Das Leben ist eine täuschende Lüge
Und hier stehe ich nun. Dort, wo ich auch das letzte Mal aufgehört habe zu erzählen, da mir die Zeit fehlte. Mir fehlte die Zeit, die Geschichte fortzusetzen, um gewisse Dinge aufzuklären. Gewisse Dinge, von denen ihr wahrscheinlich im Moment keinen blassen Schimmer habt, wieso sie passieren. Man sagt so schön, alles passiert aus einem Grund. Und dagegen habe ich auch nichts auszusetzen. Doch manche Gründe sind, meiner Meinung nach, nicht einmal Wert ausgesprochen zu werden. Zu wertlos, um überhaupt solche Gründe auf dieser Erde weilen zu lassen. Andere wiederum können nichts dafür, dass sie existieren. Sie wurden auf dieser Welt so ausgesetzt, bis sie irgendjemand gefunden hatte und mit seinem Fund nun anfing zu argumentieren. Kennst du den Grund weshalb Miss Marnie tiefer und tiefer in Trauer sinkt? Würdest du das ganze besser verstehen, wenn du den Grund für ihre Emotionen kennen würdest?
Ein Gefühl der Sicherheit überflutete meinen gesamten Körper, als ich wieder an den friedlichen Wald zurückdachte. An das Vogelgezwitscher. An den Fluss. An das grüne Laub, welches an den Bäumen hing. Dieser Wald hatte Miss Marnie auch in seinen Bann gezogen und immer tiefer in dessen Schönheit sinken lassen, bis sie jegliche Trauer, die sie umgab, vergass und sie so schlussendlich in Frieden ruhte. Wieso konnte nicht jede Sekunde meines Lebens sorgenlos verstreichen? Wieso? Das ganze Leben ist doch nur eine wunderschöne Lüge, an dessen Ende die schmerzhafte Wahrheit wartet. Die schmerzhafte Wahrheit, die Miss Marnie begegnet war, als sie ihren Rückzugsort das letzte Mal besuchte. Niemand wusste, dass es das letzte Mal war. Das letzte Mal ihre Stimme gehört zu haben. Das letzte Mal sie in den Armen gehalten zu haben und ihr goldiges Haar in der einstrahlenden Sonne bewundert zu haben. Sie selber konnte es auch nicht fassen, dass all die Qual nun ein Ende nahm. All die Qual, die sie nicht mehr Stand halten konnte. Wohl eher konnte sie es nicht mehr abwarten, eine andere Welt zu betreten. Eine andere Welt, in dem es keinen kümmert, wer man ist. Oder war. Denn dort gibt es kein arm oder reich. Kein schlau oder dumm. Kein hässlich oder schön. In dieser Welt war nur noch das Jenseits zu finden.
Miss Marnie wusste stets, was sie wollte. Hatte eine gewisse Ahnung von ihren Bedürfnissen. Und sie wusste auch, dass sie nicht mehr von Lebewesen ihres gleichen dafür gehänselt werden wollte, dass sie überhaupt existiert. Sie wollte die dummen Kommentare loswerden, die man ihr Jahre lang hinterher geworfen hatte. Kommentare, bei denen ihr Selbstbewusstsein immer tiefer sank und sie ihr Spiegelbild nicht mehr anblicken konnte. Nicht einmal ein scheuer Blick. All das Leid, welches sie Jahre lang trug hinterliess nicht nur Spuren in ihrem Innern, sondern kennzeichneten sich auch schon an ihrem Äusseren. Miss Marnie dachte, dass ein kleiner Kratzer an ihrem Arm nicht schaden würde. Doch was sie nicht merkte, war die Sucht, in die sie hineingeriet. Die Sucht, sich selber zu schaden, weil das eigene Bewusstsein von dem Gedanken überzeugt war, dass man es verdient hatte.
Bestimmt könnt ihr schon ahnen, was mit ihr passiert ist. Doch ich erwähne es noch einmal selber: sie hatte sich selbst die Luft abgeschnürt. Ohne einen weiteren Gedanken an das Leben zu verschwenden. Das Seil um den Ast gehängt und den Kopf durch die Schlaufe. So nahm ihr Leben also ein Ende.
Sie glaubte nicht, dass noch irgendein Wunder geschehen könnte, welches sie aus dieser Qual retten könnte. Ihre Hoffnung war auch schon erloschen. Es war nur noch ein kleiner Funke in der Dunkelheit, der sie von ihrem Selbstmord abhielt. Ein kleiner Schimmer im puren Leid von Miss Marnie, der von der Dunkelheit doch noch komplett verschlungen worden war. Denn wie man so schön sagt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wieso musste sie ausgerechnet fort? Wieso hatte sie es gewagt, von dieser Welt davonzufliegen ohne sich einmal zu verabschieden? Von ihrer Familie. Von ihrer besten Freundin. Von mir.
Doch auch diesen Abschied musste ich akzeptieren, denn ich konnte nichts an dieser Situation mehr ändern. Was geschehen ist, ist geschehen. Und das versuchte ich zu lernen. Zu lernen, wie man akzeptiert. Wie man bestimmte Änderung des Lebens hinnehmen muss, weil man nichts dagegen unternehmen kann. Nichts, dass diese Situation verbessern könnte. Nichts, was die Stimmung noch retten könnte. Das einzige, was einem nun blieb, ist weiterzuleben. Weiterzuleben als wäre nichts geschehen.
Für mich war es eines der schwierigsten Aufgaben, den Gedanken an Miss Marnies Tod aus meinem Kopf zu pressen, geschweige denn, diese Person komplett aus meinem Gedächtnis zu löschen. Ich wollte nicht, dass sie von mir fort geht. Fort an einem besseren, sorgloseren Ort als diese Welt. Ich wollte nicht, dass ich nur noch meine Vorstellungskraft bei mir hatte. Auch wenn Miss Marnie in meinem Gedächtnis weiterhin ein sorgloses Leben führt, merke ich, wie sie mir doch fehlt. Wie der erste Mensch, mich von ihrer Existenz überzeugen konnte.
Miss Marnie war es, die auch einen eigenen Ort in meiner Welt verdient hatte. Einen Ort, den sie ihr eigen nennt und an dem ihre Seele nun fortab für den Rest der voranschreitenden Zeit für immer und ewig in Frieden ruhen wird. Ab und zu besuche ich den Ort. Und ab und zu, während ich durch den Schnee stapfe und dem Wald immer näher trete, überkommt mich das Gefühl, dass ich eine Stimme durch die Luft hallt und mich zu ihr ruft. Doch tiefer und tiefer in den Wald zu wandern, traue ich mich nie, da ich nicht wissen möchte, ob ich es schaffen werde, jemals aus meinem Kopf fliehen zu können, wenn ich erst einmal dort drinnen bin. Ich möchte nicht wissen, welche Kreaturen ich mir dieses Mal ausgedacht habe, die mich zu ihnen locken wollen. Ich möchte nicht wissen, was sie mir zu sagen haben. Und noch weniger möchte ich wissen, was sie mit mir anstellen werden, sobald sie mich in ihre Finger kriegen würden.
Es tut mir Leid, Miss Marnie.
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