26.Kapitel
Lachend warf ich Mehl auf Malena, die das selbe bei mir tat.
»Jetzt lass doch das arme Mehl in Ruhe. Das brauchen wir noch für die Cookies. Gib mir lieber die Schokolade«, forderte Malena mich auf und zog einen Schmollmund. Ich lächelte, warf eine weitere Prise Mehl auf sie und reichte ihr schließlich die Packung mit den Schokodrops.
»Perfekt. Dann müssen wir die jetzt irgendwie in den Teig bekommen.« Malena legte den Kopf schief und ich nickte. Ein paar Sekunden später war die Schokolade im Teig, die Cookies geformt und im vorgeheizten Ofen. Zusammen mit Malena saß ich auf unserer Hängematte, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie besaß. Lächelnd betrachtete ich Malena. Sie hatte noch Mehl in ihren Haaren, genauso wie ich wahrscheinlich auch.
Gerade erzählte sie mir irgendeine Geschichte und lachte dabei. Glücklich lehnte ich mich an sie und wir aßen unsere Cookies, die noch warm waren. Bei Malena fühlte ich mich geborgen.
Ich gähnte und schlug meine Augen auf. Es war noch dunkel in meinem Zimmer. Wie viel Uhr war es? Grummelnd drehte ich mich auf die andere Seite und prüfte die Uhrzeit auf dem Wecker auf meinem Nachttisch. Halb zwei. Ich stöhnte und vergrub mein Gesicht in das Kissen. Warum war ich jetzt schon wach? Ich schloss wieder meine Augen und meine Gedanken schweiften ab. Malena und ich beim Backen von Cookies. Hatte ich das gerade eben wirklich geträumt? Schlagartig wechselte meine morgenmuffelige Stimmung zu einer niedergeschlagenen, aber gleichzeitig auch leicht glücklichen Stimmung. Malena fehlte mir. In letzter Zeit nahm sie viel Abstand von mir und unser Kontakt beschränkte sich auf das Notwendigste. Das kam aber nicht von mir aus. Im Gegenteil, ich hatte mehrmals allen Mut zusammengenommen und versucht, wieder mehr mit Malena zu machen, doch sie blockte jeden meiner Versuche ab. Ich wusste nicht, wieso sie so reagierte. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich wusste es nicht, traute mich aber auch nicht, sie zu fragen. Ich seufzte. Es tat weh, sie so zu verlieren. Ich vermisste sie. Tränen stiegen mir in die Augen und ich blinzelte sie weg. Wenn ich jetzt anfing zu heulen, konnte ich gar nicht mehr einschlafen. Apropos schlafen, warum hatte ich überhaupt von Malena geträumt? Ich dachte oft an sie, ja, aber beschäftigte es mich wirklich so sehr, dass ich davon sogar träumte? Diese Tatsache erschütterte mich. Ich wusste zwar, dass ich Malena wirklich mochte, aber sie schien mir nie so wichtig zu sein, dass die Sehnsucht nach ihr so groß war, um das in einem Traum zu verarbeiten. Ich schluckte. Diese Erkenntnis machte mich nachdenklich. Vermisste Malena mich auch so sehr wie ich sie? Oder war sie erleichtert, dass wir kaum noch etwas gemeinsam machten? Das konnte gut sein, schließlich hatte sie auch noch Cara und die beiden waren so glücklich miteinander.
Ich starrte ins Leere. Mein Herz schmerzte. Wie konnte ich nur zulassen, dass es so weit kam? Ich wollte das doch nicht. Einsamkeit kam langsam in mir auf und zog über mich. Ich fühlte mich nicht gut, Alles war so erdrückend. Die Fröhlichkeit vom Traum war vollkommen verschwunden. Sie hatte sich wie in Luft aufgelöst. Stattdessen war hier nur noch diese Leere, die ich nicht besser beschreiben konnte. Die ganzen Ferien über war ich schon alleine zuhause. Mit Markus war ich nicht mehr zusammen und er zeigte auch keinerlei Interesse trotzdem, als Freunde, etwas miteinander zu machen. Mit Malena war es dasselbe. Nur Lienchen opferte ihre Zeit für mich, wofür ich ihr wirklich dankbar war. Das heiterte mich ein wenig auf. Lienchen war immer für mich da. Das schätzte ich sehr.
»Natalie, lass es gut sein. Ich habe mich entschieden. Es ist wirklich am besten so«, sagte mein Vater zwar laut, aber sichtlich entkräftet und ich versteifte mich sofort. Das hörte sich nicht gut an. Bis jetzt hatte ich meine Eltern nur murmeln gehört. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf ihr Gespräch.
»Aber wie stellst du dir das vor? Was ist mit Katharina? Was ist mit deinem Leben hier?« Meine Mutter machte eine Pause. »Was ist mit mir?« Ihre Stimme brach und ich setzte mich aufrecht auf mein Bett. Von was sprachen die beiden? Was verheimlichten sie mir?
»Wir werden immer noch Kontakt haben, aber das ist eine einmalige Chance. Ich muss sie wahrnehmen. Außerdem siehst du doch auch selbst ein, dass das zwischen uns als Freunde einfach besser funktionieren würde«, erklärte mein Vater meiner Mutter ruhig und ich bekam einen Schock. Mein Herz fing an zu rasen. was sollte das heißen? Hieß das etwa ... nein, das konnte nicht wahr sein. Nein, das durfte nicht sein. Das durfte es einfach nicht! Entsetzt starrte ich in die Dunkelheit. Tränen rannen mir die Wange hinunter und ich fing an zu zittern. Unbeholfen zog ich mir die Knie an meinen Oberkörper und schlang meine Arme darum. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie lange wussten sie schon davon? War das damals der Grund, als meine Eltern so komisch waren und mein Vater so fertig aussah? Ich umfasste meine Beine fester und konnte einfach nicht zu zittern aufhören.
»Aber wie sollen wir das Katharina nur sagen?«, fragte meine Mutter verzweifelt und ich konnte aus ihrer Stimme heraushören, dass sie genauso wie ich gerade weinte.
»Einfach mit der Wahrheit. Gleich heute beim Frühstück«, bestimmte mein Vater und ich zuckte zusammen. Ich hörte heraus, wie genervt er deswegen war. Ich fühlte mich unwohl an meinem Platz. War ich daran schuld? Ich war eine schlechte Tochter. Ich hasste mich. Ich hasste mich. Ich hasste mich so sehr. Natürlich war ich mit Schuld daran.
»Ja, das wäre wahrscheinlich am besten so. Wir sollten jetzt schlafen gehen«, meinte meine Mutter niedergeschlagen und ich schluchzte unkontrolliert auf. Scheiße, das war viel zu laut. Angespannt hielt ich meinen Atem an. Stille macht sich im Haus breit. Kein einziger Ton war mehr zu hören. Hoffentlich hatten das meine Eltern nicht mitbekommen.
»Katharina?«
Ich zuckte zusammen. Ich konnte nicht antworten. Vor Schock war ich wie erstarrt. Selbst meine Tränen hörten auf.
»Katharina?«, wiederholte meine Mutter meinen Namen mit zitternder Stimme.
»Ja?« Mehr brachte ich nicht heraus, ohne wieder in Tränen ausbrechen zu müssen.
»Komm bitte runter. Wir müssen mit dir reden«, meinte sie und mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Ich stand auf. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. Langsam ging ich zu meinen Eltern runter in die Küche. Barfuß und im Schlafanzug stand ich auf den kalten Fließen und starrte meine Eltern an. Die Augen meiner Mutter waren gerötet und aus der Mimik meiner Vaters wurde ich nicht schlau.
»Setz dich«, flehte meine Mutter fast schon. Zögerlich setzte ich mich zu ihnen an den Tisch.
»Ich habe ein großes Angebot bekommen und werde nach Berlin ziehen, um dort eine Firma zu übernehmen. Deine Mutter und ich werden uns trennen«, erklärte mein Vater emotionslos und ein Schluchzer brach aus mir heraus. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. er erschütterte meinen ganzen Körper. Ich stützte meinen Kopf auf meinen Hände ab. Meine Tränen ließ ich freien Lauf. Mein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Minuten vergingen und keiner rührte sich. Nur mein Schluchten war zu hören. Ich konnte nicht aufhören. Mein Herz schmerzte. Ich wollte es nicht wahrhaben.
Schließlich umarmte mich meine Mutter.
»Es tut mir leid, Schätzchen. Mir geht es deswegen selbst nicht gut, aber da müssen wir jetzt durch. Wir werden immer noch Kontakt zu deinem Vater haben«, versuchte sie mich zu trösten.
»Aber Bayern ist so weit weg von Berlin. Ich will das nicht. Ich will, dass alles wieder gut wird«, meinte ich fast schon so trotzig wie ein Kleinkind. Mein Vater schwieg. Er machte sich nicht einmal die Mühe, mich anzuschauen, sondern richtete nun seine ganze Aufmerksamkeit seinem Handy. Das verletzte mich. Ich wusste selbst, dass er sich immer eine bessere Tochter gewünscht hatte, als ich es war, doch trotzdem hatte ich insgeheim immer die kleine Hoffnung, dass er mich doch irgendwie gern hatte.
»Katharina, lass es mich einmal genauer erklären«, meinte meine Mutter und schaute mir mit ihren glänzenden Augen fest in die Augen. Ich nickte als Aufforderung, dass sie anfangen soll. Ich glaubte zwar nicht, dass ich viel Neues erfahren würde, trotzdem war ich darauf gespannt, was sie zu sagen hatte.
Meine Mutter seufzte und mein Vater war immer noch in seinem Hand versunken.
»Vor ein paar Monaten hat dein Vater ein Angebot bekommen, eine nicht ganz so kleine Firma in Berlin übernehmen zu dürfen. Er war gleich begeistert von dieser Gelegenheit. Trotzdem war ihm bewusst, dass er deshalb dann auch nach Berlin ziehen müsste. Er hat mit mir gesprochen. Er wusste, dass ich einfach ein Dorfmensch bin. Ich halte es in Städten nicht aus und zudem auch noch eine so große Stadt wie Berlin. Das wäre die Hölle für mich. Ich mag dieses Leben hier. Dein Vater dagegen hatte schon öfters angesprochen, dass er hier wegziehen will. Seit dem Vorfall mit seiner Schwester sind viele Orte für ihn hier eine Qual gewesen und er wurde ständig mit Erinnerungen konfrontiert. Und jetzt hat er diese große Chance bekommen, die ihm gleichzeitig so etwas wie einen Neuanfang bietet. Da konnte er nicht nein sagen. Du hast ja auch mitbekommen, wie wir uns immer mehr gestritten haben, auch schon vor diesem Angebot. Es wurde uns beiden immer klarer, dass das Ende unserer Beziehung nicht weit entfernt ist. Damit müssen wir uns abfinden. Es war kein Fehler. Wir bereuen nichts. Aber nun ist es besser, wenn wir beide unseren eigenen Weg gehen. Wir wollen uns nicht aus den Augen verlieren. Wir gehen nicht im Streit auseinander, sondern im Frieden und in Vernunft. Wir wollen den Kontakt zueinander trotzdem noch aufrechterhalten. Aber als Freunde«, beendete meine Mutter ihre Rede und sah mich erwartungsvoll an. Sie wartete auf meine Reaktion, das wusste ich, aber die konnte ich ihr nicht geben. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Ich befand mich in einer Schockstarre.
»Ich ... ich glaube, ich muss darüber erst noch eine Nacht schlafen«, stammelte ich schließlich vor mich hin und meine Mutter nickte.
»Gute Nacht Schätzchen, es tut mir wirklich leid. Ich weiß, das ist nicht einfach für dich«, meinte sie. Ich konnte nur nicken, da mir sonst wieder Tränen in die Augen geschossen wären. Unwohl stand ich von dem Stuhl auf und verließ langsam den Raum. Mein Vater sagte kein Wort zu mir, das war enttäuschend, aber anders war ich es nicht gewohnt.
In meinem Zimmer warf ich mich auf mein Bett und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich konnte es nicht glauben. Meine Angst, die ich insgeheim bei jedem Streit immer hatte, wurde wahr. meine Eltern trennten sich. Auch wenn meine Mutter mich nicht als Grund genannt hatte, wusste ich, dass ich nicht ganz unschuld daran war. Mein Vater war nie zufrieden mit mir. Ich drückte kraftvoll meinen Fingernagel in meinen Oberschenkel. Zu meinem Glück, oder auch Pech, je nachdem, wie man es sah, hatte ich eine kurze Hose an. Der Schmerz war nicht stark genug. Ich drückte fester, doch es half nicht. Ich konnte meinen innerlichen Schmerz nicht aushalten, ich musste ihn mit einem physischen übertrumpfen. Mit immer mehr Kraft drückte ich meinen Finger in meinen Oberschenkel. Es war fast nur ein dumpfer Schmerz zu fühlen. Ich dachte nach. Nein, das würde ich nicht tun. Wieso kam ich nur auf diese dumme Idee? Trotzdem stand ich auf und ging zu meinem Schreibtisch. Ich hatte zwei Scheren, eine ziemlich abgenutzte und eine ziemlich neue. Natürlich griff ich zu der neuen, die wirklich verdammt scharf war. Was tat ich nur? Fest umklammerte ich die kalte Schere und setzte mich zitternd auf mein Bett. Im ganzen Haus war es still. Meine Eltern sind wahrscheinlich schlafen gegangen. Ich starrte aus dem Fenster. In Malenas Zimmer schien natürlich um diese Uhrzeit kein Licht mehr. Und selbst wenn, ich hätte es nicht geschafft, auf sie zuzukommen. Es hatte schließlich einen Grund, weshalb sie sich von mir fernhielt und das musste ich akzeptieren. Ich war einfach nicht gut genug für eine Freundschaft. Früher oder später scheiterte es immer an meiner Inkompetenz. Ich musste das einfach akzeptieren. Irgendwie, auch wenn es schwer war. Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Nachdenklich öffnete ich die Schere. Meine Vernunft sagte nein, aber mein Körper brauchte das jetzt. Ich setzte das kalte Metall an meinen Oberschenkel und zog mit Kraft einen Strich darauf. Es tat ausgesprochen gut. Es blutete nicht, es war nur ein Kratzer. Das würde man nicht erkennen. Ich wiederholte den Vorgang, wiederholte ihn und wiederholte ihn. Es tat mir gut. Der Schmerz übertrumpfte meine Sorgen, aber er löste sie nicht. Nachdem der Schmerz verebbte, ging es mir besser, trotzdem war da eine Leere in mir, die ich nicht erklären konnte. Meine Hand zitterte ich immer noch. Ich wollte die Schere weglegen. Gefühlt mein ganzer Oberschenkel brannte. Was hatte ich nur getan? Ich tastete meinen Nachtisch nach meinem Handy nach. Als ich es endlich fand, schaltete ich es sofort an, genauso wie die Taschenlampe. Unsicher leuchtete ich auf meinen Oberschenkel. Ich biss mir auf die Unterlippe. Er war von Kratzern nur so übersäht. Ein paar bluteten sogar. Der Rest war gerötet. Ich holte tief Luft, ließ mein Handy los und vergrub meinen Kopf in meine Hände. Wieso? Wieso hatte ich das nur getan? Ich schluchzte. Ich wollte hier nicht mehr sein. Was hatte es überhaupt noch für einen Sinn? Wie lange würde es dauern, bis man meinem Oberschenkel nichts mehr anerkennen konnte? Ich hoffte nicht lange.
Die Minuten vergingen. Sie wurden zu Stunden, in denen ich nicht eine einzige Sekunde geschlafen hatte. Langsam ging die Sonne auf. Mittlerweile weinte ich nicht mehr. Ich konnte nicht. Ich war zu erschöpft. Am liebsten hätte ich geschlafen, aber trotz vieler Versuche ging es einfach nicht. Grummelnd wechselte ich die Seite auf der ich lag und griff nach meinem Handy. Ich brauchte Ablenkung. Hoffentlich war Lienchen schon wach. Mit schmerzendem Herzen dachte ich an Malena. Sie war wach, das wusste ich. Sie hatte vor ein paar Minuten ihr Fenster geöffnet. Es tat zu weh, zu wissen, dass sie sich so von mir abgewendet hatte. Wir nichts mehr unternehmen. Unser Kontakt einfach so weg war. Und das nur meinetwegen. Leere drückte schmerzhaft auf mich ein. Sie presste sich richtig auf meine Lunge. Ich konnte schlechter atmen. Ich fühlte mich so schwer. Ich wollte es nicht länger aushalten, wie ich Malena immer mehr egal wurde. Es tat verdammt weh. Malena war jetzt glücklich. Ohne mich, mit Cara. Sie brauchte mich nicht mehr. Sie hatte nun Anschluss in dieser Umgebung gefunden. Nun musste sie keine Zeit mehr mit mir verschwenden. Ich wollte weinen. Dass ich wenigstens irgendwie den Schmerz aushalten konnte, aber es ging nicht. Immer noch nicht. Ich war zu erschöpft und ausgelaugt.
Ich raffte mich auf und machte mein Handy an. Keine Nachricht von Lienchen. Sollte ich ihr wirklich schreiben? Mein ganzer Körper sehnte sich danach. Ich musste mich jemandem anvertrauen. alleine hielt ich es nicht aus, das wurde mir in diesem Moment bewusst. Trotzdem wollte ich Lienchen nicht nerven. Nein. Ich widersprach mir selbst. So oft hatte ich diese Ausrede angewendet. Ich musste mir endlich eingestehen, dass es wirklich nicht mehr als eine Ausrede war, weil ich mich nicht traute, Lienchen zu schreiben. Sie hatte mir schon so oft gesagt, dass ich ihr immer schreiben sollte, wenn es mir nicht gut ging. Dass ich sie nie nerven würde. Dass sie mir wirklich helfen und für mich da sein wollte. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich gering, dass sie mich dabei analog. Das musste endlich in mein Hirn rein. Ich wusste, dass ich es nicht lange aushalten würde, ohne mich wieder selbst verletzen, wenn ich weiter alles in mich fraß. Und ich wusste auch, dass Lienchen mir gerne half. Was sprach also noch dagegen? Eigentlich nichts. Nichts außer die Tatsache dass ich mich nicht traute, Lienchen zu schreiben. Ich seufzte. In der Therapie hatten wir schon so oft über das eigeninitiative Anschreiben gesprochen. Ich ließ mir die Dinge noch einmal vor die Augen kommen. Positive Gedanken. Lienchen hilft mir gerne. Das sollte mir ein besseres Gefühl geben. Wo bleibt es nur? Dieses verdammte kognitive Dreieck, das mir Frau Seidner so gerne erklärte. Gedanken, Gefühle, Verhalten. Gedanken und Verhalten musste ich ändern. Das wirkt sich auf meine Gefühle aus. Es klang logisch, aber wieso klappt es nur nicht? Ich sollte Lienchen um diese Uhrzeit einfach nicht stören. Nein, nein, nein. Da war der Übeltäter. Ich hatte zwar daran gedacht, dass Lienchen mir gern half, aber innerlich hatte ich dieser Aussage trotzdem widersprochen. Natürlich bekam ich so kein besseres Gefühl und das wirkte sich dann doch so auf mein Verhalten aus, dass ich Lienchen einfach nicht schrieb.
Ich versuchte, mir klar zu werden, dass Lienchen mir wirklich gerne half. Diesmal klappte es sogar besser, weil ich meinen Worten wirklich glaubte und all meine Zweifel beiseite schob. Es gab mir Mut. Mut und Sicherheit. Ich war nicht mehr davon überzeugt, dass ich sie nerven würde. Ich war mir sicher, Lienchen war gerne für mich da. Sogar nur diese Erkenntnis machte mich ein kleines Stück glücklicher. Entschlossen öffnete ich den Chat zwischen mir und Lienchen und schrieb ihr.
Guten Morgen! Bist du schon wach? Wie hast du geschlafen? Mir ging es diese Nacht nicht ganz so gut. Hast du vielleicht kurz Zeit für mich?
Ich musste nicht lange auf eine Antwort warten. Nach ein paar Minuten informierte mein Handy mich auch schon über ihre Nachricht.
Guten Morgen. Ja, ich bin schon wach und habe gut geschlafen. Aber was viel wichtiger ist: was ist bei dir vorgefallen? Und natürlich habe ich Zeit für dich. Das habe ich immer, das weißt du doch <3
Ihre Nachricht zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht. Wie schaffte sie es, sogar wenn es mir alles andere als gut ging, mich zum Lächeln zu bringen? Ich war so froh, sie zu haben.
Ich schilderte ihr die Situation mit meinen Eltern und Malena so ausführlich, wie ich es früher nie getan hätte. Ich zweifelte kurz an dieser Entscheidung, aber ich machte mir bewusst, dass es mir gut tun würde, Linchen das alles wirklich mal zu erzählen. Trotzdem ließ ich in meiner Nachricht es nicht rüberkommen, wie sehr es mich wirklich verletzte.
Diesmal brauchte Lienchen länger zum Antworten. Dafür war ihre Antwort aber auch total verständnisvoll, aufmunternd und dazu mega lang. Mir kamen die Tränen, als ich sie las. Sie war so lieb zu mir. Wir unterhielten uns lange über meine Probleme und sie schaffte es wirklich, dass es mir besser ging. Zwar ging es mir natürlich lange noch nicht gut, aber es war erträglicher. Als ich in einem Nebensatz die Sache mit dem Oberschenkel kurz fallen ließ, war Lienchen geschockt.
Und das erzählst du mir erst jetzt!? Meine Güte, es freut mich ja schon, dass du es geschafft hast, von dir aus zu mir zu kommen, aber bitte, bitte mach das das nächste mal bevor du so einen Blödsinn machst. In dem Moment kommt es dir vielleicht richtig vor, aber das ist es nicht. Du schadest nur deinen Körper. Ich bin für dich da. Ich mache mir Sorgen um dich. Versprich mir bitte, dass du das nächste Mal, mir gleich schreibst und gar nicht erst länger darüber nachdenkst, dich so sehr zu verletzen. Ich hab dich lieb und bin IMMER für dich da, in guten und schlechten Zeiten, vergiss das nicht.
Ihre Nachricht brachte mich wieder zum Lächeln. Ich hatte dieses wunderbare Mädchen einfach nicht verdient. Schnell tippte ich eine Antwort auf ihre Nachricht, in der ich ihr vage versicherte, dass ich ihr nächstes Mal früher Bescheid geben würde und mich bei ihr bedankte. Daraufhin kam Lienchens Antwort gleich.
Ich weiß, dass es für dich schwer ist, aber bitte versuch es trotzdem. Du weißt doch, dass du mich nie nervst und ich für dich da sein werde. Ich bin nicht nur für dich da, sondern ich will das auch wirklich.
Aber anderes Thema, sorry für den abrupten Themenwechsel, aber was hältst du davon, dass wir uns mal treffen? Du brauchst dringend eine Umarmung und ein Treffen ist sowieso schon längst überfällig.
Mein Herz machte einen Sprung, als ich den zweiten Teil der Nachricht las. Das hatte sie doch nicht wirklich geschrieben? Ich las es mir nochmal durch und ein drittes Mal. Immer wieder die gleiche Aussage, Lienchen wollte sich mit mir treffen. Wirklich mit mir. Feuer und Flamme schrieb ich ihr mit Freudentränen in den Augen zurück, wobei ich sagte, dass das eine mega Idee wäre. Auch diesmal ließ Lienchens Antwort nicht lange warten.
Gerne, das ist doch selbstverständlich <3
Du hättest nichts dagegen? Das ist ja wundervoll! Nur wird meine Mutter wohl leider etwas dagegen haben. Irgendwie werde ich schon schaffen, sie zu überreden, auch wenn sie von Internetfreundschaften überhaupt nichts hält und von Treffen mit ihnen daher noch weniger. Ich wohne übrigens momentan gar nicht mehr in Baden-Württemberg, sondern in Bayern. Also kann meine Mutter wegen der Entfernung gar nicht erst meckern. Ein Gegenargument weniger, gegen das ich ankämpfen muss ;)
Ich zuckte zusammen, als ich ein Rumpeln von draußen hörte. Malena hatte wahrscheinlich irgendetwas umgeworfen. Das kam häufiger vor. Ich dachte nicht weiter darüber nach und konzentrierte mich auf das Zurückschreiben. Lienchen brauchte diesmal ewig zum Antworten.
Ich habe gerade meine Mutter mal gefragt, was sie theoretisch davon halten würde. Sie war diesbezüglich komplett abgeneigt und negativ eingestellt. Das regt mich wirklich auf. Ich schaffe es aber schon noch, sie zu überreden, da bin ich mir sicher. Und zur Not muss ich eben eine kleine Lüge benutzen.
Nachdenklich starrte ich auf mein Handy. Würden meine Eltern es mir überhaupt erlauben? Sie hatten momentan andere Probleme und wussten nicht einmal von Lienchen. Ich wollte sie deswegen auch nicht nerven. Sie hatten Wichtigeres zu tun.
Fieberhaft überlegte ich, bis ich schließlich zu einem Schluss kam, den ich Lienchen auch gleich vorschlug.
Du tanzt ja auch ein bisschen. Hätte deine Mutter etwas dagegen, wenn du alleine auf eine Tanzvorstellung gehst?
Ich tanzte dort, also würde es für mich auch kein Problem werden, dorthin zu gehen. Ich war mir nur unsicher, ob ich Lienchen auch erzählen sollte, dass ich dort selbst auftrat. Mein Handy vibrierte und ich sah wieder darauf.
Das wäre absolut kein Problem. An was für eine Vorstellung denkst du denn? Ist übrigens eine super Idee ;)
Zögerlich tippte ich meine Nachricht.
Wäre dieser Samstag in Ordnung? Oder ist das zu kurzfristig? Denn da bin ich sowieso auf einer Vorstellung und könnte dir noch einen Platz besorgen.
Insgeheim hatte ich für Malena eine Karte mit eingeplant, aber bis jetzt hatte ich ihr gegenüber noch nicht einmal diese Vorstellung erwähnt. Wie denn auch, wenn sie nur das Nötigste mit mir unternahm? Dann hatte das wohl doch wenigstens eine gute Sache. Ich hoffte nur, bei Lienchen würde das gehen. Wieder vibrierte mein Handy.
Ja, das würde gehen. Das wäre wirklich prima. Wo ist denn diese Aufführung? Ich freue mich schon. Wehe, das klappt nicht.
Bei ihrer Nachricht musste ich schmunzeln und tippte ihr schließlich den Ort als Antwort.
Das ist ja perfekt. Es ist gar nicht so weit von mir. Wann soll ich da sein?
Verdutzt starrte ich auf diese Nachricht. So schnell konnte es also gehen. Gemischte Gefühle machten sich in mir breit. Die Freude von vorhin war immer noch da, aber mittlerweile mischte sich die Unsicherheit darunter. Würde Lienchen mich immer noch mögen, wenn sie merkte, wie inkompetent ich war und keine vernünftigen Unterhaltungen führen konnte? Leichte Bauchschmerzen machten sich in mir breit. Würde sie enttäuscht sein, wenn sie merkte, wie ich wirklich war? Sollten wir es nicht lieber doch im Internet belassen? Ich wollte unsere Freundschaft, meine einzige gute, nicht kaputt machen. Ich wollte Lienchen um keinen Preis verlieren. Ich schüttelte den Kopf. Positiv denken. Ich hatte Lienchen von meinem Mutismus erzählt, sie wusste, was auf sie zukam und trotzdem wollte sie sich mit mir treffen. Das hieß, sie wollte mich wirklich mit all meinen negativen Seiten als Freundin haben. Das ließ mich besser fühlen und ich tippte meine Antwort. Ich freute mich trotz meiner Bedenken schon riesig auf Samstag und konnte es kaum erwarten.
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