I
Irgendwann kam der Tag, an dem mein Traum wahr wurde. Und doch wünschte ich mir, er wäre nie geschehen.
Er begann wie jeder andere auch. Nämlich damit, dass ich mit gespannter Sehne schussbereit durch den Wald schlich, auf der Suche nach einem Opfer.
Mein Atem ging ruhig, meine Sinne waren geschärft und ich achtete auf das kleinste Rascheln im Unterholz. Die Morgensonne schien durch das grüne Blätterdach und warf hübsche Muster auf den mit Blättern, Ästen und kleineren Steinchen bedeckten Waldboden. Der Geruch nach Moos, dem speziellen erdigem Aroma des Waldes und auch etwas, das wie Bergamotte roch, lag in der Luft. Der Tau, der noch die Blätter benetzte und in der Morgensonne glitzerte, war ein weiteres Zeichen dafür, dass es noch früh am Morgen war.
Es dauerte nicht lange, bis ich meine erste Beute fand. Ein brauner Hase, dessen Fell nahezu perfekt auf die Umgebung abgestimmt war. Ich hätte ihn fast übersehen und wäre weitergeschlichen.
Langsam hob ich den Bogen an, zielte... und schoss daneben. Aufgeschreckt huschte der Hase ins Unterholz davon.
Mir entfuhr ein Fluchen, während ich den Pfeil wieder einsammelte. Trotz jahrelangen Trainings schien ich nicht in der Lage zu sein, Fortschritte zu machen. Bogenschießen hatte mir noch nie gelegen, und das obwohl ich meine Familie dringend ernähren musste. Wir hatten zwar unsere Felder, doch die Ernte wurde immer schlechter, zumindest kam es mir so vor.
Zähneknirschend steckte ich den Pfeil zurück in den aus Leder selbst hergestellten Köcher, der an meiner rechten Seite hing, und führte meinen Weg auf Nahrungssuche fort.
Die Sonne wanderte weiter über den Himmel, und als sie fast den höchsten Punkt erreicht hatte, bestand meine klägliche Beute aus zwei Kaninchen, die nun an meinem Gürtel baumelten. Ich hatte sie nur deswegen erwischt, weil sie in meine Fallen getappt waren. Im Gegensatz zum Bogenschießen war ich im Fallenbau meiner Ansicht ziemlich begabt und hatte Spaß daran, neue Methoden zu erfinden.
Ich befand mich wieder auf dem Rückweg, denn ich wollte noch vor dem Mittagessen wieder zu Hause sein. Mein Magen gab mir in Form von einem hungrigen Knurren seine Zustimmung. Ich war heute - mal wieder - überstürzt aufgebrochen und mehr als ein mageres Stück Trockenfleisch hatte ich nicht gegessen. Diese Entscheidung bereute ich gerade ziemlich, als sich mein Magen erneut meldete.
Ich achtete immer noch auf verräterisches Knacken im Unterholz, während ich dem kaum erkennbaren Trampelpfad folgte, der durch meine fast täglichen Jagdausflüge entstanden war, allerdings hatte ich die Hoffnung schon längst aufgegeben, auf einen weiteren Hasen oder gar ein Reh zu stoßen.
Etwas niedergeschlagen, allerdings auch genervt machte ich mich auf den Heimweg. Ich war drauf und dran den verdammten Bogen einfach in den nächsten Busch zu werfen, doch besann mich eines Besseren. Ohne diese Nahrungsquelle würde es nicht sonderlich gut für uns aussehen.
Der weiche und von alten Blättern bedeckte Waldboden federte meine Schritte ab und der gewohnte erdige Geruch stieg mir in die Nase. Kurz blieb ich stehen, schloss die Augen und ließ alle Eindrücke der Umwelt auf mich einwirken. Die beruhigende Wirkung des Waldes um mich herum, der Wind, der durch meine kastanienbraunen Haare strich, das lebhafte Zwitschern der Vögel, das Rascheln im Unterholz, welches vielleicht von einer Maus, einem Eichhörnchen oder sogar einem umherstreifenden Fuchs stammte. Ich meinte sogar, in einiger Entfernung den Schrei eines Greifvogels zu hören.
Ich hätte zwar immer noch mein Schwert, falls der Bogen leider auf unerklärliche Weise in den Büschen verschwand, damit konnte man allerdings nicht Jagen. Im Gegensatz zum Bogenschießen war ich ganz gut im Schwertkampf - glaubte ich zumindest - und es machte mir auch weitaus mehr Spaß. Es war einfach ein ganz anderes Gefühl, eine Klinge zu schwingen, in der Luft herumzuwirbeln, zu parieren oder selber anzugreifen, als ein Seil zurückzuziehen, damit ein Stück Holz mit einer Feder hinten dran mal wieder im Unterholz verschwand. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie viele Pfeile ich bis jetzt verloren hatte.
Erinnerungen tauchten vor meinem Auge auf. Ich fühlte mich in den Moment hineinversetzt, an dem mir meine Eltern zu meinem Geburtstag mein Schwert überreichten - ich habe selbst heute noch ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken daran, wie teuer das Schwert gewesen sein musste, zumindest für meine Familie. Es war einfach gearbeitet, mit einer relativ breiten Klinge. Der ledergebundene Griff war damals viel zu groß für mich und ich musste bei der Erinnerung leise lachen, wie mein zehnjähriges Ich versucht hatte, das Schwert zu schwingen. Im metallenen Teil des Griffes waren zusätzlich winzige, wunderschöne Verzierungen eingearbeitet. Ich war vom ersten Augenblick an verliebt.
Seit Ma mir zum ersten Mal von den großen Drachenreitern, königliche Soldaten und speziell ausgebildete Männer, die eine besondere Bindung mit einem der riesigen, geflügelten Wesen eingingen, erzählt hatte, war ich wie hin und weg. Seit der ersten Geschichte über die edlen Ritter, die feuerspeienden Echsen oder friedlichen Walddrachen, seit den ersten lebhaften Beschreibungen von blauen Wesen die im Meer lebten oder den als heilig angesehenen, leuchtenden und wunderschönen Drachen des Lichts, war ich wie verzaubert. Ich träumte ab dem Moment an selber mal auf so einem Wesen durch die Luft zu fliegen, den Wind in meinen Haaren zu spüren und die Welt von oben zu sehen. Je mehr ich von den Drachenreitern hörte, desto mehr wurde der Wunsch danach genährt.
Also trainierte ich, ungefähr ab dem neunten Lebensjahr, zuerst nur den Kampf mit Fäusten - die Vogelscheuchen auf unseren Feldern eigneten sich zuerst ziemlich gut als Gegner. Ab meinem zehnten Geburtstag dann ebenfalls mit dem Schwert und etwas später auch mit meinem kleinen Messer, welches momentan auch in einer selbst hergestellten Scheide an meinem Gürtel hing.
Mein Vater zeigte mir schon früh ein paar Taktiken und unterrichtete mich im Kampf. Für ein paar Jahre glaubte ich wirklich, irgendwann könnte mein Traum wahr werden und ich trainierte unermüdlich.
Irgendwann, vielleicht mit fünfzehn Jahren, wurde mir natürlich bewusst, dass kein dahergelaufenes Bauernmädchen, dass nicht einmal gut mit einem Bogen umgehen konnte, einfach so zum Drachenreiter wurde. Doch ein winziges Stimmchen in mir, egal wie sehr ich mir wünschte, dass es verstummte und ich nicht enttäuscht wurde, flüsterte mir immer noch zu, dass ich es eines Tages schaffen würde. Dass ich eines Tages auf dem Rücken von einem der gefährlichen Drachen sitzen würde.
Durch ein plötzliches Knacken im Unterholz wurde ich aus den Gedanken gerissen. Sofort hob ich den Kopf, den ich bis jetzt auf den Boden fixiert hatte, und mein Blick schoss zu der Stelle, aus der ich glaubte, das Geräusch gehört zu haben. Ohne zu zögern hob ich den Bogen und suchte das Ziel. Doch nachdem ich einige Sekunden wartete und nichts weiter vernahm, ließ ich den Bogen wieder sinken. Ich gab die Hoffnung auf, noch etwas zu fangen und so spannte ich mir den Bogen auf den Rücken.
Erst da stellte ich erschrocken fest, dass ich nicht wusste, wo ich war. Während ich in meinen Gedanken versunken war, hatte ich weder bemerkt, wie ich meine Schritte immer weiter beschleunigt hatte, noch wie ich vom Weg abgekommen war.
Ich drehte mich ein paar Mal im Kreis, um mich zu orientieren. Um mich herum konnte ich beinahe ausnahmslos nur die Bäume erkennen, deren satte grüne Blätter leise im Wind raschelten, irgendwo im Süden bildeten sich in der Ferne sanfte Hügel ab. Richtung Norden lichteten sich die Bäume etwas und hinter mir war ungefähr die Richtung, aus der ich gekommen war. Das Vogelgezwitscher, welches ich bis jetzt unterbewusst wahrgenommen hatte, war auf einmal verschwunden und eine ungewöhnliche Stille breitete sich im Wald aus, die nur selten von einem entfernten Knacken oder Rascheln unterbrochen wurde. Ein leicht mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.
Ich blickte kurz nach oben in die Baumkronen, die sich weit über mir erstreckten, um mich am Sonnenstand zu orientieren. Doch sofort hielt ich mir die Hand schützend vor das Gesicht, als mir die helle Sommersonne plötzlich in den Augen stach.
Ich richtete meinen Blick wieder nach unten, als ich plötzlich ein Geräusch hörte, das wie ein gequältes Stöhnen klang und mich heftig zusammenzucken ließ. Ich konnte absolut nicht zuordnen, von welchem Wesen es stammte. Langsam drehte mich in die Richtung, aus der ich das Geräusch vermutete.
Hohe Felsen ragten fast senkrecht aus dem Boden und erstreckten sich wie eine dunkle Wand vor mir, als würden sie mich davon abhalten, diesen Weg entlangzugehen - und zu sehen, was sich dahinter verbarg. Sie wirkten irgendwie bedrohlich, wie sie hoch über mir aufragten. Wie eine Flutwelle, die gleich über mir zusammenbrechen würde.
Es wäre vermutlich am schlausten gewesen, einfach umzudrehen. Wer weiß, was dieses Geräusch verursacht hatte. Es klang zumindest nicht nach einem harmlosen Reh.
Dennoch musste ich mit mir ringen. Ein Teil von mir wollte so schnell wie möglich umdrehen und versuchen, den Weg nach Hause zu finden.
Doch der andere und definitiv größere Teil war wirklich neugierig. Instinktiv wollte ich nachsehen, was dieses Geräusch verursacht hatte und innerlich verfluchte ich mich selbst dafür.
Ich seufzte resigniert, bevor ich schließlich langsam auf die Felsen zuging, hinter denen sich das Wesen befinden musste. Seitlich ging ich schließlich an ihnen entlang.
Mit den Fingerkuppen strich ich über den dunkelgrauen Felsen, als ich an den Steinen entlang ging, um zur Geräuschquelle dahinter zu gelangen. Der raue, teils auch scharfe Stein kitzelte nur unter meinen Fingern, durch die Hornhaut wurde ich vor Schnitten oder anderem bewahrt.
Als ich schließlich um die Ecke lugte, fühlte es sich so an, als würde mein Herz stehen bleiben. Es dauerte einen Moment, bis ich vollends realisierte, was ich sah. Doch als mein Gehirn endlich die Szene verarbeitet hatte, die sich vor mir abspielte, entfuhr mir ein spitzer Schrei und sofort hechtete ich zurück in den Schutz der Felsen.
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