Eine kostbare Erinnerung
Schweigsam und in Gedanken versunken, wartete Dorchadas auf die Rückkehr der Nebelhexe. Auch seine Aufpasser hatten sich keinen Millimeter von ihrem Posten bewegt. Wie stumme Wächter saßen sie da und der Dunkelelf beachtete sie nicht weiter. Zu vieles ging ihm durch den Kopf und forderte seine Aufmerksamkeit. Cahaya, das Ungeborene. Würde die weise Hexe ihnen helfen? Gab es überhaupt etwas, das sie tun konnte? Dorchadas wusste es nicht. Trotzdem war er voller Sorge. Warum kam die Alte nicht zurück? Was dauerte so lange? War seiner Geliebten etwas zugestoßen? Oder dem Kind? Er sollte bei ihnen sein, aber die Blutsbrüder hatten ihm zu verstehen gegeben, dass er bleiben und auf die Rückkehr ihrer Herrin warten sollte.
Stunden zogen vorüber und dennoch schien ihm, als stünde die Zeit still. Draußen senkte sich die Sonne dem Horizont entgegen. Der Tag wandelte sich zur Nacht.
"Was ist, wenn ihr etwas zugestoßen ist?" Seine Worte, mehr gekrächzt als gesprochen, zerrissen die Stille in der dunklen Höhle. Keiner von ihnen hatte sich die Mühe gemacht, die Wachsstumpen zu entzünden.
Der Blutsbruder ihm gegenüber schnupperte und machte eine wegwerfende Handbewegung, die Dorchadas nur dank seiner an die Dunkelheit unter Tage gewöhnten Augen, vernehmen konnte, sagte aber nichts.
Kurze Zeit später raschelten Schritte am Höhleneingang und wenig später kehrte die Herrin der Höhle zurück. Ein mildes Lächeln lag auf ihrem von tiefen Falten zerfurchten Gesicht.
Noch ehe sie die erste Kerze entzündet hatte, erhoben sich die beiden Brüder und entschwanden beinahe lautlos.
Dann landete der Blick aus ihren geschlitzten gelben Augen auf ihm.
"Was bist du bereit, für meine Hilfe zu bezahlen?"
Dorchadas erhob seine leeren Hände. "Ich habe nichts von Wert."
Die Hexe setzte sich ihm gegenüber. "Das stimmt nicht. Du hast etwas von unschätzbarem Wert."
Der junge Dunkelelf konnte nicht verhindern, dass er bei ihren Worte zusammenzuckte. "Cahaya?", fragte er tonlos und seine Brust schnürte sich ein. Sie war ihm das Wertvollste auf der Welt.
Die wachsamen Augen blitzten, ehe sich der zahnlose Mund zu einem breiten Lächeln verzog. Sie schüttelte den Kopf zu ihren Worten. "Sie ist für mich wertlos. Der Stein." Fordernd streckte sich ihm eine faltige Hand mit gekrümmten Fingern entgegen. "Sie sagt, du hast ihn!"
Ein langer, spitzer Fingernagel klopfte ihm auf die Brust.
Endlich erwachte Dorchadas aus einer Starre, von der er nicht einmal gemerkt hatte, dass sie von ihm Besitz ergriffen hatte. "Was ist mit ihr? Wie geht es ihr? Was hast du mit ihr gemacht?" Die Fragen, die ihm auf der Seele brannten, sprudelten heraus.
Sie lachte. "Ihr geht es gut. Dem Kind auch. Ich habe ihre Fragen beantwortet, sie untersucht, ihr ein paar Kräuter zusammengestellt. Mehr nicht. Und mit ihr über meine Bezahlung verhandelt."
Der Fingernagel bohrte sich tiefer in seine Brust.
"Sie sagt, du sollst mir den Stein geben."
Einen Moment schaute Dorchadas sie ungläubig an. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Sagte sie die Wahrheit? "Warum soll ich dir glauben? Die Prophezeiung darf nicht in die falschen Hände gelangen. Cahaya würde sie niemandem außer mir anvertrauen."
Die Nebelhexe seufzte. "Dein Nixenmädchen hat gesagt, dass du das sagen würdest." Sie ließ ihre Hand auf die Tischplatte sinken und schloss die Augen.
'Erst wenn ein Sohn der Dunkelheit und eine Tochter des Meeres sich vereinen, wird ein neues Königreich entstehen. Das Kind dieser Liebe wird Herrin über eine neue Welt, denn kein Einziger von Euch ist weise und rein genug. Eure Herzen sind verdorben von Kampf, Neid und Missgunst und werden es ewig sein.'
Dorchadas erstarrte. Die Worte der Prophezeiung aus ihrem Mund zu hören, konnte nur eines bedeuten.
Er schüttelte ungläubig den Kopf, forschte in ihrem Gesicht nach einem Anzeichen der Wahrheit. Noch immer waren die gelblichen Augen geschlossen, aber ihr Gesicht wirkte mit einem Mal müde und uralt.
"Woher kennt ihr den Text der Prophezeiung?", flüsterte er leise.
Noch immer hielt sie die Augen geschlossen, ihr Kinn sank tiefer auf ihre Brust. Für einen Augenblick befürchtete er, sie könnte eingeschlafen sein, dann aber antwortete sie ihm, ohne aufzublicken.
"Weil es meine Schwester war, die ihn gesprochen hat."
Und ehe Dorchadas ihre Worte verstehen konnte, ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie richtete sich auf. Ihre Augen funkelten, ihre Hände waren gespannt und alles an ihr, zeugte von ihrer Macht.
"Und jetzt gib mir den Stein. Ich werde ihn verwahren. Und dann geh. Dein Mädchen wartet auf dich. Geht fort von ihr. Weit fort. So schnell ihr könnt. Verwischt eure Spuren. Genug Späher sind euch auf den Fersen."
Er nickte und griff in den Beutel, der unter seinem Umhang an seinem Gürtel hing. Aber ehe er den wertvollen Stein hervorzog, hielt er inne. "Und der Stein ist bei euch sicher?" Er durfte sich keinen Fehler erlauben, keiner Lüge aufsitzen. Die Hexe hatte selbst gesagt, wie groß die Gefahr war. Wieviele seiner Leute ihm sowohl sein Vater als auch die Lichtelfen auf den Hals gehetzt hatten. Was wenn einer von denen vor ihnen bei der Nebelhexe gewesen waren? "Eure Schwester, sagtet ihr? Wo ist sie jetzt?" Er musterte sie scharf und so entging ihm der Hauch von Traurigkeit auf ihrem Gesicht nicht.
"Tot. Schon lange." Sie seufzte. "Einst hatte ich zwei Schwestern. Mächtige Hexen wie ich. Visia verfügte über die Gabe der Vorhersehung, Cratia über die Gabe zu erschaffen. Beide Fähigkeiten waren den Elfen ein Dorn im Auge und sie wurden unbarmherzig gejagt. Eines Tages wurden meine Schwestern getrennt und getötet."
Dorchadas schwieg. Er konnte aus ihren Worten heraushören, dass sie die Wahrheit sagte. Er glaubte ihr, aber vorsichtig zu sein, hatte sich in den letzten Wochen tief in sein Wesen eingebrannt.
"Und eure Gabe?", fragte er schließlich.
"Ich verstehe mich auf die Heilkunst. Eine harmlose Gabe." Sie lachte freudlos. "Ich wurde stets als die nutzlose kleine Schwester gesehen und in Ruhe gelassen, solange ich mich im Hintergrund hielt."
Ihr Ruf war weit über die Grenzen ihres abgeschiedenen Domizils hinaus getragen worden. Allein deshalb hatten Cahaya und Dorchadas ihre Hoffnung in die Nebelhexe gelegt. Sie war geflohen, hatte ihre beiden Aufpasser in den Blutsbrüdern gefunden und lebte seit Ewigkeiten in den Bergen der Siebenwetterspitze. Es gab keinen Grund, ihren Worten keinen Glauben zu schenken.
"Und der Stein?", fragte er und seine Fingerspitzen fühlten nach dem Gegenstand in seinem Beutel, dessen Botschaft ihnen so viel Mühsal aufgebürdet hatte.
"Wann immer meine Schwester eine Vision hatte, die ihr wichtig genug erschien, erschuf sie mit Cratia eine Prophezeiung. Diese erschien ihr so bedeutsam. Der Krieg der Elfen war schon damals grausam und erstreckte sich auch bis in unsere Heimat. Aber Visia merkte, dass es noch zu früh war und versteckte den Stein. Cratia erschuf Hinweise, die die Elfen zur rechten Zeit auf die richtige Fährte locken sollten." Eine Träne rollte über die faltige Wange.
"Auf dem Rückweg gerieten die beiden in eine Falle. Nur wegen diesem Stein. Darum will ich ihn haben. Es ist meine letzte und kostbarste Erinnerung an meine Schwestern."
Die Träne kullerte auf die Tischplatte und der Glanz des Kerzenlichts spiegelte sich darin. Dorchadas schluckte, zog den Gegenstand hervor und reichte ihn ihr.
Sofort schlossen sich die krummen Finger darum und sie drückte den Stein an ihr Herz.
"Können wir die Erfüllung der Prophezeiung verhindern?", fragte er leise.
"Nein!", stieß die Alte hervor. "Was Visia gesehen hat, kommt ans Licht. Die Frage ist nur wann und wie."
"Dann war unsere Flucht also umsonst?" Die Traurigkeit ergriff auch von ihm Besitz, legte sich wie eine enge Schnur um seine Brust und wie ein Felsbrocken auf seine Stimmbänder.
Die Nebelhexe schüttelte bedeutungsvoll ihren Kopf und maß Dorchadas mit einem seltsamen Blick aus ihren tränenverschleierten Augen. "Alles ist Teil eines großen Ganzen."
Ihre Worte waren ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass ihre Flucht nicht umsonst gewesen war. Ein kleiner Funke in der Dunkelheit, aber besser als nichts.
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