III
Die falsche Nacht war dunkel. Neumond. Die beste Nacht des Monats, weil sie am wenigsten gefälscht war. Nachdenklich schaute sie in den Himmel hinauf, versuchte die Linien zu erkennen, auf die Ksenia sie hingewiesen hatte. Wenig überraschend musste sie jedoch gestehen, dass sie nicht wirklich wusste, wonach sie suchen sollte. Manchmal merkte sie, wie sie neidisch auf ihre Freundin war, weil diese Dinge zu erkennen schien, die anderen verborgen blieben. Dann erinnerte sie sich wieder, dass es auch Vorteile hatte, ein einfacher Mensch zu sein. Heute Nacht zum Beispiel. Sie schaute noch einmal nach oben. Der Himmel war leer und geschlossen und Milena hatte Arbeit vor sich.
Wenn der Zirkus ihr etwas beigebracht hatte, dann war es sich leise und unbemerkt zu nähern. Wie eine Katze. Es war egal, ob sie auf den Videoaufnahmen zu sehen war, solange ihr niemand Beachtung schenkte. Und die Menschheit hatte schon vor langer Zeit verlernt hinzusehen.
Mit geübten Bewegungen zog sich Milena am Baum hoch. Das Labor war zwanzig Meter entfernt, aber das war nichts, was sie auf dem Hochseil nicht überbrücken konnte. Gezielt spannte sie das Seil, dann überprüfte sie seine Spannung. Als sie zufrieden war, brachte sie den Sicherungsgurt an. Es gab keinen Grund sich so kurz vor dem Urlaub noch zu verletzten. Der Wind blies ihr in das Gesicht. Sollte sie sich die Haare zusammen binden? Nein, dachte sie. Mit offenen Haaren würde es besser aussehen und sie musste sich eh mehr auf ihren Körper verlassen als auf ihre Augen.
Die bunten Scheinwerfer richteten sich auf ihre Anfangsposition im Baum, Passanten blieben stehen. Sorgfältig setzte sie ihren ersten Fuß auf das Seil, überprüfte seine Spannung noch einmal.
Dann begann sie zu fliegen. Der Gurt um ihre Hüften verlor sein Gewicht, ihre Gedanken kamen zum Stillstand. Nur das vertraute Seil unter ihren Füßen hatte noch Bedeutung. Den Druck, den sie an ihren Füßen spürte, ihren Atem, der tiefer wurde und ihre Balance, die ihre Flügel schuf. Hoch am Himmel tanzte sie über das Seil, glaubte zu wissen, wie sich Sternentänzer gefüllt haben müssen. Frei und endlos. Ungebunden und schwerelos. Für Milena hatte es nie etwas Besseres gegeben als weit über dem Boden zu balancieren, die Schwerkraft auf ihre eigene Art zu überwinden. Nichts brachte ihr Herz zum Hämmern wie ein Hochseilakt und nichts konnte sie gleichzeitig so beruhigen.
Wenn sie nach unten blicken würde, würde sie eine Menschenmasse jubeln sehen. Nichtsahnende Narren, die sie sahen, aber nicht wahrnahmen, die sich von ihrer Eleganz blenden ließen. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Ihre Lehrerin hatte Recht. Niemand würde den Blick von ihr abwenden können. Niemand würde bemerken, was eigentlich geschah, bis es zu spät war. Milena war geboren worden um Blicke zu lenken und Königreiche zu vernichten.
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