66 | Danach - Part II
Aller Hoffnung zum Trotz sind die nächsten Tage und Wochen in Distrikt Vier grau. Beinahe schlimmer als im letzten Winter und dabei naht der Sommer mit großen Schritten. So schnell, dass der stetige Temperaturaufschwung heftige Gewitter mit sich bringt. Der Himmel ergießt sich in Sturzbächen aufs Land, während die Wellen derart peitschen, dass es gleich mehrere der wenigen, vom Hafenbrand verschonten Fischerboote mitsamt Besatzung in ein nasses Grab reißt. Früher hätte das Kapitol nach dem zweiten Vorfall dieser Art ein Ausfahrverbot verhängt. Zumindest für zwei, drei Tage wären alle in ihren Häusern geblieben, um sich im Kreis der Familie zu stärken. Jetzt hebt man in der Hauptstadt die geforderten Fangquoten.
Für jene, die ihre Boote verloren haben, heißt das, auf einem der großen neuen Kutter anheuern zu müssen, die das Kapitol einen Tag nach Verkündung des Jubeljubiläums per Hovercraft geliefert hat. Mehrere Tage oder gar Wochen sollen die stählernen Monster auf hoher See bleiben. Besetzt sind sie mit zwei Hundertschaften an Friedenswächtern und noch während sie auf Fangtour sind, wird der Fisch im Schiffsbauch weiterverarbeitet. Aber selbst mit den riesigen Schleppnetzen schafft man es auf diesen Ungetümen kaum, die Quoten einzuhalten.
Immer wieder werden Sanktionen gegen die Fischer verhängt. Im Endeffekt entscheiden sich selbst die Betreiber kleiner Boote gezwungenermaßen, längere Touren einzulegen, bei denen sie Leib und Leben aufs Spiel setzen. Alles andere ist ohnehin keine Option. Wer nicht kooperiert, wird hingerichtet. Künftig ohne vorige Inhaftierung, ohne Verfahren – ohne öffentliche Zurschaustellung der Strafe. Gleich drei Wellenkinder werden von den Friedenswächtern in ihren Häusern überrascht. Mit einer Kugel in den Kopf, an Ort und Stelle.
»Deutlicher kann es nicht sein, dass sie uns alle tot sehen wollen«, faucht Amber, als Rob ihr und Finnick beim nächsten Treffen der Letzten Welle von den Zuständen am Hafen erzählt. »Was hält sie noch auf, den ganzen Distrikt dem Erdboden gleichzumachen? Offenbar schmeckt ihnen der Fisch ja nicht gut genug, um den Betrieb nachhaltig am Laufen zu halten!«
Aber die Angst obsiegt. Gerade bei den Widerständlern. Man fügt sich.
»Wir haben einfach zu viel zu verlieren. Wer soll noch kämpfen, wenn wir uns jetzt alle aus Trotz erschießen lassen?« – das sind Marlias resignierte Worte, nachdem sie zum dritten Mal innerhalb derselben Woche eine unbeschriftete Muschel an die Zweige des Gedenkbaums auf dem Friedhof bindet. Ihr Blick gilt nicht Finnick oder Amber, die als einzige zu dieser winzigen Abschiedszeremonie kommen konnten, sondern der aufgebrachten See in der Ferne. »Wir müssen einen anderen Weg finden, den Druck auf das Kapitol aufrechtzuerhalten. Gerade jetzt, mit dem Jubiläum ... das ändert alle Pläne. Ohne euch –«
Finnick zieht die Kapuze seiner Öljacke tiefer in die Stirn und seufzt nur. »Nein, eigentlich ändert das nicht sonderlich viel. Ich glaube, es hilft eurer Situation sogar.«
Neben ihm knirscht Amber mit den Zähnen. Mal wieder. Seit der Verkündung des Jubeljubiläums hat sie praktisch nicht damit aufgehört.
»In Distrikt Acht gab es große Streiks«, fährt er ungeachtet dessen fort. »Ganz normale Arbeiter haben eine Garnison der Friedenswächter besetzt – weil sie Gerechtigkeit für ihre Sieger gefordert haben.«
Marlia schnappt nach Luft. »Sie haben gegen die Friedenswächter ... gewonnen?«
Amber schnaubt, aber bevor sie etwas sagen kann, schüttelt Finnick schon den Kopf. »Nur für den Moment. In Acht sind immer noch genug Einheiten stationiert, um den Menschen das Leben zur Hölle zu machen. Es ist jeden Tag aufs Neue ein Kampf ums Überleben dort. Daran ändert auch diese eine verlorene Garnison nichts.«
»Aber das beweist, dass es nicht unmöglich ist, das Kapitol zurückzuschlagen!«, hält Marlia dagegen. Ihre Wangen färben sich rot. »Das ist ... wunderbar.« Sie lächelt grimmig. »Rob wird das hören wollen. Habt ihr irgendwelche Details zu dem Vorgehen der Textilarbeiter? Gibt es vielleicht Videomaterial? Wir brauchen alles, was wir kriegen können!«
»Immer langsam –« Abwehrend hebt Finnick die Arme. Auch wenn er insgeheim dasselbe empfindet. Hätte er nicht die kapitolinternen Berichte gesehen, die Beetee nach ihrem letzten Gespräch geschickt hat, würde er selber kaum glauben, was in ganz Panem geschieht. »Denk jetzt bitte nicht, ich will euch zu irgendwelchem Leichtsinn anstiften.«
Seine Zurückhaltung beeindruckt Marlia nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Die Röte steckt ihr ganzes Gesicht in Brand, während sie die Muschel in ihren Händen so fest drückt, dass es knackt. »Nein, nein«, murmelt sie, »ich will nichts überstürzen. Es wäre nur leichtsinnig, diese Ereignisse zu ignorieren.«
Betreten sieht Finnick zu Amber hinüber. Doch sie zieht nur ihre Augenbrauen zu einem Strich zusammen und bedenkt ihn mit einem Blick der Sorte ‚was musstest du auch davon anfangen?'.
»Ich denke, es wäre nicht klug, es Acht jetzt schon gleichzutun«, wendet er sich zurück an Marlia. »Wie du schon sagtest, ihr könnt nicht zu viele Anhänger verlieren. Anders als Acht seid ihr schon geschwächt in den Kampf gezogen. Erstmal müsst ihr mehr Leute gewinnen.«
»Ich weiß, ich weiß ...« Marlia seufzt. »Es ist nur ... das aus Acht zu hören gibt so viel Hoffnung.«
Bei dem erregten Klang in ihrer Stimme kann Finnick nicht anders, er muss sacht lächeln. »Und genau deshalb habe ich es erzählt«, sagt er. »Egal, was mit uns Siegern passiert, ihr werdet nicht alleine sein. Je weniger wir werden, desto mehr werdet ihr sein.«
Ein leises Seufzen entflieht Marlia. Sie schaut auf die Muschel zwischen ihren Händen, durch deren blanke, weiße Schale sich nun ein Riss zieht. Die Ringe unter ihren Augen scheinen dunkler zu werden, bis sie die Hoffnung wieder verschlucken. Mit beiden Daumen streicht Marlia über die perlmutterne Innenseite, auf die eigentlich ein Nachruf gehört – wenn es nicht viel zu riskant wäre, eine Spur für die Friedenswächter zu hinterlassen. »Es ist ungeheuerlich, der Gedanke an das Jubiläum. Ich wusste durch meine Eltern immer, dass Sieger niemals wirklich frei sind, aber das ...« Sie streckt den Rücken durch. »Ich verstehe nicht, wie man im Kapitol so etwas akzeptieren kann.«
»Wer sagt denn, dass die Bürger dort es tun?« Finnick kann einen gewissen Triumph nicht aus seiner Stimme fernhalten. Er langt in die Innentasche seiner wasserfesten Jacke und zieht eine etwa seeigelgroße, metallisch glänzende Kugel hervor, an deren Oberseite eine schwarze Linse eingelassen ist.
Ohne Beetee hätte er nie gewusst, was für eine wichtige Technik ihm da auf seinen Streifzügen über Emerald Isle in die Hände gefallen ist, doch jetzt kann er den Projektor mit einem Fingertippen starten. Ein blasses, blaustichiges Bild erscheint wie von Geisterhand inmitten des Gewitterregens. Buntes Pflaster, Menschen mit Federschmuck auf den Köpfen. Die Aufnahme zeigt den Versammlungsplatz am Ende des Korsos, direkt vor Präsident Snows Palast.
Der Lautsprecher des Geräts knackt und knistert, als hätte der Rost darauf sich bis ins Innere der Technik gefressen. Zunächst ist nur Rauschen zu hören – doch dann lassen sich erste Worte ausmachen. »Wir lieben unsere Sieger!«, rufen die Kapitoler in einem fort. »Wir lieben unsere Sieger! Wir lieben unsere Sieger!«
Marlias Augen werden groß. »Das ...« Sie keucht leise, denn das Bild zoomt an die vorderste Reihe aufgebrachter Bürger heran. In ihren Armen halten sie ein langes Transparent, offenbar handbemalt. »Erhört euer Volk – ändert die Regeln ...«, liest sie sie, eine Hand vor ihren Mund geschlagen. »Nein ...!«
Finnick kann sich ein Lachen nicht verkneifen. »Doch. Präsident Snow hat einen Fehler gemacht, als er dachte, er könnte uns Sieger einfach so loswerden. Er hat wohl vergessen, dass er uns zu Helden seiner Leute gemacht hat. Viele Distrikte mögen ihre Sieger hassen, aber nicht das Kapitol.«
»Ach komm, das sind vielleicht dreißig, vierzig Leute«, fällt Amber ihm ins Wort. »Das ist nichts, wenn man bedenkt, dass Hunderttausende im Kapitol wohnen! Und außerdem« – sie rümpft die Nase – »sind all diese Leute jetzt eingesperrt. Oder tot. Aus ihnen werden also keine Rebellen mehr.«
»Stimmt das?« Marlia reißt den Blick von der Projektion los und mustert stattdessen Finnick aus zusammengekniffenen Augen.
Er seufzt erneut. »Ja. Laut Berichten, auf die mein Kontakt Zugriff hat, sind sechs Minuten nach Beginn der Demonstration Friedenswächter aufmarschiert und haben die Versammlung brutal zerschlagen. Aber es ist ein Anfang! Nicht nur in den Distrikten sind die Menschen geschockt über die Entwicklung. Mit Unterstützung aus dem Kapitol kann dieses System ein für alle Mal zerschlagen werden!«
»Hm ...« Nachdenklich beißt Marlia sich auf den Daumennagel. Sie sieht wieder hinüber zu Amber, die mit der Schuhspitze im schlammigen Boden bohrt. »Aber kein Protest dieser Welt wird das Jubiläum aufhalten.«
»Natürlich nicht!« Amber wirft ihre Arme in die Luft. »Diesen Gesichtsverlust wird Snow niemals zulassen! Finnick wird in diese verschissene Arena ziehen und –« Sie dreht sich abrupt um. Klatschend landet eine ordentliche Portion Matsch am Stamm des Muschelbaums, als sie in die Erde tritt. »Fuck!«
Für einen Moment schweigen sie alle. Dann sieht Marlia wieder zu Finnick. »Es ist also entschieden?«, fragt sie entgegen ihrer sonst strengen Art erstaunlich sanft.
»Ich gehe davon aus, dass mein Name drei Mal in der Loskugel sein wird, auch wenn er es nur einmal sein sollte«, entgegnet er. »Und selbst wenn nicht – weder Trexler noch Floogs sind in der Verfassung, ein zweites Mal die Arena zu überleben. Ich hingegen ...« Er ringt sich aus bloßer Gewohnheit ein Zwinkern ab, obwohl er es eigentlich gar nicht will.
Marlia verzieht die Lippen. »Und Amber ...?«
»Ich darf nicht«, brummt diese, ohne sich zu umzudrehen.
Finnick schenkt Marlia einen entschuldigenden Blick. »Mags –«
»Opfert sich«, beendet Amber umgehend seinen Satz. Ihre geballten Fäuste beben.
»Es ist eine Abwägung ohne Gewinner.« Unglücklich sieht Finnick auf den Projektor in seiner Handfläche. In einer Endlosschleife skandieren die Kapitolsbewohner ihre Liebe für die Sieger, ein winziger Fleck Farbe im Regengrau. »Aber vielleicht finden wir vorher einen Weg aus der Arena. Davon träumt man in Dreizehn zumindest. Sie haben ihre besten Leute darauf angesetzt, die Baustelle zu infiltrieren, während die Spielmacher den letzten Feinschliff vornehmen. Es braucht nur eine Schwachstelle für einen Plan.«
»Du klingst überzeugt.« Marlia wirkt ehrlich beeindruckt.
Mit einem dezenten Schulterzucken schließt Finnick die Faust um den Projektor. Die Rufe der Kapitoler verklingen umgehend. »Eine andere Haltung kann ich mir nicht leisten. Und wir werden bald anfangen zu trainieren, alle. Ich fürchte, das ist die schlechte Nachricht des Tages für euch Wellenkinder – wir müssen Lana doch wieder in Beschlag nehmen. Oder ihr übt mit uns.«
»Die meisten von uns sind auf absehbare Zeit eh an die See gefesselt«, sagt Marlia und winkt ab. »Das Kapitol weiß schon, was es tut. Sie lassen uns einfach nicht die Zeit, diese Rebellion vernünftig zu planen. Wir müssen fürs Erste sehen, was wir draußen tun können, fürchte ich. Mein Traum wäre ja immer noch, einen der Grenztürme lahmzulegen ... am besten mit ihren eigenen Seeminen.«
»Fürs Erste solltet ihr allerdings versuchen, euer Netz auszuweiten, wie Dreizehn es empfohlen hat. Dann müssen die Friedenswächter nur noch wie Fische in eure Falle schwimmen.«
»Trotzdem werde ich nichts unversucht lassen, wenn sich uns eine Chance bietet.« Der Starrsinn bringt Marlias Augen zum Funkeln. In Momenten wie diesen sieht Finnick den Geist ihrer beiden Sieger-Eltern deutlicher vor sich denn je. Sie deutet auf die Hand, in der er den Projektor hat verschwinden lassen. »Du hältst uns auf dem Laufenden?«
»Natürlich.«
Er lächelt wieder und verschweigt, dass Beetee auf der anderen Seite der Leitung kein Übermensch ist, selbst wenn es manchmal so erscheint. Mit jeder Übertragung riskiert er sein Leben. Bei ihrem ersten Gespräch nach Verkündung des Jubeljubiläums hat er gestammelt und gezittert wie Schilf im Sturm. Als Finnick bei diesem Anblick in Tränen ausgebrochen ist, gab es auch für ihn kein Halten mehr. Eine halbe Ewigkeit haben sie nur geweint, bis die Verbindung abgebrochen ist.
Aber selbst danach hat seine Nervosität ganz neue Höhen erreicht. Es dauert doppelt so lange, bis er einen Satz vollendet hat, weil er noch mehr gedankliche Schleifen einlegt als früher, und gelegentlich vergisst er vor lauter Eifer, was er eigentlich tun wollte. Und dann sind da natürlich seine Hände, die kaum stillhalten wollen.
Nichts davon ist wirklich schlimm, doch unter den wachsamen Augen des Kapitols reicht eine Kleinigkeit, um das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Beetee muss es nicht aussprechen, Finnick weiß auch so, dass er Angst vor dem einen Fehler hat, der sie alle das Leben kostet. Wobei er manchmal schlicht fürchtet, dass Beetees Herz die ganze Anspannung irgendwann nicht mehr verkraftet, wie bei einer durchbrennenden Glühbirne. Immerhin ist er nicht der Jüngste und sicher nicht der Fitteste.
Genau wie Mags. Die allerdings überrascht Finnick damit, dass sie eines Tages im Morgengrauen vor Annies Haustür steht und ungeduldig mit der Zunge schnalzt, als sie feststellt, dass er – frisch aus dem Bett gekrochen – noch seine Schlafkleider trägt. Sie selber hat weite Stoffhosen und abgetragene Sportschuhe an.
»Es ist Zeit«, sagt sie schlicht.
»... Zeit?«
»Der frühe Fisch entkommt dem Netz. Wir gehen trainieren.«
Einen Moment lang steht Finnicks Mund offen, bis Mags' kritischer Blick ihn dazu bringt, diesen zu schließen. »Ich trainiere«, stammelt er. »Du ...«
»Sag mir nicht, ich soll tatenlos auf meinen Tod warten und mir ein paar schöne Monate machen. Wenn ich schon in einer Arena mein Leben beenden muss, dann werde ich es wenigstens aufrecht tun.«
Mags ist so klein und fragil, doch wie sie nun die Hände in ihre Hüften stemmt, meint Finnick zum ersten Mal etwas von dem Mädchen in ihr zu sehen, das sich vor lauter Verzweiflung freiwillig für die Arena entschieden hat. Dann lächelt sie und streckt sich, um ihn in die Wange zu kneifen, und der Eindruck ist verflogen.
»Na los, mein Junge. Das Leben ist nicht endlos geduldig.«
Wenig später stehen sie in der alten Lagerhalle, in der sonst die Jugendlichen aus der Akademie trainiert haben. Das Deckenlicht flackert schwach, wie ein Spiegel der Blitze, die draußen in weiter Ferne über den Himmel zucken. Bei diesem Anblick ist Finnick froh, dass Annie noch in ihrem Bett liegt, tief in der Traumwelt versunken. Abgesehen von ihr sind aber alle anderen schon da – sogar Isla. Von den Wellenkindern hingegen hat es nur Marlia geschafft.
Sie fangen mit einfachen Übungen an. Laufen und Seilspringen für die Kondition, Dehnen und Hindernisparcours für die Beweglichkeit. Sobald die Erschöpfung sie übermannt, gehen sie Giftpflanzen verschiedener Biome durch oder frischen ihr Wissen in erster Hilfe auf. Bevor Lana sie in die Nähe der Waffenständer lässt, vergehen viele, ereignislose Stunden und schließlich Tage, die sie zumeist schweigend verbringen.
Zu aller Überraschung schlägt Mags sich gar nicht schlecht. Natürlich ist sie längst nicht so schnell oder gewandt wie der Rest und ihre Chancen im Zweikampf aussichtslos, aber sie gewinnt zusehends an Kontrolle über ihren Körper zurück. Vielleicht sogar mehr als vor ihrem Schlaganfall. Und in den Pausen sorgt sie mit Geschichten aus lange vergangenen Tagen für Ablenkung. Das sind die einzigen Augenblicke, in denen die Hallenwände Lachen anstatt Keuchen und Waffenklirren zurückwerfen.
Mit seinem Versprechen an Annie im Herzen ist es für Finnick einerseits sehr leicht, jeden Morgen aufzustehen, um sich auf den Weg zur Trainingshalle zu machen – und andererseits doppelt so schwer. Immer wenn er über die Schwelle tritt, wird er daran erinnert, was die Zukunft kostet. Einen Tod. Mindestens. Vielleicht auch zwei, drei, vier ... und das Schlimmste: Er weiß, dass er nicht zögern wird, wenn es so weit ist.
Im letzten Herbst ist er überzeugt gewesen, dass Annie ihn zu einem besseren Menschen gemacht hat. Dass er von ihrer Güte gegenüber allen Lebewesen gelernt hat. Doch jetzt beweist ihm die Realität einmal mehr das Gegenteil. Es geht so schnell, zu vergessen, warum er Amber gegenübertritt und sich mit ihr im Boxkampf misst. Oder was es bedeutet, wenn sein Speer einen gesichtslosen Sandsack trifft. Erst als er den Dreizack wieder in seine Hand nimmt, fluten die Erinnerungen zurück. Gut verborgen in seinem Hinterkopf hört er Knochen knacken, Schreie in einem Gurgeln enden. Trotzdem macht er weiter. Wer zögert, der verliert.
Dieser Gedanke treibt nicht nur ihn an. Durch Ambers Körper scheint er wie Blut und Adrenalin zu pumpen. Sie tritt Finnick ein ums andere Mal gegenüber, ihre Zähne gebleckt, einen Zorn in den Schlägen, der sich mit Johannas messen kann. Er gibt es nicht gerne zu, doch sie macht ihm mit jedem Tag mehr Angst.
In ihrem aktuellen Kampf hat sie ihn mit roher Gewalt entwaffnet, obwohl er ihr zuerst das Schwert aus der Hand geschlagen hat. So waren ihre Übungskämpfe früher nie. Da gab es immer eine Grenze. Jetzt allerdings thront sie über ihm, schwer keuchend.
»Steh auf!«, brüllt sie ihn an. »Steh auf und kämpf oder du bist tot! Und du willst doch leben, nicht wahr? Oder willst du Annie etwa alleine lassen?«
»Amber –« Er ringt nach Atem. Ihr Knie bohrt sich so fest in seinen Solarplexus, dass Sternchen den Anblick ihres roten Gesichts verdrängen. Ein paar Sekunden länger und er kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Du musst mich schon lassen«, keucht er. Trotz des Schmerzes schiebt er ein trockenes Lachen hinterher.
Fehler Nummer eins. Amber drückt ihr Knie fester auf seinen Oberkörper. »Das kannst du in der Arena auch nicht verlangen«, zischt sie.
»Deshalb üben wir ja«, gibt er stöhnend zurück.
Fehler Nummer zwei. Ambers Hände wandern an seine Kehle. »Tot, du bist tot, Odair! Was soll ich Annie jetzt sagen, hm?« Speicheltröpfchen benetzen seine Wangen. »Wie soll ich sie je wieder beruhigen, wenn du in dieser verfickten Arena draufgehst? Wie? Sag es mir! Wie?«
Langsam, aber sicher wird Finnicks Kopf heiß. Schwindel setzt ein. »Willst du Riven Konkurrenz machen ...?«, stößt er heiser hervor. »Das ist dumm! Selbst sie weiß es inzwischen besser.«
Fehler Nummer drei. Er hört Amber schnauben, fühlt die Wut im Beben ihrer Fingerspitzen – und dann verschwindet ihr Gewicht plötzlich von ihm.
»Jetzt reicht's.« Trexler spricht ganz leise. Trotzdem ist die Warnung in seinen Worten unüberhörbar. Er hält Amber unter den Achseln hoch wie eine Katze, die beim Fischdiebstahl erwischt wurde. »Du geh's jetzt besser. Kühl dich am Meer ab. Oder besser im Meer. Los.«
»Du kannst mich nicht wegschicken! Ich hänge genauso in der Scheiße drin wie ihr alle!« Ambers Blick rast zu Lana. »Ich habe ein Recht zu trainieren. Los, sag es ihm!«
Doch ihre alte Freundin schüttelt nur den Kopf. »Er hat recht. So kann das mit euch nicht weitergehen. Du gefährdest das Training. Und das Leben deines Partners.«
»War ja klar, dass du mir in den Rücken fällst.« Amber schnaubt. »Würdest du dir immer noch wünschen, statt mir in die Hungerspiele gezogen zu sein? Oder bist du jetzt etwa doch glücklich mit deiner Rolle der Trainerin?« Das letzte Wort spuckt sie aus, als wäre es eine faulige Meeresfrucht.
Lana kneift die Augen zusammen. »Ich dachte, das hätten wir längst hinter uns gelassen. Aber bitte, wenn du es so drehen willst –«
»Oh nein, du häls' auch die Klappe«, geht Trexler dazwischen. Er stellt Amber unsanft auf dem Boden ab. »Wir müss'n ein Team sein. Uns auf'nander verlassen könn'!«
Seine Stimme ertrinkt in Ambers falschem Lachen. »Hah! Wer hat das Team denn zuerst verraten?« Sie funkelt gen Boden. »Odair is' doch der Pisser, der denkt, er kann uns einfach alle zurücklassen!«
»Ach Kinder –« Weiter kommt Mags nicht. Sie streckt noch die Arme nach Amber aus, aber die dreht sich auf dem Absatz um und stürmt aus der Halle, genau wie Riven im Vorjahr.
Finnick schließt die Augen. »Oh verflucht«, murmelt er. Seine Stimme klingt immer noch rau, obwohl ihn niemand mehr erwürgen will.
»Lass sie einfach eine Weile«, mischt sich nun auch Floogs ein. »Vielleicht kann der Wind ein paar Gedanken aus ihrem Kopf pusten.«
»Hoffentlich alle«, grollt Lana leise.
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Stöhnend drückt Finnick sich vom Boden hoch. »Sie ist wirklich sauer auf mich.«
»Und gerade deshalb muss sie von alleine erkennen, wie irrational das ist«, erwidert Floogs.
»Ist es das denn? Wirklich?« Finnick fährt sich über die Schläfen, hinter denen es pocht. »Ich denke nämlich, dass sie recht hat. Ich ... habe sie enttäuscht. Eigentlich euch alle.«
Eine große Pranke landet auf seiner Schulter, dass er fast in die Knie geht. »Sag des nich'.« Trexler drückt seine Finger in einer sicherlich aufmunternd gemeinten Geste zusammen, die Finnick das Gesicht verziehen lässt. »Wir wiss'n, warum du das tust.«
»Und wir verstehen es«, bekräftigt Floogs mit einem Nicken.
Doch der Blick zu Mags und ihrer gerunzelten Stirn zeigt Finnick nur, dass er nicht alleine Bedenken hat. »Ich will aber trotzdem mit Amber reden. Das bin ich ihr schuldig.«
»Natürlich.« Floogs lächelt sanft. »Trotzdem sollte sie erstmal ihre Gefühle verarbeiten, bevor du ihr helfen kannst. Gib ihr ein wenig Freiraum, anstatt sie gleich wieder in die Ecke zu drängen.«
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