2 - Windwehen
Flo stand schon im Anzug am Fuß der Treppe und unterhielt sich mit seiner Ma, die sich räusperte, als diese sie entdeckte. Sofort wirbelte Florian zu ihr herum und sie sah, wie ihm erst der Mund offenstand, ehe sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Sie wollte Gretel sagen, sie solle das lassen, aber das Foto war längst geschossen. Im Grunde war es ohnehin egal. Jetzt zählte nur der Ausdruck in den Augen ihres Freundes, der sie mit seinem Blick förmlich liebkoste.
‚Als hätte er noch nie etwas Begehrenswerteres gesehen', dachte sie und als sie am Fuß der Treppe angekommen war, schlang er seine langen Arme um ihre Taille und flüsterte: „Anna, du bist wunderschön."
„Danke, Ace. Du siehst ziemlich gut in einem Anzug aus", erklärte sie und merkte, wie er mit den Schultern zuckte.
„Nicht halb so gut wie du in diesem Kleid, Anna", murmelte er und legte seine Hand in ihren Nacken, um sie näher zu ziehen.
Wie sie das liebte. Wenn seine Lippen so sanft über ihre strichen und seine Fingerspitzen unterdessen unter ihre schulterlangen Locken glitten, um sachte ihren Nacken zu streicheln oder zu umfassen. Je nachdem wie hoch das Level der Leidenschaft war, dachte sie und genoss die zärtliche Berührung, ehe er seine Stirn an ihre legte und sie nochmal auf die Nase küsste.
Sie wusste, dass er es ehrlich meinte. So sah er sie. Aber sie erblickte meistens nur ein dickes Mädchen neben einem sehr attraktiven jungen Mann. Bei dem man durchs Fußballspielen eine sportlich drahtige Figur erahnen konnte, falls er Klamotten anhatte. Zog er sein Shirt aus, konnte man das angedeutete Sixpack sehen, das sich darunter verbarg. Sie konnte es oft immer noch nicht glauben, dass sie – Anna – sich so einen Traumtyp geangelt hatte. Nicht in ihren kühnsten Träumen hätte sie gehofft, dass jemand wie Flo überhaupt Notiz von ihr nehmen könnte.
„Bist du bereit, Anna?", raunte er jetzt und sie bejahte, obwohl sie den Kopf schüttelte.
Er sah sie irritiert an, darum fügte sie eilig an: „Nicht so wirklich. Aber wird schon. Du bist ja da und findest mich ok, wenn die anderen sagen, ich seh aus wie eine Wurst in der Pelle. Mit dir werde ich also auch dieses Abenteuer bestehen, oder?"
„Liebes, niemand wird auf den Gedanken kommen, dich mit irgendetwas zu verwechseln. Du siehst toll aus. Aber jetzt sollten wir los", entschied Gretel lächelnd und war zur Tür hinaus.
Ihre Augen flogen zu Florian, der sie weiterhin anstrahlte und meinte: „Ma hat Recht. Du bist bildschön. Warst du schon immer."
Dann legten sich seine Lippen nochmal auf ihre und sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und ihr ganz warm wurde. Diese Macht hatte er über sie. Immer noch. Obwohl sie schon seit einem Jahr ein Paar waren. Wo war die Zeit nur hingekommen?
„Komm, Anna. Lass uns gehen. Ich bin ein Glückspilz. Ich tauche mit dem besten Mädchen dort auf", erklärte Flo und sie wollte ihm widersprechen.
Aber dann überlegte sie es sich anders. Das war wohl seine Meinung. Die musste sich nicht mit ihrer decken. Sie wollte nur den Abend hinter sich bringen, denn anders als Flo offenbar, wusste sie, was auf sie zukommen würde. Dass jeder die dicke Anna ansehen und sie nach ihrem Äußeren beurteilen würde. Sie hoffte, dass sie nicht zu viele Angriffspunkte lieferte.
Dann wäre sie schon zufrieden, dachte sie und schlüpfte in die hohen Schuhe, die sie auch extra für diesen Abend erstanden hatte. Jungs hatten es da bedeutend leichter. Flo hatte schlicht seine weißen Sneaker als Stilbruch zu seiner schwarzen Anzughose an. Doch sie konnte unter ein Kleid schlecht Turnschuhe anziehen. Aber na ja. So war es eben.
Sie bemerkte, wie er schluckte, als seine Augen nochmal wohlwollend über ihre gepimpte Silhouette strichen. Es fühlte sich fast an, als würde er sie streicheln. Sofort bekam sie eine sachte Gänsehaut.
‚Du hast sie nicht alle', sagte sie sich und folgte ihm schweigend nach draußen, um ins Auto zu steigen.
***
Eine Stunde später bemerkte er, wie Anna sich immer weiter zurückzog. Er wusste, wie verunsichert sie wegen des Kleides gewesen war, auch wenn sie nicht sonderlich viel darüber gesprochen hatte, als sie eins gesucht hatte. Seine Freundin trug sonst Jeans und Shirts. Weite Tuniken und so. Hießen die so? So Walle-Dinger einfach.
Demnach war es für Anna ohnehin ein großer Schritt gewesen, sich so ein Kleid zu kaufen und er fand sie sah phantastisch darin aus. Aber offenbar sahen das nicht alle so. Denn Saskias bescheuerte Eltern hatten ihrer Tochter zugeflüstert, wie er nach ihr nur an so ein „Monstrum" geraten konnte. Er hatte es gehört. Seine Ma ebenfalls und Anna sowieso. Seitdem hatte sie still auf dem Platz neben Saskias Mutter Stellung bezogen und schwieg.
Er hätte sie in Schutz nehmen sollen. Aber er wusste, dass sie das noch weniger mochte, weil es zusätzliches Interesse auf sie lenkte. Also hatte er ihr nur ins Ohr geflüstert, dass nicht sie das Monstrum war, sondern Saskias Mutter. Sie hatte ihn nur angesehen und genickt. Sonst nichts. Jetzt musste sie auch noch neben dieser sitzen und sollte essen. Er sah förmlich, wie es in ihr arbeitete.
Er warf seiner Ma einen Blick zu, die ebenso schockiert aussah, wie er sich fühlte. Eigentlich sollten ihn diese Dinge nicht wundern. Wie intolerant die Menschen waren, erlebte er nun seit über einem Jahr. Seit er mit Anna dieses Schulprojekt gehabt hatte.
Er warf seiner brünetten Ex mit den grauen Augen einen warnenden Blick zu, als diese sagte: „Fetti ... äh, ich meine Anna ... möchtest du noch Brotstangen, bis das Essen kommt? Ich vermeide Kohlenhydrate ja, aber du magst sie bestimmt, oder?"
Er wollte ihr wehtun. So richtig. Wieso musste Saskia ständig auf Anna herumhacken? Seine Freundin hatte seiner Ex nie etwas getan.
„Nein, danke. Ich hab meine zwölf Ochsen und fünf Elefanten heute schon verdrückt. Die nächste Hauptmahlzeit gibt es erst in einer halben Stunde. Bis dahin halte ich noch aus, so schwer es auch wird", murmelte seine Freundin gefasst und er bemerkte grinsend, wie Saskia die Mimik entglitt.
„Gut gekontert, Anna", stellte Erik fest, der sein bester Kumpel und Saskias Liebster war, nachdem sein Freund sich endlich getraut hatte, seinen Gefühlen für diese zu folgen.
Er warf seiner ehemaligen Nummer zwei einen Blick zu und bemerkte, dass dessen grüne Augen amüsiert funkelten. Die lagen in einem kantigen Gesicht, das von braunem kurzen Haar umrahmt war. Eriks Mund hatte sich zu einem Lächeln verzogen. Immerhin beteiligte sich dieser nicht mehr an den Gemeinheiten über Anna. Im Gegenteil.
Oft nahm sein Kumpel sie in Schutz, auch wenn er wusste, dass seine Freundin nicht in Eriks Beuteschema passte, akzeptierte er Anna wenigstens so, wie sie war. Aber erst, seit dieser begriffen hatte, wie sehr seine Liebste unter den Hänseleien litt. Immerhin hatte sie sich im letzten Jahr Fatburner im Ausland besorgt und wäre an den Nebenwirkungen dieser Pillen fast gestorben. Ab da hatte bei seinem Kumpel ein Umdenken begonnen.
Sein Freund drehte sich zu Saskia und entschied: „Sei nicht so garstig, Sassi. Du willst die Brotstangen nur zur Seite stellen, damit du nicht ständig in Versuchung gerätst, dir eine zu nehmen. Wozu du Kohlenhydrate meidest, kapier ich auch nicht. Passt doch alles..."
„Ja, aber damit so etwas so bleibt, braucht man eine gewisse Selbstdisziplin", schaltete sich nun Saskias Mutter ein und sah seine Ma um Bestätigung heischend an.
„Denken Sie? Ich finde, man muss sein Leben genießen. Es ist zu kurz, um sich Gedanken über Kalorien zu machen. Ich denke es ist beängstigend, wie sehr sich unsere Gesellschaft mit Äußerlichkeiten beschäftigt, statt mit dem Wesen eines Menschen. Zudem hab ich bisher noch keine einzige Person kennengelernt, an der ich nichts Ansprechendes entdeckt habe und wenn es nur die Lachfältchen um die Augen waren."
Er bemerkte, wie Saskias Mutter seine ungläubig ansah, während sie augenzwinkernd erklärte: „Der Mensch scheint viel zu lachen und Humor zu haben. Sowas finde ich attraktiver, als einen Arsch, mit dem man Nüsse knacken kann. Aber das ist alles eine Sache der Anschauung. Außerdem wissen gerade wir vom älteren Semester, dass Schönheit vergänglich ist, oder? Wie auch immer."
„Ich nehm sie gerne. Nachdem ich heute um meine Pannacotta betrogen wurde, weil Florian und Anna beschlossen haben, das Kauen an Salatblättern würde reichen", erklärte seine Ma und er wollte sie küssen, ehe er sah, wie Saskias Mutter sie verdattert anschaute.
Besonders als seine Mama herzhaft in eine der Brotstangen biss und mit vollem Mund anfügte: „Ziemlich fade die Dinger. Die hätten auch Butter dazustellen können."
Er drückte stattdessen Annas Hand und ihr Blick flog zu ihm. Er suchte in ihren Augen nach einem Zeichen, dass sie sich getröstet fühlte, aber er fand nur Traurigkeit. Schon den ganzen Tag. Sie hatte nicht gesagt, was in ihr vorging. Sonst war sie offener. Also, wenn sie so weit war, über irgendwas zu sprechen. Doch leider versuchte seine Liebste oft, zuerst alles mit sich auszumachen.
So, wie sie aufgewachsen war, hatte sie gelernt, sich erst nur auf sich zu verlassen. Sie war für sich und ihre Schwester verantwortlich gewesen, nachdem ihre Mutter zwei Jobs gehabt hatte, um die Familie ernähren zu können. Um ihre Mama zu entlasten, hatte Anna also so viel übernommen wie sie konnte und hatte immer erst versucht, alles mit sich selbst zu regeln, um ihre Mutter nicht zu belasten.
Doch auch nachdem ihre Mama wieder geheiratet hatte, änderte sich für Anna nichts zum Besseren. Im Gegenteil. Aber das stand auf einem anderen Blatt. Heute ging es ihr jedenfalls nicht prickelnd. Irgendwas hatte ihr die Euphorie genommen, die ihm noch entgegengestrahlt hatte, als sie bei der Zeugnisübergabe gewesen waren. Aber er kam nicht dahinter, was.
Er sah, wie sie jetzt den Blick auf den Tisch senkte, als das Essen vor ihrer Nase abgestellt wurde und konnte ihre Gedanken förmlich mit der Hand fassen. Sie würde keinen Bissen zu sich nehmen. Nicht nachdem sie bereits angegriffen worden war. Heute ertrug sie keine weiteren blöden Kommentare, wie jemand wie sie auch noch Essen in sich stopfen könne.
Schon gar keinen Krustenbraten, wie er hier serviert wurde. Aber das vegetarische Menü bestand aus Allgäuer Käsespätzle. Demnach würde Anna sich nichts davon einverleiben. Nach solchen Gehässigkeiten, die sie schon wieder ertragen musste. Er unterdrückte ein Seufzen, als sie ihn hilflos anlächelte und ihm den Teller zuschob.
„Möchtest du meinen Salat, Anna?", raunte er ihr zu und bemerkte, wie sie einen zweifelnden Blick auf das Schälchen warf, indem die paar Salatblätter in Dressing schwammen.
Dann flogen ihre Augen zu Saskias Mutter, die sich bereits darüber beschwerte, dass sie das bisschen Gesunde, das serviert wurde, auch noch in Kalorienbomben ersäuften. Demnach überraschte es ihn nicht, als sie den Kopf schüttelte.
„Ich bin nicht hungrig. Aber danke", erklärte sie und er wusste, dass es gelogen sein musste.
Immerhin hatte sie mittags auch nur in ihrem Salat herumgestochert und beim Frühstück war sie zu nervös gewesen, um mehr zu sich zu nehmen, als den alltäglichen Kaffee. Er nickte und wechselte einen Blick mit seiner Mutter, die auch betroffen war. Aber so war Anna. Sie verzichtete lieber, statt nochmal verurteilt zu werden. Er bemerkte, wie Erik die Augenbrauen hochzog, als er registrierte, dass Anna still auf ihrem Platz saß und an ihrem Wasser nippte.
Bestürzt sah sein Kumpel dann zu Saskias Mutter, die erklärte: „Die Köchin muss ein Walross sein. Wenn die so etwas Fettiges kocht und gut genug befindet, es Gästen vorzusetzen, muss die eine eigene Postleitzahl haben. Weißt du, Saskia-Schatz, ein schlanker Körper ist vital und gesund. Das geht oft mit Verzicht einher, das mag stimmen, aber wer will schon aussehen, wie eine Presswurst in der Pelle. Ein Wunder, dass derartige Personen Kleider für solche Anlässe bekommen."
„Entschuldigt mich bitte", sagte Anna jetzt und bevor er reagieren konnte, war sie auf die Beine gesprungen und verschwunden.
„Jetzt verstehe ich, woher du dein sonniges Gemüt und deine beschissenen Ansichten hast, Saskia", erwiderte er erbost, warf seine Serviette auf den Tisch und erhob sich ebenfalls, um nach seiner Freundin zu sehen.
Im Augenwinkel sah er, dass sogar seine Ex blass geworden war und Erik verständnislos den Kopf schüttelte, während seine Mutter sich offenbar auf die Zunge biss, um keinen Konter zu starten. Doch das war jetzt egal. Er musste nach Anna sehen.
***
„Scheiße. Gib mir die blöden Kippen, du Scheiß-Apparat!", zischte sie und musste sich beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen.
Sie hatte es gewusst. Dass die Idee mit dem Kleid bescheuert gewesen war. Doch Flos Augen hatten so schön geglitzert, wenn er darüber gesprochen hatte, wie sehr er sich darauf freute, sich schick zu machen für diesen Anlass. Ihm stand das auch perfekt. Er sah sogar in Anzughose, Hemd und Sakko irgendwie lässig aus. Aber sie fühlte sich verkleidet und sah wohl trotz Mieder nach Presswurst aus. Zumindest wie eine Dicke, die sich auf Teufel komm raus in ein schickeres Kleid zwängen musste.
Da half anscheinend auch der Bolero nicht, der ihre fetten Oberarme kaschieren sollte und unter dem sie schwitzte wie blöd. Vor allem in diesem doofen festen Miederstoff, der alles Wabblige quetschte und so in Form brachte. Sie fühlte sich also ohnehin schon wie ein stinkender, erstickender Iltis und dann konnte sie sich zudem bescheuerte Sprüche anhören.
Sie hätte einen Magen-Darm-Virus vortäuschen sollen. Aber es war Flo und ihr Einjähriges. Darum hatte sie ihm diese Freude machen wollen. Doch jetzt brauchte sie kurz eine Pause. Zum Durchatmen. Also in dem Maß, in dem die Shaping-Wäsche das zuließ. Deswegen wollte sie eine Zigarette. Aber der blöde Automat rückte keine Schachtel heraus.
Sie zuckte zusammen, als die Maschine kurz ruckelte, weil sie jemand anstieß, und ihr Blick flog zum Verursacher der Erschütterung.
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