacht, dass ich ja nicht nur Lina verhunzt hab. Das haben wir besprochen, ich weiß. Ich denke, du hast Recht. Sie wollte gesehen werden, deswegen hat sie Scheiße gebaut. Aber heißt das jetzt, dass sie mich künftig nur noch wahrnimmt, wenn ich Mist baue?", fragte sie und brach doch in Tränen aus.
Sie wischte sie hastig weg und erklärte: „Ich meine, sie hat mich vorher auch kaum mehr zur Notiz genommen. Obwohl ich versucht hab, das irgendwie hinzubiegen, dass nicht alles auseinanderbricht. Aber ganz allein kann ich es nicht. Wenn ich die Hand ausstrecke, muss da jemand sein, der diese ergreift. Ich wollte nicht mal einen Finger vorstrecken, weil ich EINMAL diejenige sein wollte, die einfach nur zugreifen kann. Aber ich hab mich überwunden und wieder kommt nichts. Es tut weh. Was, wenn ich genauso bin, falls wir ein Kind bekommen? Das hab ich mich vorher auch gefragt..."
„So wärst du nicht...", erklärte er und sie sah ihn lange an.
‚Er klingt so überzeugt', dachte sie und hakte nach: „Was macht dich so sicher? Wie kannst du feststellen, dass ich die Mutter deiner Kinder sein soll, wenn du meine kennst? Die sich verkackte 13 Monate nicht großartig meldet. Versteh mich nicht falsch. Ich steh zu meinem Wort: Mit dir trau ich mich tatsächlich den Gedanken anzudenken. Aber trotzdem. Dann fällt mir wieder ein, was ich eventuell geerbt hab, und das willst du Kindern antun?"
„Ja, das will ich, Anna. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass du nie so wärst. Das weiß ich genauso, wie den Fakt, dass nach einer Nacht ein Tag folgt. Und nach eins folgt zwei. Du könntest dein Kind nicht ignorieren, Arielle. Weil du Fünfjährigen komplizierte Themen erklärst, indem du es auf den kleinsten Nenner bringst. Da du so ein verdammt großes Herz hast, Anna. Denn auch, wenn du versuchst, deins zu verschließen, hab ich in dem Moment bemerkt, als Jonah dich ansah, dass es ihm zugeflogen ist. Weil du ihm das Gefühl gegeben hast, alles, was er sagte, hat Bestand. Nicht zuletzt deshalb, da du nie so wahrgenommen wurdest, wie du es verdient hättest, Anna", erklärte er und sie seufzte.
„Und was ist, wenn ich das mit uns vergeige?", fragte sie leise und er runzelte die Stirn.
„Wie kommst du darauf?", erkundigte er sich und sie zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Das mit Anton hab ich auch an die Wand gefahren...", fing sie an und unterbrach sich, als pure Fassungslosigkeit sich in seinem Gesicht spiegelte.
„Wie bitte? Anna, er hat sich geschämt für dich! Das hast nicht du an die Wand gefahren!", rief er aus und sie zuckte mit den Schultern.
„Man kann das auch anders sehen. Ich hätte mich ja mit dem zufriedengeben können, was er bot, oder?", erwiderte sie verhalten und Flo schnaubte.
„Ja, klar. Hättest du. Dann hätte nicht nur deine Mutter dich nicht gesehen, sondern auch dein Freund. Du wolltest einmal mit ihm auf eine Party und er wollte sich nicht mit dir sehen lassen! Er hat deine Bedürfnisse genauso ignoriert und ist darüber hinweggegangen wie deine Mutter, verdammt!", erklärte er heftig und sie sah, wie sehr ihn der Gedanke aufregte, dass sie sich ebenfalls Verantwortung dafür einräumte, dass die Beziehung zu ihrem Ex gescheitert war.
„Du hast Recht. Er hätte sich nicht für mich schämen dürfen. Ich hab mich auch nicht für ihn geschämt. Er war genauso wenig perfekt mit seinem ... egal...", brach sie erschrocken ab und wich Flos Blick aus.
„Was meinst du damit, Anna?", erkundigte er sich und sie hörte, dass er sich beruhigt hatte.
„Egal. Du willst nicht über meinen Ex sprechen...", erwiderte sie und er schüttelte den Kopf.
„Doch, das will ich. Genau jetzt", entschied er und hob ihr Kinn leicht an, so dass sie ihn ansehen musste.
Sie verdrehte die Augen, weil sie die Unnachgiebigkeit in seinem Blick wahrnahm und erzählte: „Er hatte einen Gruselfuß. So hat er ihn genannt. Er sah wirklich ein bisschen gruselig aus. Doch er konnte nichts dafür. Als ich ihn bei dem Tanzkurs kennenlernte, hab ich nur gemerkt, dass er hinkt. Das war's. Aber später, na ja, als wir uns das erste Mal ausgezogen haben, so komplett, da wurde er plötzlich nervös. Er hat mir gesagt, ich bin das erste Mädchen, das den Gruselfuß zu sehen bekommt. Etwa ein Dreivierteljahr bevor wir uns kennenlernten, hatte er einen Autounfall. Deswegen war er überhaupt noch an der Schule. Er hat in seinem Abschlussjahr zu viel verpasst. Du hast mich gefragt, warum ich immer alle Schlüssel aus den Hosentaschen hole, bevor ich mich ans Steuer setze. Das ist wegen ihm. Weil er am Oberschenkel eine tiefe Narbe hatte. Da hat sich sein Schlüssel beim Aufprall hineingebohrt. Ein paar Millimeter neben der Schlagader."
Sie unterbrach sich, zuckte mit den Schultern, während Flo sie nachdenklich ansah und erklärte: „Na ja, jedenfalls fuhr er nicht gern Auto deswegen. Er hatte keine Schuld. Er hat mir erzählt, dass er auf einer Landstraße mit einer uneinsehbaren Kurve war und als er hineinfuhr, kam ihm plötzlich einer in seiner Spur entgegen. Der hatte einen Anderen überholt. In der Kurve. Der ist frontal in ihn hineingefahren. Der, den dieser Fahrer überholt hatte, hat sein Heck getroffen, ist in den Graben, hat sich überschlagen und war tot. Der Unfallverursacher hatte 1,8 Promille. Anton wurde eingeklemmt. Falls das Auto nicht erst ein paar Monate alt gewesen wäre, hätte er keine Chance gehabt, denn alle Airbags hatten ausgelöst. Das war auch ein Grund, warum ich mir einen Neuwagen gekauft hab, wenn ich ehrlich bin. Er hat geweint, als er mir das erzählte."
„Kann ich mir vorstellen", gab Flo leise zu und sie nickte.
„Er hatte Glück. Er hat sich das Sprunggelenk gebrochen. Na ja, das ist untertrieben. Es war zertrümmert und zersplittert. Er musste operiert werden. Die Ärzte versuchten, das zu flicken. Es ging nicht. War zu kaputt. Sie mussten das Gelenk versteifen. Aber das machte seinen Fuß nicht zum Gruselfuß. Das hatte einen anderen Grund: Die Wunde verheilte nicht. Er hatte Pech. Er hat sich nekrotisierende Bakterien eingefangen, die das Gewebe in der Wundhöhle absterben ließen. Er hat gesagt, das waren Schmerzen, die sogar Morphin nur lindern konnte und es wäre so eklig, wie es sich anhört. Alle drei Tage lag er unterm Messer, wo die Verletzung unter Vollnarkose gereinigt wurde. Es stand eine Zeitlang auf der Kippe, ob sie ihm das Bein unterhalb des Knies amputieren müssen. Er hat es geschafft. Die Infektion ließ sich eindämmen", erzählte sie weiter und Flo schluckte.
Sie nickte erneut und murmelte: „Es dauerte zwei Monate. Doch es waren irreparable Schäden entstanden: Er hatte eine Wade, die ganz normal war und eine, die schmaler war, mit einer großen Narbe. Da haben sie einen Muskelstrang herausgenommen, damit er kein Loch am Fußknöchel hatte. Der Muskel hat nur eine kosmetische Funktion. Um den Schaden zu verdecken, den die Infektion angerichtet hatte. Zu dem Zweck haben sie ihm zusätzlich an der Rückseite des Oberschenkels auch Haut entnommen und über das Gewebe transplantiert. Er hatte wirklich gelitten. Seine Beine waren voll mit Narben. Sein Sprunggelenk sah echt gruselig aus. Das Transplantat war nicht wie der Rest, verstehst du? Es war dunkler und die Oberfläche war ein bisschen schrumplig. Er hat da auch nichts gefühlt. Die Nerven haben sich nicht regenerieren können. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich darum für ihn zu schämen. Ich glaube, ich hab mich zu sicher gewähnt. Es war so klar für mich, dass er sich niemals für mich genieren würde. Na ja, ich hab mich getäuscht. Deswegen hat es womöglich so wehgetan. Aber er war genauso wenig perfekt wie ich. Er hatte nicht das Recht, sich für mich zu schämen."
„Das hätte er auch nicht tun dürfen, falls er selbst keine äußerlichen Makel gehabt hätte, Arielle. Man liebt einen Menschen entweder so, wie er ist, oder man lässt es. Ein Dazwischen gibt es nicht", stellte er fest und sie zuckte mit den Schultern.
„Ja, ich denke, so sollte es sein", erwiderte sie und merkte, dass der Schmerz deswegen nicht mehr so heftig war wie noch knapp eineinhalb Jahre zuvor, also seufzte sie und barg den Kopf wieder an Flos Brust.
‚Er ist es, was zählt. Ich sollte die Vergangenheit ruhenlassen', erinnerte sie sich und kuschelte sich tiefer in seinen Arm.
„So ist es auch, Anna. Ich hab mich nie für dich geschämt. Ich wüsste nicht, wieso...", gab er zu und sie schnaubte.
„Weil du den Flo-Filter hast...", erwiderte sie und jetzt verdrehte er gutmütig die Augen.
Dann hob er erneut ihr Kinn an und erklärte: „Nein, weil du schön bist. Auch wenn ich das nicht mehr sagen soll. Aber ich empfinde das so."
„Ich versteh nicht warum, das ist das Problem, denk ich. Falls ich in den Spiegel schaue, sehe ich den Bauch, die Hüften, die Schwangerschaftsstreifen, ohne je schwanger gewesen zu sein, die Dellen in den Oberschenkeln und natürlich die Oberweite, die etwas Abwärtstrend aufweist. Was bemerkst du? Du kannst doch all diese Dinge nicht Nicht-Sehen. Wie machst du das? Ich frag jetzt dich, denn ganz ehrlich, Lari oder einem der Anderen werde ich mich nie im Evakostüm zeigen", stellte sie fest und registrierte, dass seine Augen noch an ihrer Oberweite hingen, ehe er sich räusperte.
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