6. Kapitel
Erschöpft von dem Treffen mit Jens ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich drehte mich auf den Bauch, nahm mein Handy in die Hand und schaltete es an. Dann wieder aus. Dann wieder an. Ich starrte darauf. Minuten vergingen, bis der Bildschirm wieder schwarz wurde. Ich schaltete es wieder an. Schließlich holte ich tief Luft und legte einen neuen Kontakt an. Jens Thoma. Dann ging ich auf WhatsApp und suchte ihn dort in der Kontaktliste.
Sein Profilbild: Er in einem Café wie er hinter seinem Laptop sitzt und in die Kamera lächelt. Das Bild hatte eine ziemlich gute Qualität und sah aus wie von einem Fotografen gemacht.
Sein Status: Arbeiten mit Leidenschaft. Was gibt es Schöneres?
Ich schnaubte. Familie. Familie könnte schöner sein, aber das kannte er ja nicht.
Ich las mir nochmal seinen Status durch. Was arbeitete er? Heute hatte er erwähnt, dass er sich selbstständig gemacht hatte. Vielleicht konnte man ihn dann im Internet finden? Gespannt wechselte ich die App und gab seinen Namen in das Suchfeld ein. Sofort kamen einige Treffer. Ich öffnete die erste Seite und erahnte sofort, dass das seine eigene Homepage war. Auf den ersten Blick konnte ich aber immer noch nicht erkennen, was genau er machte.
Es klingelte. Ich ignorierte es. Meine Mutter würde die Tür schon aufmachen. Ich klickte mich weiter durch Jens' Homepage. Schon bald bemerkte ich, dass er Coverdesigner war. Und seine Cover waren auch gar nicht so übel. Ich staunte. Sie waren sogar wirklich gut. Kein Wunder, wenn er sich nicht um seine Familie kümmern musste, hatte er schließlich genügend Zeit gehabt, zu üben. Aber das hatte sich wohl wirklich ausgezahlt. Katha würde begeistert sein, wenn ich ihr das erzählte. Vielleicht war er sogar der Coverdesigner des ein oder anderen Buches, das sie mal gelesen hatte.. Ich hielt in meiner Bewegung inne. Vielleicht kannte sie ihn sogar. Folgte ihm auf Instagram oder so. Verfolgte sein Leben. Sein Leben ohne meine Mutter und mich.
Meine Tür wurde aufgerissen. Ich zuckte zusammen und drehte mich zu dieser. Cara stand im Türrahmen. Ich stöhnte innerlich auf und schaltete mein Handy aus.
»Hey, ist was oder warum bist du hier?« Ich versuchte mich an einem Lächeln. Der Tag war anstrengend. Ich wollte mich jetzt nicht mit ihr streiten.
»Alles ist in Ordnung«, erwiderte sie bissig und setzte sich neben mich aufs Bett. Ich wechselte meine Position zum Schneidersitz und saß ihr nun gegenüber. Sie hatte etwas anderes an als heute in der Schule. Statt der Jeans einen Rock mit Strumpfhose. Der Pulli war aber noch derselbe.
»Was ist dann?«
»Ich möchte mit dir reden.«
»Über was?«
»Über das, was du nach der Schule gemacht hast. Ich will wissen, was wichtiger als ich war. Außerdem wusste deine Mutter nichts von deinem ach so wichtigen Termin.«
Ich seufzte. Natürlich wusste sie nichts davon. Sie wollte von Jens nichts mehr hören.
»Du weißt doch das mit meinem Vater?«, setzte ich schließlich mit einer Erklärung an. Cara nickte und rückte näher zu mir.
»Vor ein, zwei Wochen stand er ohne Vorwarnung vor unserer Tür. Dass das mein Vater war, habe ich erst Tage später erfahren. Heute habe ich mich mit ihm in der Café Couch getroffen, um mit ihm wegen der ganzen Sache einmal zu reden. Ich war mit ihm um halb zwei verabredet, deswegen hatte ich es so eilig. Es war nichts gegen dich.« Entschuldigend sah ich Cara an, die ihre Augen zukniff.
»Und jetzt hast du ihm verziehen, oder wie?« Man hörte an Caras Tonfall, wie wenig sie davon hielt.
»Nein, aber ich bin bereit, ihm eine zweite Chance zu geben, weil -«
»Das meinst du doch jetzt nicht ernst?«, rief Cara dazwischen und sah mich entgeistert an. »Das, was er abgezogen hat, war extrem schlimm. Das darf man ihm nie verzeihen. Nie. Niemals! Hörst du?«
»Jeder Mensch macht Fehler. Wenn er sie einsieht und versucht, sie wiedergutzumachen, kann man sie ihm sehr wohl verzeihen«, versuchte ich, ihr zu erklären, doch schon an ihrer Körperhaltung merkte ich, wie sehr sie abblockte. Schon irgendwie erstaunlich, wie erst Lina mir versucht hat, das zu erklären, ich mich aber anfangs vehement dagegen gesträubt hatte und nun nahm ich die gleiche Position wie Lina ein. Und Cara nahm meine an. Wie ich es schon befürchtet hatte.
»Du darfst ihn nicht mehr in dein Leben lassen, das hat er nicht verdient.« Ihre Stimme klang fest. In einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ.
»Das werde ich aber. Es ist meine Entscheidung und ich habe es so für mich entschieden.«
Ich durfte mir jetzt nichts von ihr einreden lassen. Nicht jetzt, nachdem ich mir endlich sicher war, dass das so die richtige Entscheidung war. Ich wollte mich nicht wieder von ihr verunsichern lassen.
»Nein, Malena. Das lasse ich nicht zu.«
»Du wirst dich da nicht einmischen!« So langsam machte mich Cara wütend und ich formte meine rechte Hand zu einer Faust.
»Doch, das werde ich. Du wirst mir später dafür danken«, gab Cara überzeugt von sich. Jetzt reichte es.
»Nein, das wirst du nicht. Du hast nicht das Recht dazu.« Ich versuchte trotzdem ruhig zu bleiben.
»Natürlich habe ich das Recht dazu. Wir sind zusammen. Wir führen eine Beziehung. Ich gehöre quasi zur Familie und so einen Volldeppen wie deinen Möchtegernvater will ich nicht in meiner Familie haben.«
Obwohl ich selbst sauer auf Jens war, musste ich ihn verteidigen.
»Du weißt rein gar nichts über meinen Vater. Du kannst ihn nicht einfach als Volldeppen bezeichnen.«
»Du siehst doch, wie ich das kann. Wenn du dich noch einmal mit ihm triffst, ist es aus mit uns!«
Geschockt sah ich Cara an, die selbstsicher meinen Blick erwiderte.
»Na, wer ist dir wichtiger? Dein armseliger Vater, den man nicht mal als Vater bezeichnen kann, oder ich, die Person, die du liebst?«
»Mach mal halblang, Cara. Du kannst mir nicht einfach so drohen. Mein Vater ist kein Schwerverbrecher. Er hat sich nur einmal falsch entschieden, aus unserer Sicht.«
»Genau, und das ist schlimm genug. Ich kann nicht fassen, wie sehr du das auf die leichte Schulter nimmst. Wie lang hat er euch im Stich gelassen? 18 Jahre? Das sind 18 Jahre zu viel. Kapierst du das denn gar nicht?«, schleuderte mir Cara hitzig entgegen. So aufgebracht hatte ich sie noch nie erlebt.
»17 Jahre, aber ich weiß doch, dass das nicht gerade das beste Verhalten war. Aber Menschen können sich ändern.«
»Können sie eben nicht. Sie können vielleicht den Anschein erwecken, dass sie das tun, aber innerlich verändern sie sich kein bisschen.«
»Und woher willst du das bitte schön wissen? Ich habe heute mit meinem Vater geredet, nicht du!«
»Als ob man das nach einem Mini-Gespräch beurteilen kann. Dass ich nicht lache.«
»Also Cara, so langsam übertreibst du aber wirklich. Wenn du mich magst, musst du es akzeptieren, dass ich Menschen auch mal eine zweite Chance gebe. Du musst es ja nicht einmal gutheißen, sondern mich einfach nur machen lassen. Ist das zu viel verlangt?«
»Ja! Ja, das ist es. Ich gehe jetzt, das ist mir zu blöd hier. Da taucht ihr Vater auf und sie vergöttert ihn, ohne mit der Wimper zu zucken. Wo sind wir denn hier? Anscheinend nicht bei einem normal denkenden Menschen.«
Ich musste mich zusammenreißen, nichts darauf zu erwidern. Es würde alles nur noch schlimmer machen und das konnte ich nicht gebrauchen. Cara stand wie ein Wirbelwind auf, verließ mein Zimmer und knallte die Tür zu. Ich zuckte zusammen. Wenige Sekunden später hörte ich Stimmen und dann war es ganz still im Haus. Ich biss mir auf die Zunge. War das gerade wirklich passiert? Ich konnte es nicht fassen. Was bildete Cara sich nur ein, wer sie war?
»Malena, komm runter zu mir!«, rief meine Mutter monoton.
O nein, das hörte sich gar nicht gut an. Was war denn jetzt los? Der heutige Tag war einfach nur pures Chaos. Ich rappelte mich auf und ging schnell nach unten. Meine Mutter war im Wohnzimmer. Sie sah bleich aus. Besorgt setzte ich mich neben sie und betrachtete sie.
»Was ist los?«
Meine Mutter schwieg. Erwiderte nichts. Regte sich keinen Millimeter. Sah mich einfach nur an und schaute doch irgendwie durch mich hindurch. Dann schloss sie die Augen und legte ihren Kopf in den Nacken. Ihr Gesicht war schmerzhaft verzogen. Mein Herz fing an zu rasen. Ging es ihr nicht gut?
»Mama, sag was!«, flüsterte ich panisch.
»Du hast dich heute mit Jens getroffen«, stellte sie tonlos fest. Ich entspannte mich wieder ein wenig. Nur das war also das Problem.
»Cara hat es dir erzählt, oder?«
Meine Mutter nickte.
»Ich bin enttäuscht von dir, dass du das gemacht hast und erst recht, dass du mir davon nichts erzählt hast und es offensichtlich auch nicht vorhattest.«
Jetzt sah mir meine Mutter direkt in die Augen. Sie hatte Augenringe. Sie sah fertig aus.
»Es tut mir leid, aber ich bereue es nicht. Jens ist mein Vater, auch wenn er davon nicht viel gezeigt hat. Ist es nicht irgendwie verständlich, dass ich meinen Vater kennenlernen will? Und du warst nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Da dachte ich, es wäre besser, dir einfach nichts davon zu erzählen«, erklärte ich ihr. Sie sah mich erst nur an, ohne etwas zu erwidern und faltete die Hände im Schoß zusammen.
»Ich kann dich verstehen, aber ich heiße es trotzdem nicht gut. Wird es bei nur dem einen Treffen bleiben?«
Meine Mutter sah mich erwartungsvoll an und ich schüttelte den Kopf.
»Ziemlich wahrscheinlich nicht.«
Ich sah meiner Mutter an, wie sie versuchte, ruhig zu bleiben.
»Weißt du, Malena, es tut weh, auch nur seinen Namen zu hören. Zu wissen, dass du dich mit ihm triffst ist noch viel, viel schlimmer.«
»Du solltest dich auch mit ihm treffen. Es kann gut sein, dass dir das hilft. Mir hat es ehrlich gesagt auch geholfen, obwohl ich das anfangs gar nicht erwartet hätte«, versuchte ich, meine Mutter zu überzeugen, doch diese schüttelte vehement den Kopf.
»Auf gar keinen Fall. Ich will ihn vergessen, nicht wieder alles aufwühlen. Konfrontiere mich damit nicht noch einmal. Wenn du dich mit Jens unbedingt treffen willst, gut, mach das, aber lass es mich nicht wissen und halte mich aus dem Ganzen raus.«
Ich sah meine Mutter traurig an. Dieses Verhalten tat so doch auch nicht gut, aber ich nickte. Ich überlegte lieber in Ruhe, wie ich das mit meiner Mutter hinbekommen konnte und überstürzte nichts.
»Danke.«
Damit war das Thema für meine Mutter erledigt. Nachdem wir einige Minuten schweigend nebeneinander saßen, ging ich in mein Zimmer hoch ans Fenster und schaute in Kathas Zimmer. Das Licht brannte. Sie musste also da sein. Ich klopfte an mein Fenster. Erst geschah nichts, aber dann erschien sie vor ihrem Fenster und wir öffneten gleichzeitig unsere Fenster. Die kühle Nachtluft blies in mein Gesicht. Ich fröstelte, aber das war mir egal. Ich genoss jedes einzelne Fenstergespräch mit Katha.
»Wie war das Treffen mit Jens?« Katha lehnte sich mit verschränkten Armen auf das Fenster. Ich stützte mich am Fenster ab.
»Tatsächlich besser als erwartet. Ich werde ihm eine zweite Chance geben.«
Ein Lächeln umspielte Kathas Lippen.
»Das sind tolle Neuigkeiten! Das freut mich wirklich für dich.«
»Danke! Aber eine andere Frage: Kennst du eigentlich den Coverdesigner Jens Thoma?«
Katha runzelte die Stirn und dachte nach, bis auf einmal ein erhellender Gesichtsausdruck auf ihrem Gesicht erschien und sie vom Fenster weg ging. Wenige Sekunden später kam sie mit einem Buch in der Hand zurück und streckte es aus dem Fenster.
»Ja, kenn ich. Ich hab nicht viele Bücher, die ein Cover von ihm haben, aber das hier ist eines. Ich finde seine Cover wirklich ziemlich schön und jedes ist besonders.« Nun hielt sie ihre Begeisterung zurück und sah mich ernst an. »Ist das etwa dein Vater?«
Ich nickte.
»Oh, Lienchen. Ich will ihn irgendwann kennenlernen. Er scheint wirklich ein toller Mann zu sein, auch wenn er nicht perfekt ist, aber das ist niemand und schließlich bemüht er sich ja auch.«
»Das wirst du irgendwann«, versicherte ich ihr. Sie nickte erfreut und legte das Buch wieder weg.
»Wie geht es dir?«, fragte sie nach einem Moment der Stille, in dem wir uns nur gegenseitig angeschaut hatten.
»Ich bin aufgewühlt. Ich hatte Streit mit Cara, meine Mutter war über das Treffen mit Jens nicht begeistert, aber das Treffen hat mir irgendwie neue Kraft gegeben, also besser als erwartet. Trotzdem macht mich die ganze Sache mit Jens fertig.«
»Das kann ich verstehen, das ist wohl eine ganz normale Reaktion auf solch eine Situation.«
Ich nickte.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
Katha schaute hoch in den Nachthimmel.
»Gut. Die Therapie heute war super. Wir haben so viel geschafft und mir nochmal bewusst gemacht, was für große Fortschritte ich gemacht hab. Das hat echt gut getan.« Katha strahlte richtig.
»Ich bin stolz auf dich.«
Daraufhin lächelte Katha nur.
Wir blieben noch eine Weile zusammen an unseren Fenstern und genossen die frische Nachtluft und die Anwesenheit des jeweils anderen, bis wir schließlich gute Nacht sagten und uns in unsere beiden Zimmer trennten. Bevor ich einschlief, schrieb ich Jens noch eine Nachricht.
Guten Abend,
Ich bin's, Malena. Ich wollte mich nur kurz bei dir entschuldigen, dass ich bei unserem Treffen heute so unhöflich war. Es war wohl einfach etwas zu viel für mich. Ehrlich gesagt war ich mit meinen Gefühlen ziemlich überfordert, aber da habe ich jetzt etwas mehr Ordnung in das Chaos gebracht. Bei unserem nächsten Treffen bemühe ich mich darum, freundlicher zu sein. Gute Nacht!
Deine Malena
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