22 - Windheulen
„Nein ... nicht ok. Alles ... so schwer. Ich versuche es. Sie hassen mich. Verurteilen mich. Fehler ... so viele. Dumme Fehler, weil ich Angst hab, was falsch zu machen. Sie sind nicht zufrieden. Nicht mehr. Rüsseltier. Dumm und gefräßig. Zu nichts zu gebrauchen. Ich bekomme Ärger, wenn ich zurückkomme. Weil ich meine Arbeit nicht schaffen kann. Geht nicht mehr. So viel zu tun, keine Luft. Nur Ärger und Demütigungen. Sie hassen mich. Versteh ich. Ich hasse mich auch. Wie meine Mama, die mag mich auch nicht. Ich bin ihr egal...", flüsterte Anna aufgelöst in den Armen seiner Mutter und die sah ihn betroffen an.
Er war ebenfalls erschüttert. Sie hatte ihn nicht mit Details versorgt. Sie nannten sie Rüsseltier? Welche Arbeit machte sie, dass sie diese nicht mehr schaffen würde, nur weil sie drei Wochen ausfiel? Ok, drei Wochen waren lang, aber wenn er sich seine Freundin jetzt so ansah, in diesem Augenblick, kam er zu dem Schluss, dass diese ohnehin knapp bemessen waren. Da sie in den Armen seiner Mutter die Fassung so verlor.
„Ich bin zu nichts zu gebrauchen. Sagen sie. Sie haben Recht. Nicht mal meine Mama hat mich lieb. Wer soll mich schon liebhaben, wenn nicht mal meine Mama mich liebhat?", hauchte Anna gerade und seine Ma schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Das ist nicht wahr. Sie hat dich lieb. Wie sollte sie nicht? Du bist ihr Baby...", fing seine Ma an, doch seine Freundin schluchzte noch mehr.
Wieder tauschte seine Mutter einen betretenen Blick mit ihm, während Anna hauchte: „Wenn das so wäre, wieso schiebt sie mich zu euch ab? Warum lässt sie mich allein seitdem?"
„Ich weiß es nicht, Schatz. Das kann ich nur mutmaßen, weißt du? Ich glaube, sie schämt sich. Ich denke nicht, dass sie dich abschieben wollte, Anna. Ich vermute, sie wollte dich beschützen. Weil es zwischen dir und ihrem Mann immer wieder gekracht hat und sie aus irgendwelchen Gründen nicht dir den Rücken stärken konnte. Darum wollte sie wenigstens dich aus der Schusslinie bringen, daran glaube ich ganz fest. Genauso, wie ich denke, dass sie sich aus dem gleichen Grunde einfach furchtbar schämt. Weil sie nicht zu ihren Töchtern, sondern zu ihrem Mann stand. Ich vermute, sie hat Schuldgefühle, weiß jedoch nicht, wie sie da heraus kommt...", erwiderte diese und Anna seufzte.
„Ich hab alles für sie getan. Ich hab Papa nichts gesagt, ich hab ihr den Rücken freigehalten...", schluchzte seine Freundin und ihm wurde noch enger in der Kehle.
„Ich weiß, Schatz. Du warst so großartig und das bist du immer noch. Ich weiß das. WIR wissen das. Es tut mir so leid, Anna, dass die Idioten in der Arbeit offenbar nicht sehen, was für eine tolle Frau in dir steckt. Wie loyal und fleißig du bist. Wie liebenswert und fürsorglich. Wie pflichtbewusst und treu. Aber wir zeigen es ihnen. So dürfen sie nicht mit der Freundin meines Sohnes und der jungen Erwachsenen umgehen, die mir wie eine Tochter ist. Das hast du nicht verdient. Eigentlich tun deine Kollegen mir leid, denn sie verpassen es, eine wirklich liebenswürdige Person kennenzulernen. Ich mochte dich vom ersten Tag an, an dem ich dich kennenlernen durfte, wusstest du das?", erwiderte seine Mutter und er beobachtete, wie Anna die Augen aufriss und den Kopf schüttelte.
Seine Ma lächelte und wischte seiner Freundin seelenruhig die Tränen vom Gesicht, ehe sie ihren Kopf wieder an ihrer Schulter bettete und ihr Blick bekümmert über die Fotos und die Schnapsflaschen flog. Er konnte ihr an der Stirn ablesen, dass sie ebenfalls mit Anna litt.
Doch sie fing sich und erklärte: „Ja, wirklich. Du hast bei uns am Abendbrottisch gesessen und ich hab dir angesehen, wie du dich gewundert hast, weil Flo und ich so miteinander reden. Ich hab auch gesehen, wie sehr du dich für ihn gefreut hast, doch genauso, wie in deinem Blick kurz Kummer aufzuckte. Da hab ich mir gedacht, dass dieses Mädchen ein Herz aus Gold hat. Um ehrlich zu sein, hab ich mir gewünscht, dass mein Sohn das ebenfalls erkennt. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er das tut. Er ist schlau, wenn er möchte. Außerdem war er zu meinem Glück ganz fasziniert von dem Mädchen, das so still unser Treiben beobachtet hat. Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, dass er sein Herz an dich verloren hat, Anna. Denn du hast ihn zurückgeholt."
Er starrte seine Mutter verwirrt an, die ihn anlächelte und fortfuhr: „Aus diesem Loch, in das er bei dem Tod seines Papas gefallen war. Er war nur halb draußen. Du hast ihm auf den letzten Metern geholfen. Bevor er dich gekannt hat, hat er nicht mehr so gelacht, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Er hat sich öfter zurückgezogen, obwohl er immer für mich da war, das kann ich nicht abstreiten. Aber er war oft da und doch abwesend. Ich denke, ihr habt euch gesucht und gefunden. Also trotz des Fakts, dass ihr euch nicht wirklich gesucht habt, wie ich das mitbekommen hab. Doch ihr seid wie, hm, zwei Hälften von etwas Ganzem. Falls du demnach den Gedanken haben solltest, du wärst nicht gut genug für meinen Sohn, dann lass dir eines gesagt sein, Anna: Ich bin so stolz auf euch beide. Ich zähle dich fest zu meiner Familie und das wird sich nie wieder ändern, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten würde, dass ihr euch irgendwann trennt. Du hast mir meine Raupe wiedergegeben. Mir war es nicht gelungen, ihn aus seinem Versteck hervorzulocken. Nicht komplett. Ich hab mich noch nie dafür bedankt."
Er merkte, wie sich nun auch bei ihm Tränen sammelten, während seine Freundin schluchzte: „Ist das dein Ernst?"
„Mein voller Ernst. Mit sowas spaßt man nicht. Anna, du bist das Beste, was Florian passieren konnte. Weißt du, Krisen gibt es in jeder Beziehung. Man hat Streit, man versöhnt sich und macht es besser. Im Idealfall. Man hält bedingungslos zueinander, solange da noch eine winzig kleine Glut ist, die man entfachen könnte. Ihr seid so jung und lebt diese Weisheit so gut. Und das mit deiner Arbeit musst du mir näher erklären. Beim Abendessen. Ich koche. Ich war auf dem Weg hierher noch fix am Markt und hab frische Zutaten eingekauft. Ich dachte an sowas Tröstliches wie Spaghetti. Ist das ok?", plapperte seine Ma weiter und Anna starrte sie an.
„Ich kann die nächsten fünf Wochen nichts essen. Ich hab so zugenommen...", wisperte sie offenbar beschämt und er sah, wie seine Mutter die Stirn runzelte.
„Ach ja? Ist mir nicht aufgefallen. Aber ein bisschen essen musst du trotzdem, ok, Schatz? Damit wir es deinen Kollegen zeigen können", stellte seine Ma fest und Anna sah auf den Boden.
„Zwei von ihnen haben sich unterhalten, ob sowas wie ich, wohl einen Freund haben könnte. Sie kamen überein, dass dem nicht so sein kann, weil mich ja keiner ... äh ... anfassen würde...", stammelte seine Freundin und wurde rot, während er sie fassungslos ansah.
„Dumm und ignorant, also? Das sind die Besten. Mach dir nichts draus. Wahre Schönheit kommt von innen, Anna. Der Rest verfällt wie eine Ruine. Doch innere Schönheit bleibt bestehen, Schatz. Davon abgesehen, dass sie ohnehin im Auge des Betrachters liegt. So, das waren jetzt genug Phrasen. Die alle stimmen. Idioten. IQ von drei Metern Feldweg. Ich will nicht gehässig werden. Obwohl, einen hab ich frei: Ich stelle einen Denkanstoß in den Raum. Müssen sie sich profilieren, weil sie irgendwas kompensieren müssen? Womöglich. Ok, ich verschwinde in der Küche. Flo, du bist dran. Sag deiner hinreißenden Freundin, dass sie wirklich hübsch ist und du sie sexy findest...", entschied seine Mutter und er verdrehte die Augen, ehe er ihr frech die Zunge herausstreckte.
Das brachte seine Ma zum Lachen und an Annas Mundwinkeln zuckte zumindest ein minimales Lächeln. Das war etwas, auf dem man aufbauen konnte. Es war ein Anfang. Er beobachtete, wie seine Mutter den Raum verließ, und kam ihrer Anweisung sofort nach. Er drückte seiner Liebsten die Lippen auf ihre und murmelte, dass er den Worten seiner Ma nur zustimmen konnte, und genoss es, dass seine Freundin seufzend den Kopf an seine Brust legte.
„Stimmt es?", fragte sie und er sah sie irritiert an, weswegen Anna anfügte: „Dass ich der Grund bin, dass du die letzten Schritte aus dem Loch gemacht hast?"
„Hm, ja. Ich denke, unsere Abenteuer hatten einen großen Anteil daran, genauso wie du. Wobei mir das bis eben unklar war. Aber wenn ich über Mas Worte nachdenke, hat sie Recht. Du hast mein Leben von der ersten Sekunde auf den Kopf gestellt, an dem wir näher in Kontakt kamen. Auf die gute Art und Weise", gab er zu und sie seufzte abermals.
„Vielleicht bin ich dann doch nicht egoistisch, wenn ich mir wünsche, dass du bleibst", murmelte sie und er hob ihr Kinn an.
Er strich sanft über ihre Wange und erklärte: „Nein, Anna. Ich möchte bleiben. Ich hab vorher geflennt, als ich Ma anrief. Wahrscheinlich hat sie deswegen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um hierher zu kommen. Ich brauche dich genauso wie du mich. Ich glaube, das macht uns aus. Ohne dich bin ich wieder ein Zombie. Das hab ich im letzten Jahr gemerkt. Also: Egal, was du denken magst, mich wirst du nicht los. Auch nicht, falls ich mir mal eine Auszeit genehmige, wobei das überzogen war. Ich wollte dich nicht ängstigen. Es tut mir leid."
„Schon ok. Ich wollte dich auch nicht verletzen, indem ich die Klappe halte", wisperte sie und er zuckte mit den Schultern.
„Schon vergessen. Scheiße, jetzt hab ich Hunger. Wir haben noch gar nichts gegessen", wechselte er das Thema und sah, wie sie sachte lächelte.
„Du hast immer Hunger. Aber es stimmt. Wir haben nicht gegessen", erklärte sie und er küsste sie nochmal, weil er sich so freute, dass sie etwas beruhigter war.
*
Sie hatten sich gerade zum Essen hingesetzt, als es Sturm klingelte. Sie fing den irritierten Blick von Gretel auf und Flo sah ebenfalls verdutzt aus der Wäsche. Er erhob sich jedoch sofort und scherzte, er würde mal gucken, wer denn so dringend um eine Audienz bat. Kurz darauf hörte sie Laris völlig aufgelöste Stimme durch den Flur hallen.
Gretel sah sie weiterhin etwas geplättet an, also sagte sie: „Das ist meine Freundin Larissa."
Wie aufs Stichwort erschien Lari auch im Wohnzimmer, wo sie am Esstisch saßen, und stürmte auf sie zu. Nur, um sie in ihre Arme zu reißen. Sie warf Flo einen hilfesuchenden Blick zu, der leicht lächelte und sah zu Gretel, die ebenfalls grinste.
„Anna, Mäusle! Du kannst mir doch nicht so einen Kackscheißschrecken einjagen! Oh, ihr seid beim Essen. Ich wär schon früher gekommen, um nach dir zu sehen, aber ich konnte nicht weg, leider. Massimo hatte Schicht und ich ... na ja, konnte nicht. Weil ausgerechnet dieses Wochenende Ela und Thomaso weggefahren sind und meine Eltern auch und ich doch Jonah hatte! Genau dann kommt so eine beängstigende Kackscheiß-Nachricht! Oh, Entschuldigung, immer noch beim Essen. Da sagt man sowas nicht. Aber ich bin fast gestorben vor Angst. Wirklich. Ich wollte Jonah schon mitnehmen, doch dann hatte ich Schiss, dass ich hier was entdecke, was ein Fünfjähriger nicht sehen sollte und so. Mach sowas nie nie wieder, Anna. Bitte. Sonst dreh ich durch und bekomme sogar noch graue Haare und Falten! Mit Anfang 20! Ok, fast Mitte 20, aber wer nimmt es schon so genau? 20 D. Passt. Wieso schreibst du mir so einen Müll?", plapperte Lari und sie sah, wie Gretel sich auf die Lippe biss, um nicht loszulachen.
„Äh, oh, äh, ok? Tut mir leid. Ich, äh, wollte dich nicht ängstigen. Aber, hm, äh, ich weiß leider nicht, was ich geschrieben hab. Ich, äh, war das Wochenende sozusagen, also, äh, ich war total betrunken und hab einen Komplettfilmriss. Also, äh, egal, was ich getextet hab, es tut mir leid, ok? Und, äh, wer ist Jonah?", fragte sie stammelnd und Lari sah sie fassungslos an.
Dann seufzte ihre Freundin, ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen und erklärte: „Du hast mir geschrieben, da Flo dich nun verlassen hätte, könntest du auch nur noch von der Erdoberfläche verschwinden. Weil alles ka... blöd wäre und du dich hasst und alle dich hassen. Und ich hab dir zurückgeschrieben und dich angerufen, aber du bist nicht dran gegangen! Ach ja, Jonah ist mein Sohn. Wieso hast du nicht zurückgetextet?"
„Du hast einen Sohn?", rief sie aus und Lari nickte.
„Jaha. Ist jetzt nicht Thema. Deine blöde SMS ist Thema, Anna! Wie kommst du darauf, dass alle dich hassen? Und warum hasst du dich selbst und weshalb schreibst du, Flo hätte dich verlassen, wenn er mir die Tür öffnet und mit einer Fremden am Tisch sitzt? Ich bin total unhöflich. Ich heiße Larissa und ich bin hier, um mich zu versichern, dass es Anna gutgeht", wandte ihre Freundin sich zu Gretel und die grinste.
„Freut mich. Ich bin Flos Mutter. Ich heiße Gretel und bin da, um dafür zu sorgen, dass es Anna bald wieder gutgeht. Hast du Hunger? Es ist genug da", erklärte Flos Mama und Lari lächelte.
„Ich hab immer Hunger, also nehme ich das Angebot gerne an. Also: Anna?", stellte Larissa fest und sie war gerade noch damit beschäftigt, zu verpacken, dass ihre Freundin Mutter war.
„Was?", fragte sie deshalb und Lari schnaubte.
„Warum du mir sowas schreibst, Anna! Ich war wirklich völlig fertig! Was ist passiert?", erkundigte sich Larissa und sie nickte.
„Ja, äh, also, äh, wie gesagt, ich war betrunken. Ich hab getrunken, weil ich dachte, Flo hat mich verlassen, das war aber nur ein Missverständnis, er ist gestern wieder zurückgekommen. Äh, ich hab nicht geantwortet, weil ich offenbar mit meinem Telefon den Spiegel im Bad zertrümmert hab und darum ist es hinüber und ich konnte dir nicht antworten. Äh, hab ich was vergessen? Ach ja. Ich hasse mich, weil es alle tun. Ende der Geschichte. Jetzt wieder zurück. Du hast einen Sohn? Der ist fünf?", hakte sie nach und Lari prustete die Wangen auf.
„Ok. Das mit ‚alle hassen mich', diskutieren wir noch aus. Aber du machst jetzt wieder zu, also: Ich zeig dir meins, du zeigst mir deins? Du weißt schon, so wie man das mit Jungs anfangs macht?", fragte ihre Freundin und sie hörte, wie Flo sich fast verschluckte, ehe er kaum vernehmlich lachte.
Auch Gretel grinste aufs Neue, während sie Larissa einen Teller und Besteck vor die Nase stellte und ihr kräftig Spaghetti mit Gemüsesoße auftat. Ihre Freundin bedankte sich mit strahlenden Augen und stöhnte, als sie sich einen Bissen zwischen die Lippen schob und offenbar darauf wartete, dass sie antwortete.
„Von mir aus", sagte sie unwillig und Larissa strahlte sie an.
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