Mein Wunder
Perry hasste Krawatten. Er vermied es, sie zu tragen, und tat sich schwer damit sie zu binden. Mit zitternden Fingern stand er vor dem großen Spiegel und fluchte.
»Lass mich dir helfen«, Jordan stand vom Bett auf und ging auf Perry zu. Sie trug ein schwarzes Kleid, das bis über die Knie ging. Sanft nahm sie die Krawatte und band sie geschickt.
»Ich kann das nicht Jordan. Ich kann nicht ...«, sagte Perry und legte seinen Kopf an die Schulter seiner Ex-Frau. Diese strich ihm beruhigend über die Haare.
»Perry, ich weiß, wie schwer das ist, aber wenn du dich nicht verabschiedest, dann wirst du es immer bereuen. Bitte ...«, mit feuchten Augen sah Jordan, Perry an.
»Ich kann nicht, noch nicht ...«, sagte er.
»Perry! Perry, komm schon, wach auf!«, er schreckte hoch und sah Marc über sich. Perry setzte sich stöhnend auf und rieb sich die feuchten Augen.
»Alles okay?«, wollte Marc wissen und setzte sich auf die Bettkante.
»Schlechter Traum«, sagte Perry und versuchte sein Herz, das schmerzhaft in seiner Brust hämmerte zu beruhigen.
»Dachte ich mir. Ich wecke dich nur ungern, aber Anton muss bald los.«
»O-okay, ich steh auf, aber ich kann auch mit dem Porsche fahren«, sagte Perry und schwang die Beine vom Bett.
»Nein, keine Widerrede, du bist vollkommen fertig. Ich bringe dir den Porsche zu deiner Wohnung und keine Angst ich bin ganz sanft«, sagte Marc grinsend.
»Alles klar. Danke ... also für alles!«
»Schon gut und nun geh duschen und dann komm zum Frühstück. Im Bad sind Handtücher und ich hab dir eine neue Zahnbürste hingelegt«, sagte Marc und verließ das Zimmer. Perry stand auf, der Traum hing ihm nach. Vehement versuchte er, ihn abzuschütteln. Ehe er ins Bad ging, sah er auf seinen Pager und das Handy, aber es gab keine Nachricht und das hieß, es ging J.D. weder schlechter noch besser. Seufzend legte er beides beiseite und betrat das Bad.
»Okay, Taylor lass Daddy nur kurz deine Milch warm machen«, Anton versuchte, seinen weinenden Sohn zu beruhigen, während er mit der Milch hantierte.
»Ah Perry guten Morgen, könntest du vielleicht kurz? Marc holt was zum Anziehen«, sagte er und hielt Perry den eineinhalbjährigen Jungen hin. Irritiert nahm Perry das Kind auf den Arm. Taylor schien nicht minder überrascht und hörte auf zu weinen. Interessiert sah er den Mann an.
»Na Taylor? Hast du Hunger?«, sagte Perry und ging mit wippenden Schritten durch die Küche. In diesem Moment kam Marc die Treppen hinab.
»Nun schau dir das an!«, sagte er überrascht und sah zu Anton, der lächelte und gerade die Milch in eine Flasche gab.
»Was denn?«, wollte Perry wissen.
»Taylor hat so seine Probleme mit Fremden. Er fängt sogar an zu weinen, wenn meine Mutter kommt, aber bei dir ... er scheint dich wirklich zu mögen«, sagte Anton, nahm Taylor wieder auf den Arm, setzte ihn in einen Hochstuhl und gab dem Kind die Flasche in die Hand.
»Ähm ja ...«, sagte Perry verlegen und setzte sich an den Tisch.
»Ehrlich Per, vielleicht können wir dich oder euch mal als Babysitter buchen«, sagte Marc und griff nach der Kaffeekanne. Perry sah Marc an, dann nickte er lächelnd.
»Ich weiß, du hast Angst, aber du musst dich dem stellen«, sagte Anton, als er und Perry später im Auto saßen und Richtung Innenstadt fuhren. Perry, der auf dem Beifahrersitz saß, sah aus dem Fenster und nickte.
»Ich weiß nur nicht, was ich machen soll«, sagte er.
»Das kann dir niemand sagen, aber du wirst es wissen. Hast du ihm sagen können, dass du ihn liebst?«, traurig schüttelte Perry den Kopf.
»Er hatte schon das Bewusstsein verloren, bevor ich was sagen konnte.«
»Sag es ihm jetzt. Du weißt nicht, was er mitbekommt. Vielleicht hört er jedes Wort!«
»Das würde ich gerne glauben«, sagte Perry.
»Erzähl mir von ihm, wenn du magst«, sagte Anton. Perry lächelte und griff in die Innentasche seiner Jacke. Er holte das inzwischen abgegriffene Polaroid heraus, das er seit bald drei Wochen immer bei sich trug.
»Als er an die Klinik kam, da war es wie ... keine Ahnung. Er erinnerte mich an mich, als ich so jung war, mit all seinen Idealen und seinem Optimismus. Ich hatte all das auf dem Weg verloren und irgendwie wollte ich nicht, dass er das auch tat. Also nahm ich ihn unter meine Fittiche. Ich war zynisch, streng und sicher nicht immer fair und jetzt weiß ich warum. Ja, er nervte manchmal, wie ein Welpe, der um jede Form der Zuneigung kämpft, aber ich versuchte einfach, dass er mir nicht allzu nah kam. Ich wollte ihn nie verletzen, aber er blieb, stärkte mir den Rücken, wenn ich es brauchte, und ließ mich, wenn ich alleine sein musste. J.D. kennt meine schlimmsten und besten Seiten, besser als die meisten Menschen. Als das alles mit seinem Bruder geschah und ich in diesem Obdachlosenasyl fand, d-da wollte ich ihn um alles in der Welt beschützen, ohne genau zu wissen warum. Als ich ihn das erste Mal küsste, da war es plötzlich, als wäre ich ... oh Gott ist das kitschig ... als wäre ich zu Hause nach all den Jahren und trotzdem konnte ich einfach nicht zulassen, dass daraus mehr wurde. Ja, ich hatte Angst, Angst dass er mich verlässt, jemanden Jüngeren findet. Angst, dass ich wie mein Vater werde und ihn irgendwann schlage, also stieß ich ihn weg und dann als er da auf dem Asphalt lag, da war es, als hätte mir jemand das Herz herausgerissen. Ich wollte an seiner Stelle sein. Wollte, dass er nur noch einmal mit mir spricht, mir nur noch einmal sagt, dass er mich liebt, und jetzt heule ich schon wieder, das hab ich seit mehr als 30 Jahren nicht, nicht mal als Ben starb, mein bester Freund«, Perry schwieg, und wischte die Tränen weg. Anton sah zu ihm. Sie standen inzwischen auf dem Parkplatz des Sacred Heart.
»Weißt du, was seltsam ist? Nach all dem, was du gerade erzählt hast, da hört man aus jedem Wort, wie sehr du ihn liebst. Nicht erst seit der Sache mit seinem Bruder, du hast es schon, als du ihn das erste Mal gesehen hast, und nun steig aus, geh zu ihm und sag ihm das«, sagte er und lächelte. Perry nickte und öffnete die Autotür.
»Weißt du Anton, Marc hat wirklich Glück!«, sagte er und stieg aus.
»Ja, ich weiß!«, sagte der Kinderarzt und fuhr davon.
Als er das Krankenhaus betrat, war es wie immer. Patienten, Schwestern und Ärzte liefen herum. Angehörige redeten mit Schwestern, Assistenten nickten ihm kurz zu. Der Hausmeister lehnte an einer Wand und tat immer so, wenn jemand kam, als würde er den Boden wischen und diesem Moment wünschte sich Perry nichts sehnlicher, als einer von ihnen zu sein. Akten sortieren, Rezepte unterschreiben und Flachzange anzutreiben. Aber er war es nicht. Er lief weiter, wie ferngesteuert in Richtung Intensivstation und als sich die Tür hinter ihm automatisch schloss, da war die Welt da draußen hinter dieser weit weg.
Als er in J.Ds Zimmer trat, war alles so vertraut wie die letzten drei Wochen. Das Piepen der Überwachungsmonitore, das Geräusch der Beatmungsmaschine und der Geruch nach Desinfektionsmittel. Carla saß an J.Ds Bett und las etwas vor. Sie drehte sich um, als sie die Tür hörte.
»Perry! Zum Glück wir haben uns etwas Sorgen gemacht«, sagte sie und stand auf.
»Kelso hat mich rausgeschmissen«, sagte Perry und zuckte mit den Schultern.
»Ja, er hat uns alles erzählt. Es tut mir leid. Jordan meinte, sie wüsste, wo sie sind und das alles okay sei«, sagte Carla. Perry nickte. Ihm war klar, dass Marc, Jordan informiert hatte.
»Gibt es Veränderungen?«, wollte er wissen und sah auf J.D.
»Nein, leider nicht. Der Neurologe war da. Er ist so weit zufrieden. Hirnstammaktivität ist vorhanden«, sagte Carla stockend.
»Danke Carla. Ich bleibe jetzt wieder hier«, sagte Perry und setzte sich auf den Stuhl.
»Okay, ich bin heute auf der Überwachung, wenn was ist. Turk kommt auch später noch vorbei«, sagte sie und ging. Vor der Tür atmete sie tief durch und kämpfte die Tränen nieder. Es war jedes Mal so, wenn sie das Zimmer verließ. Bei J.D. musste sie stark sein, auch wenn Turk bei ihr war. Sie musste für beide stark sein, aber in diesen Momenten alleine vor dem Zimmer, stürzte alles immer wieder von Neuem auf Carla ein.
»Hey, ich bin wieder da. Bobo war der Meinung, ich bräuchte mal eine Pause«, sagte Perry und griff nach J.Ds Hand.
»Er und Wen wollen deine Organe. Das wirst du doch wohl nicht etwas zulassen? Weißt du ganz schön mies mir die Entscheidung zu überlassen. Okay, ja ich sagte, ich schicke dich persönlich in die Hölle, aber so war das nicht gemeint...«, sagte Perry und rang nach Fassung. Eine Weile schwieg er. Hörte nur auf das stete Piepen der Monitore. Er dachte an Antons Worte und schluckte.
»Weißt du noch, als wir vor ein paar Wochen im Kino waren? Bei Gott es ist, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Du hattest recht. Ja, ich mochte den Film. Ich mochte ihn wirklich. Ich hab dich angesehen, als du ihn geschaut hast. Du mit deinen großen staunenden Augen und dann hast du mich genauso im Auto angesehen und ich wollte was sagen, aber ich wusste nicht was. Aber jetzt weiß ich es und ich will, dass du mir jetzt zuhörst, weil ich das noch nie jemandem gesagt habe...«, Perrys Stimme brach. Er legte seinen Kopf auf J.Ds Brust, ohne dessen Hand loszulassen.
»I-ich liebe dich John, hörst du das, ich liebe dich und ich kann nicht ohne dich sein. Nicht hier in diesem beschissenen Krankenhaus oder in meiner leeren Wohnung. Ich kann das nicht ohne dich machen. Bitte J.D., bitte wach auf. Bitte...«, er weinte und schluchzte, schlimmer noch als bei Marc und Anton. Sein ganzer Körper zitterte. Plötzlich legte ihm jemand seine Arme um den Oberkörper und hielt ihn fest, weinte mit ihm. Cox musste nicht sehen, wer es war, er wusste, es war Turk, dem es genauso ging wie ihm selber. Perry hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Irgendwann waren keine Tränen mehr da, irgendwann richtete sich Turk auf und zog sich einen Stuhl neben ihn.
»Sag das bitte niemanden!«, sagte Perry schwach und Turk schüttelte den Kopf.
»Werde ich nicht. Bisher dachte ich immer, so was wie Weinen sei Ihnen fremd.«
»War es auch lange.«
»Was hat sich geändert?«
»Alles ...«, sagte Perry und stockte. Überrascht sah er auf seine Hand, die immer noch J.Ds hielt.
»Was ist?«, wollte Turk wissen.
»I-Ich glaube, er hat meine Hand gedrückt«, perplex sah Turk zu den Monitoren.
»Seine Herzfrequenz und der Blutdruck haben sich erhöht«, sagte er und sprang auf. Auch Perry stand auf, hielt die Hand von J.D. fest umschlossen.
»Komm schon J.D. mach das noch mal! Drück meine Hand! Ich weiß, du bist da, bitte tu es für mich!«, flehte er. Sekunden später fühlte er wieder den leichten Druck an der Hand.
»Sehr gut Flachzange ich bin da. Hörst du?«
»Ich glaube, er wacht auf. Ich piepe Carla und Kelso an«, sagte Turk. Es dauerte keine zwei Minuten, da kamen Carla und der Klinikchef in den Raum gerannt.
»Er reagiert! Er hat Dr. Cox' Hand gedrückt!«, sagte Turk euphorisch. Kelso sagte nichts. Er trat ans Bett, holte eine kleine Lampe aus seiner Kitteltasche und leuchtete J.D. in die Augen.
»Seine Pupillen reagieren normal. Unfassbar«, sagte er. Plötzlich begann J.D. zu husten und zu krampfen.
»Er wehrt sich gegen die Beatmung!«, sagte Perry schnell und drückte mit seiner Hand, J.Ds Stirn nach unten.
»Ruhig J.D., ganz ruhig. Wir befreien dich sofort«, sagte er so ruhig, er konnte.
»Schwester Espinosa. Sauerstoffbrille bereit machen. Wir extubieren und nur für den Fall Intubationsbesteck bereitlegen«, sagte Kelso. Er löste den Verband, der den Intubationsschlauch an Ort und Stelle hielt und sah dann zu den Monitoren.
»Okay Sportsfreund, ganz ruhig. Ich ziehe den Schlauch jetzt raus!«, sagte er und zog.
J.D. begann zu husten und zu würgen.
»Sättigung bei 85% und steigend«, sagte Carla den Tränen nahe.
»Atmen J.D., ganz ruhig«, sagte Perry und hielt das Gesicht des jungen Mannes in seinen Händen, während Kelso, J.D. Sauerstoff über die Nase verabreichte.
»Komm schon, mach die Augen auf«, sagte Cox und seine Stimme zitterte. Langsam öffnete J.D. die Augen und blinzelte. Kelso dimmte das Licht, damit sich die Augen des jungen Arztes wieder an Helligkeit gewöhnen konnten.
J.D. sah Perry direkt über sich. Er sah in die müden blauen Augen des Mannes. Er konnte selber keinen Muskel rühren und fühlte sich unendlich müde, aber er versuchte ein Lächeln.
»D-du...k-kriegst...grau-e...Haare...«, krächzte er kaum hörbar. Aber Perry hatte alles verstanden. Er schüttelte den Kopf und eine Träne rann über seine Wange. Dann legte er seine Lippen auf die rauen, trockenen von J.D., der den Kuss erwiderte, wenn auch schwach. Es war nur ein kurzer Kuss, aber Perry hatte das Gefühl endlich wieder zu leben. Er vergrub seinen Kopf an J.Ds Schulter und schluchzte: »Mach das nie wieder...«
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