24 - Über den Schatten springen
Obwohl Landon und ich noch bis spät in die Nacht am Lagerfeuer saßen und Küsse ausgetauscht haben, radeln wir am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang zur Felsenschlucht.
Der Gedanke daran, dass dies mein letzter ganzer Tag in Sunhaven ist, bricht mir das Herz. Ich möchte nicht gehen, aber leider wird kein Weg daran vorbeiführen.
Nachdem wir das Tandem abgeschlossen haben, steuern Landon und ich wie selbstverständlich die Höhle zwischen den Felsen an, damit wir uns dort umziehen können. Es ist erstaunlich, dass sich langsam immer mehr Routinen in unseren gemeinsamen Alltag einschleichen und wir als Team perfekt harmonieren.
Sobald wir fertig ausgerüstet sind, schlendern wir Hand in Hand zum Meeresufer hinab. Die Wellen rauschen, die Sonne klettert Zentimeter für Zentimeter am Himmelszelt hinauf und der Wind pfeift leise. Ich genieße das Prickeln der Sandkörner zwischen meinen Zehen und atme dabei die salzige Meeresluft ein.
Wieder einmal stelle ich fest, dass mir Sunhaven fehlen wird. Vor allem die Sorglosigkeit und Ruhe am Morgen, wenn die anderen Menschen noch schlafen.
„Ist alles in Ordnung, Maila?" Landon drückt meine Hand und schaut mich besorgt von der Seite an. Tiefe Furchen graben sich in seine Stirn, die ihn automatisch fünf Jahre älter aussehen lassen. „Du wirkst irgendwie abwesend und bedrückt."
Dass das an meiner immer näher rückenden Abreise liegt, behalte ich für mich. Stattdessen erkläre ich Landon: „Ich bin so nervös, weil ich heute endlich über meinen Schatten springen möchte."
„Ach ja?" Seine Augenbrauen wandern neugierig in die Höhe. „Und was genau meinst du damit?"
Begleitet von meinem rasenden Herzen drehe ich mich um und deute auf die riesige Felsformation, die bis zu den Wolken in den Himmel hinaufragt. Die einzelnen Blöcke sehen so gigantisch und majestätisch aus, dass es mir eiskalt den Rücken hinabläuft.
Scheiße! Will ich wirklich mutig sein? Der Titel des Angsthasen steht mir doch eigentlich auch ganz gut, oder?
Bevor ich meine Idee wieder verwerfen kann, weihe ich Landon in meinen Plan ein. „Wie du ja weißt, sind Höhe und ich nicht unbedingt die besten Freunde." Ich warte, bis mein Gegenüber nickt und fahre dann fort: „Ich bin noch nie von einem Drei-Meter-Turm gesprungen, geschweige denn von einem Startblock. Keine Ahnung, warum ich so viel Angst davor habe, aber im Laufe der Zeit ist meine Panik immer schlimmer geworden."
Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mir in meiner Schulzeit regelmäßig ein Attest beim Arzt abgeholt habe. Selbst wenn meine damaligen Freundinnen ins Schwimmbad gegangen sind, habe ich mir jedes Mal eine Ausrede überlegt, um zuhause zu bleiben.
Abgesehen von Landon sind Franny und meine Eltern die einzigen Personen, die von meiner Angst wissen. Beim Überwinden konnte mir allerdings noch keiner von ihnen helfen – was hauptsächlich an meiner sturen Art und meinem Dickkopf lag.
Hoffentlich ist Landon heute der Erste, der es schafft, meine Mauern niederzureißen.
Ich hole noch einmal tief Luft, bevor ich Landon flehend in die dunkelbraunen Augen schaue und ihn bitte: „Ich möchte meine Angst endlich überwinden. Und es würde mir sehr viel bedeuten, wenn du mir dabei hilfst."
Kurz wirkt Landon überrumpelt, vielleicht sogar berührt. Nach wenigen Sekunden breitet sich jedoch ein glückliches Strahlen auf seinen Lippen aus. „Ich bewundere Menschen, die über ihre Grenzen hinausgehen möchten und stark genug sind, um ihren Dämonen den Krieg zu erklären", sagt er mit solch einer Aufrichtigkeit in der Stimme, dass mir schwindelig wird. „Und natürlich helfe ich dir dabei, Maila. Es ist mir eine Ehre!" Um seine Worte zu unterstreichen, verbeugt er sich einmal spielerisch vor mir.
„Gut", erwidere ich. „Dann zeig mir mal den perfekten Felsen, von dem ich runterspringen kann."
Das lässt sich Landon nicht zweimal sagen. Er schnappt sich meine Hand, macht auf dem Absatz kehrt und führt mich die Steintreppe, die bis zu den Felsen emporragt, hinauf. Mit jeder Stufe, die wir erklimmen, schlägt mein Herz schneller und schneller.
Einerseits bin ich stolz auf mich, weil ich mich meiner Angst stellen möchte, aber andererseits würde ich am liebsten einen Rückzieher machen.
Mein Puls rast, meine Atmung geht flach und ungleichmäßig und mir wird schwindelig.
Halleluja! Wenn ich nicht aufpasse, falle ich gleich noch in Ohnmacht ...
Zum Glück ist Landon an meiner Seite und beruhigt mich, indem er mit seinen Fingerspitzen kleine Kreise auf meinen Handrücken zeichnet. Schritt für Schritt lotst er mich zu einem Felsen, der sich direkt über dem tobenden Meer aus dem Boden erhebt.
„Ach du Scheiße!", entfährt es mir schockiert. Mein Magen dreht sich einmal um und ruft mir lautstark zu: „Nimm die Beine in die Hand und renn weg!"
Ich kann nicht genau sagen, wie weit wir uns über der Wasseroberfläche befinden, aber gefühlt handelt es sich um 100 Meter. Die schäumenden Wellen brechen an der Felswand und schicken ein niemals endendes Echo des Grauens durch die Luft.
Der Wind zerrt an meinen Haaren und sorgt dafür, dass sich der Schwindel verstärkt. Je länger ich das tosende Meer beobachte, umso heftiger schwanke ich von rechts nach links. Schweißperlen bilden sich in meinem Nacken, mir wird abwechselnd heiß und kalt und meine Beine verwandeln sich in Wackelpudding.
Warum nochmal bin ich auf die dämliche Idee gekommen, meine Angst überwinden zu wollen?
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine rasselnde Atmung. Obwohl ich mir vor lauter Panik am liebsten in meinen Tauchanzug machen würde, schaffe ich es irgendwie, meinen Puls zu entschleunigen.
„Maila?" Landon schlingt seinen Arm um meine Taille, womit er mir Halt und Kraft spendet. „Wenn du dich nicht gut fühlst, musst du das nicht machen. Es ist okay, vor gewissen Dingen Angst zu haben." Bei seinen Worten flattern meine Lider wieder auf, sodass sich unsere Blicke wie bei einem Autounfall treffen.
An dem Funkeln in seinen Iriden erkenne ich, dass er stolz auf mich ist; ganz egal ob ich meine Furcht bezwingen werde oder nicht.
„Gibt es vielleicht noch einen anderen Felsen, der nicht ganz so hoch ist?", erkundige ich mich mit zittriger Stimme bei Landon. Ich wage es nicht, hinabzuschauen und fokussiere einzig und allein seine dunkelbraunen Knopfaugen.
Tatsächlich schafft Landon es sogar, mich mit seinem liebevollen Blick zu beruhigen.
„Dieser Felsen hier ist ungefähr drei Meter hoch", erklärt er. „Ich kenne noch ein paar andere Felsen, die eineinhalb Meter hoch sind, aber da müssten wir etwa 20 Minuten zu Fuß hinlaufen."
Oh Gott, das würde ich psychisch nicht überleben! Wenn ich meine Dämonen wirklich besiegen will, dann hier und jetzt.
Tiefe Atemzüge verlassen meine bebenden Lippen. Ich kämpfe gegen die Tränen hinter meinen Lidern an, als ich zu Landon sage: „Wir gehen gleich Hand in Hand zum Rand, zählen bis drei und dann springen wir einfach, okay?"
Statt zu nicken, behauptet mein Gegenüber: „Ich denke, es wäre besser, wenn wir nicht bis drei zählen, sondern direkt springen. Ansonsten kommst du wieder ins Überlegen und traust dich am Ende doch nicht, weil dich dein Kopf blockiert."
„Okay", stimme ich zu, immerhin vertraue ich Landon. „Dann mal los!"
Wie abgesprochen verflechten wir unsere Finger ineinander. Mein armes Herz rennt einen Marathon, als wir langsam einen Fuß vor den anderen setzen und uns mit jedem Schritt dem Abgrund nähern.
„Schalte einfach deinen Kopf aus, Maila!", versucht mir Landon einen letzten Tipp zu geben, der mir allerdings nichts bringt. „Ich bin bei dir und passe auf dich auf. Versprochen!"
Je näher das Ende der Klippe kommt, umso mehr gewinnt meine Übelkeit an Größe. Ich zittere mittlerweile am ganzen Körper und habe das Gefühl, jeden Moment mein Bewusstsein zu verlieren.
Es ist nicht das Meer, vor dem ich mich fürchte, sondern das Fallenlassen.
„Du machst das super, Maila!", spornt mich Landon an, nicht stehenzubleiben. „Ich glaube an dich. Du schaffst das!"
Ich kralle mich stärker an seiner Hand fest und versuche, meine Schnappatmung unter Kontrolle zu bringen. Blitze schießen durch meine Blutbahn und betäuben meine Sinne.
Scheiße, ich bin echt lebensmüde, oder?
Nur noch zwei Schritte trennen mich von dem Abgrund.
Ohne es kontrollieren zu können, schleicht sich der Tischkalender, den mir meine Oma geschenkt hat, vor mein geistiges Auge. Life is short. Do stuff that matters. Auch wenn Siqi Chen bestimmt eine andere Absicht mit seinen Worten verfolgt hat, interpretiere ich seine Weisheit so, dass das Leben zu kurz ist, um in Ängsten zu ertrinken.
Ich muss mutig sein und darf mich von nichts und niemandem aufhalten lassen!
„Ich schaffe das!", schreie ich so laut, dass meine Stimme als Echo von den Felswänden widerhallt. Ein letzter Atemzug krabbelt aus meinem Mund, bevor ich meine Augen zusammenkneife und gemeinsam mit Landon von der Klippe abspringe.
In dem Moment, in dem sich meine Füße von dem steinigen Untergrund lösen und ich von der Schwerelosigkeit empfangen werde, fällt meine Angst wie ein riesiger Felsbrocken von meinem Herzen ab.
Tränen der Erleichterung brennen hinter meinen Lidern und rinnen wenige Millisekunden später meine Wangen hinab.
Ich falle und falle und genieße es.
Landons Hand spendet mir Mut, Kraft und Energie. Er zeigt mir, dass er bei mir ist und mich niemals allein lässt.
Während ich in der Luft schwebe, verliere ich jegliches Zeitgefühl. Ich habe keine Ahnung, wie viele Sekunden ich in die Tiefe falle, doch irgendwann schließt sich der Ozean um mich und hüllt meinen Körper in eine Aura aus Stolz und Selbstbewusstsein.
Oh mein Gott! Habe ich gerade wirklich meine größte Angst besiegt?
Mit vor Glück rasendem Herzen kämpfe ich mich an die Wasseroberfläche zurück, wo Landon bereits auf mich wartet. Seine braunen Augen glänzen und seine Lippen sind zu einem stolzen Lächeln verzogen.
„Maila", murmelt er meinen Namen, als sich unsere Blicke kreuzen. Tränen sammeln sich in seinen Augen und sind ein Spiegelbild von unseren beiden Seelen. „Du hast es geschafft! Ich bin so unglaublich stolz auf dich! Du bist die stärkste Frau, die mir jemals begegnet ist!"
Mit schnellen Arm- und Beinzügen überwindet Landon den Abstand zwischen uns. Wassertropfen perlen über sein Gesicht und reflektieren das goldene Sonnenlicht.
„Weißt du, was der Hammer ist, Maila?"
Perplex entgegne ich: „Ein Werkzeug?"
„Nein." Landon schüttelt den Kopf und haucht mir einen federleichten Kuss auf die Lippen. Dann wispert er leise gegen meinen Mund: „Du! Du bist der Hammer!"
Auch wenn es nur wenige Worte sind, schwillt mein Herz an. Die Schmetterlinge schlagen Salti und poltern gemeinsam mit der Elefantenherde durch meinen Magen. Es ist ein unfassbar schönes Gefühl, von Landon wertgeschätzt zu werden.
Einen Menschen, der dich so annimmt, wie du bist und dich immer und überall unterstützt, wünsche ich jedem!
Nachdem der Stolz langsam abgeklungen ist und mich Landon mit mehreren Küssen überhäuft hat, beschließen wir, ein letztes Mal in der Felsenschlucht tauchen zu gehen.
Ein letztes Mal kämpfen wir uns mit unseren Flossen unter die Wasseroberfläche und werden von der grenzenlosen Freiheit in Empfang genommen.
Ein letztes Mal beobachte ich die schillernden Fischschwärme dabei, wie sie durch das Meer tanzen und ein Spiel aus Licht und Schatten erzeugen.
Ein letztes Mal staune ich über die verschiedenen Korallenarten, die sich farbenfroh im Ozean erstrecken.
Ein letztes Mal lasse ich meine Hand über den Meeresboden gleiten und schaue dabei zu, wie der Sand durch meine Finger rinnt.
Ein letztes Mal haucht mir Landon unter Wasser einen Kuss auf den Handrücken.
Ein letztes Mal tauchen wir auf und realisieren, dass mein Abschied näher rückt.
Mein einziger Lichtblick? Unser letzter gemeinsamer Abend hier in Sunhaven.
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