III
Atmen.
Weggehen.
Weitermachen, als wäre nichts gewesen.
„Cottbusser Platz, Ausstieg in Fahrrichtung rechts", verkündet die freundliche Computerstimme, doch ihre Worte ziehen an mir vorbei wie die flackernden Lichter des nächsten Bahnsteigs. Das Einzige, was ich in den nächsten, endlosen Sekunden wahrnehme, ist das Zischen der Türen. Für einen kurzen Augenblick fegt ein kalter Windstoß durch die erhitzte, stickige Luft im Inneren der Bahn, dann setzt sich der Untergrund unter mir wieder in Bewegung. Nur der unverkennbare Geruch nach altem, ranzigem Fett bleibt. Er lässt mich sicher sein, dass wir unsere Haltestelle verpasst haben. Seltsamerweise kümmert es mich nicht. Ich stehe nur da und sehe zu, wie die beruhigende Dunkelheit des nächsten Tunnels das Licht der grauen Halle verschluckt.
Neben mir spüre ich Konstantins Hand, allerdings ergreife ich sie nicht. Ich bin viel zu fixiert auf die Typen mir gegenüber. Einer von ihnen hängt über einem der Sitze, etwas Blut tropft auf den grauen Gummiboden.
Habe ich ihm die Nase gebrochen?
Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Noch nicht einmal, warum ich zugeschlagen habe.
Ich wollte meinen Bruder beschützen. Das ist alles, was mir geblieben ist. Der Rest ist schwarz wie ein Filmriss. Nur das unschöne Knacken hallt noch immer wie ein Echo in meinem Kopf wider. Laut. Eindringlich.
„Wo fahren wir jetzt hin?", murmelt Konny nach einer Weile trostlosen Schweigens. Ich senke nur den Kopf, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Es geht einfach nicht, ich kann die nassen Tränenspuren auf seinem Gesicht nicht ertragen. „Und wann sind wir endlich zuhause?" Unsicher starrt er nach draußen. Noch ein paar Meter, dann wird die nächste Station auftauchen. Berlin-Hellersdorf. Das verdammte Ghetto mit seinen heruntergekommenen Plattenbauten und den neu errichteten Flüchtlingsheimen.
„Ist ein kleiner Umweg." Mit zusammengebissenen Zähnen stoße ich mich von der Eisenstange ab, ziehe Konstantin mit mir. Wir müssen hier raus. Wegrennen. Untertauchen. Hoffen, dass wir davonkommen.
Doch ein kurzer Blick zurück genügt, um diese Hoffnung ein für alle Mal zu zerstören. Meine Finger haben dunkelrote Ränder auf dem weißen Lack hinterlassen, Abdrücke, DNA-Spuren.
„Kommst du jetzt auch ins Gefängnis?" Konstantins Stimme zittert, dennoch liegt eine gewisse Härte in seinen Worten, die mich zusammenzucken lässt. Nicht nur, weil jetzt all die Bilder, die ich jahrelang zu verstecken versucht habe, nach oben dringen, sondern auch wegen dem unterschwelligen Ton, der selbst mir nicht entgeht. Beinahe gleichzeitig hebt er den Kopf, was mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen lässt.
Die einst großen, kindlichen Augen durchbohren mich jetzt wie schwarze Kugeln. Seine ganze Körperhaltung wirkt gefasst, seine Züge steif und eigenartig fremd. Als wäre der blonde Junge vor mir nicht mehr mein Bruder, sondern nur noch ein namenloses Kind, eine leblose Puppe.
„Konny, hör zu...", beginne ich, während ich langsam, aber bestimmt auf ihn zugehe und meine Hand auf seine Schulter lege.
„Nein!" Für einen Moment meine ich, auf seinem Gesicht etwas Anklagendes aufblitzen zu sehen, doch mir bleibt keine Zeit, länger darüber nachzudenken.
„Hör mir zu, okay? Das...ist alles ganz anders!" Ich kann nicht verhindern, dass ich lauter werde und den Arm meines Bruders fester umklammere.
„Nein!", wiederholt er und entreißt sich mit einer geschickten Windung meinem Griff. Durch den Schwung stolpert er ein paar Meter nach hinten, bis er gezwungen ist, sich erneut mir zuzuwenden. Er tut es mit Abscheu. Es liegt längst nicht mehr die unsichere Frage in seinem Blick, sondern eine klare Anschuldigung, deren Bedeutung mir den Boden unter den Füßen wegzieht.
„Du bist überhaupt nicht anders als Dad, du bist genauso schlimm wie er!" Die letzten Silben gehen im Quietschen der Bremsen unter, im Trampeln der Schritte, im Lärm, der sich um mich herum wie eine Festung erhebt. Nicht einmal die schrillen Klingeln schaffen es, mich aufzufangen. Ich taumle nach vorne, lasse mich mitschieben und falle. Hinein in die Tiefe, hinein in die Dunkelheit. Hinein in die qualvolle Leere.
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